Israels Sicherheit und die deutsche Staatsräson

Analyse

Vizekanzler Robert Habeck hat in seiner Rede zu Israel und Antisemitismus in Deutschland die Sicherheit Israels als "Staatsräson" verteidigt. Dafür erntete er viel Zuspruch, aber auch Kritik. Gert Krell zeigt in seinem Beitrag den Spannungsbogen der Debatte auf.

Die zu einer Raute gefalteten Hände Angela Merkels

Gut drei Wochen nach dem verbrecherischen Terrorangriff der Hamas auf Israel bekannte sich Vizekanzler Robert Habeck in einer Rede über Israel und Antisemitismus gleich zu Be­ginn zu dem Satz, Israels Sicherheit sei deutsche Staatsräson. Aufgrund unserer historischen Verantwortung für den Holocaust und der danach erfolgenden Gründung Israels als Schutz­versprechen an Jüdinnen und Juden sei Deutschland verpflichtet zu helfen, dass dieses Ver­sprechen erfüllt werden könne. Das sei ein historisches Fundament dieser Republik.

Robert Habeck zu Israel und Antisemitismus - Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz

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Das Merkel-Versprechen

Habeck griff hier ein Versprechen auf, das Bundeskanzlerin Angela Merkel im März 2008 in einer Rede vor der Knesset, dem israelischen Parlament, gegeben hatte. Sie hatte Israel zu­nächst zum 60. Geburtstag beglückwünscht, kam aber dann gleich zur besonderen Verbin­dung zwischen beiden Ländern durch die Shoah zu sprechen. Dabei nahm sie auch Bezug auf ihre Zeit in der DDR, die die Bewältigung des Nationalsozialismus immer als ein westdeut­sches Problem betrachtet und sich erst nach über 40 Jahren zum Staat Israel bekannt hatte. Die Kanzlerin forderte eine Verstetigung der Erinnerungskultur, pries die Wertegemeinschaft zwischen Deutschland und Israel und würdigte die ersten und umfassenden deutsch-israe­lischen Regierungskonsultationen. Dann nahm sie das Umfeld in den Blick: den Frieden in der Region und Deutschlands Engagement für eine Zweistaatenlösung, aber auch die Insta­bilität im Libanon. Sie verwahrte sich gegen die Drohungen Irans gegenüber Israel und ver­wies auf ihre Stellungnahme gegen eine iranische Bombe bei den Vereinten Nationen. In die­sem Kontext fasste sie Deutschlands sicherheitspolitische Rolle, die sie ausdrücklich in der Kontinuität der deutschen Außenpolitik verankerte, folgendermaßen zusammen: Jede Bundes­regierung vor ihr sei der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicher­heit Israels verpflichtet gewesen. Das sei Teil der Staatsräson ihres Landes; die Sicherheit Is­raels sei für sie als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar.

Auch die Sicherheit von Juden und Jüdinnen in Deutschland selbst und das entschiedene Ein­treten gegen Antisemitismus spielte in den beiden genannten und in vielen anderen Reden eine wichtige Rolle. Was die Außen- und Sicherheitspolitik gegenüber Israel angeht, so ste­hen drei Felder im Vordergrund: 1) Beiträge zur militärischen Unterstützung durch die Liefe­rung von Waffen und Munition sowie Zusammenarbeit bei der Ausbildung von Soldaten; aber keine direkte militärische Beistandsverpflichtung, 2) Bemühungen um Konfliktregelung und Spannungsabbau in der Region durch diplomatisches und finanzielles Engagement, 3) Unter­stützung israelischer Interessen oder Anliegen in internationalen Organisationen. Wie schon in Angela Merkels Rede blieb die artikulierte Wahrnehmung israelischer Politik und das Ver­halten Israel gegenüber auf der deutschen Regierungsebene durchgängig wohlwollend und freundlich-freundschaftlich. Ob Deutschland Israels Sicherheit mit dieser Haltung wirklich einen Gefallen getan hat, war jedoch von Anfang an sowohl im eigenen Land als auch in Is­rael umstritten. So meinte der auch in Deutschland bekannte israelische Historiker Moshe Zimmermann in einer Reaktion auf die Knesset-Rede der Bundeskanzlerin, die deutsche Politik passe sich aus lauter Schuldgefühlen an die israelische Politik an und verschaffe sich dafür Rückendeckung in Europa. Israel könne so seine Siedlungs- und Vergeltungspolitik weiter betreiben, denn die USA unterstützten es sowieso schon. Bei den Palästinensern schaf­fe das nur Unmut, und die Extremisten und Terroristen gewönnen an Popularität. Der berühm­te israelische Schriftsteller David Grossman hatte schon 1988 nach einer siebenwöchigen Reise durch die West Bank geschrieben, die jüdische Ansiedlung im Westjordanland sei „eine große Katastrophe“, und zwar keineswegs nur für die Palästinenser, sondern auch für die Juden. Es sei eine Idiotie zu glauben, die Zustände dort ließen sich normalisieren: „Eines Ta­ges werden wir eine bittere Überraschung erleben.“ In Umfragen haben eine Mehrheit der britischen und 38 Prozent der amerikanischen Juden unter 40 Jahren der Einschätzung zuge­stimmt, bei den Verhältnissen im Westjordanland handele es sich um Apartheit. Auch einzel­ne frühere israelische Regierungsmitglieder haben sich in diesem Sinne geäußert. Internatio­nale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International oder die israelische B’Tselem teilen diese Auffassung.

Nun kann man nicht beweisen, dass kritischere Reaktionen Deutschlands auf die Besatzung zu mehr Frieden in der Region geführt hätten. Die Bereitschaft zu barbarischer Gewalt bis hin zum Genozid in radikalen Gruppierungen auf der arabischen und iranischen Seite hat ihre eigenen Wurzeln; hier wird der Nahost-Konflikt vielfach als Projektionsfläche benutzt. Aus einer anderen Perspektive verzweifeln seit einiger Zeit manche Israelis an der internen Polarisierung ihres eigenen Landes. So gab der Journalist Ari Shavit schon im Okto­ber 2016 zu bedenken, Israel habe alle Bedrohungen überwunden mit Ausnahme der von in­nen. Nach ihren Siegen über die Antisemiten, die Nazis, die Araber und die Palästinenser würden sie nun vor den erstaunten Augen der ganzen Welt zu ihren eigenen schlimmsten Feinden.

Gleichwohl bleibt zu fragen, ob die deutsche Politik alle Chancen genutzt hat, das politische Umfeld in Israel positiv zu beeinflussen. Haben deutsche Regierungen intensiv mit ihren Partnern in Israel über die ernsten Warnungen ihrer eigenen Mitbürger diskutiert, es betreibe eine Politik, die seine Sicherheit beschädige? Welche Maßnahmen haben sie ergriffen, um solchen Warnungen Nachdruck zu verleihen? Haben sie klar gemacht, welches Israel sie be­schützen wollen? Offiziell war es immer das Israel in den Grenzen bis 1967. Aber hat Deutschland in der Praxis deutlich sichtbar zwischen diesem Israel und den besetzten Gebie­ten unterschieden? Heute kennen die meisten Israelis die Grenzen von vor 1967 gar nicht mehr. In Deutschland soll der Ruf „From the River to the Sea, Palestine shall be free“ demnächst unter Strafe gestellt werden. Aber in den Koalitionsvereinbarungen der jetzigen israelischen Regierung heißt es, ganz Palästina, also auch „from the River to the Sea“, stehe dem jüdischen Volk zu!

Welche Relevanz hat die historisch begründete Verantwortung Deutschlands für Menschen in Palästina?

Welche Relevanz für die historische Verantwortung Deutschlands haben die Folgen der Ent­stehung des Staates Israel als Reaktion auf Antisemitismus, die Judenverfolgung und den sys­tematischen Völkermord im Herrschaftsbereich des Nationalsozialismus für die Palästinen­ser? Hat Deutschland nicht auch historische Verpflichtungen ihnen gegenüber? Und wie stellt sich Deutschland zu dem Spannungsverhältnis zwischen partikularen gegenüber universalis­tischen Konsequenzen aus den NS-Verbrechen? Die partikulare Perspektive erwartet, dass sich Deutschland in erster Linie gegen Antisemitismus und zugunsten Israels engagiert; die universalistische legt Wert darauf, dass sich Deutschland generell für die Beachtung der Men­schen- und Bürgerrechte einsetzt. Auch dann aber darf und muss es Menschenrechtsverletzun­gen auf beiden Seiten in den Blick nehmen. Arabische Aktivisten beklagen, dass Deutschland zwar immer wieder die Menschenrechte hochhalte, aber nichts gegen die gravierenden israe­lischen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Palästinensern in Ostjerusalem und in den be­setzten Gebieten unternehme. Eine der eindrucksvollsten Interpretationen universalistischer Konsequenzen aus dem Holocaust hat der amerikanische Rabbi Arnold Wolf, einer der Men­toren von Barack Obama, formuliert. Wolf sprach sich 1993 gegen den Bau des Holocaust Museums in New York aus. Da es die Native Americans waren, die auf amerikanischem Bo­den einen Genozid erlitten hätten, würde in den USA ein Museum für sie den wahren Sinn der Erinnerung an den Holocaust repräsentieren. Der sei nämlich nicht, „uns Juden besondere Rechte oder Rollen zuzuweisen, sondern uns für alle schweren Verfehlungen der westlichen Geschichte zu sensibilisieren“.

Ein wichtiges Motiv bei der öffentlichen Bekräftigung deutscher Solidarität mit Israel durch Regierungen und Parlament ist die Richtung nach innen, an die eigene Bevölkerung. Mit gu­ten Gründen, denn unter den Bundesbürgern und Bundesbürgerinnen gibt es teilweise erheb­liche Reserven. Bei der Forderung, die Erinnerung an den Holocaust solle eine zentrale Rolle für die deutsche Politik spielen, sind die Deutschen heute etwa in der Mitte gespalten. In einer Umfrage vom Herbst 2022 befürworteten nur 43 Prozent eine große oder sehr große Rolle; bei Anhängern der Grünen waren es allerdings 67 Prozent. Umgekehrt sprachen sich jedoch 58 Prozent der FDP- und sogar 81 der AfD-Anhänger nur für eine kleine oder sehr kleine Rolle aus. Bei der Zustimmung zu einer besonderen Verantwortung für den Staat Israel (27% völlig/eher, 37% teils/ teils, 35% eher nicht/überhaupt nicht) lag die Befürwortung noch nie­driger als bei der Verantwortung für das jüdische Volk (35% völlig/eher). Sehr große Diffe­renzen zur großen Politik (und zu Israel) zeigen sich auch bei der Einstellung zum Nahost-Konflikt. Bei der genannten Umfrage waren 83 Prozent der Deutschen dem Nahost-Konflikt gegenüber entweder neutral oder gleichgültig eingestellt: 41% wollten, dass Deutschland beide Seiten gleich unterstützt, 30% keine von beiden; 13% kreuzten „weiß nicht“ an. Die Einschätzung der jetzigen israelischen Regierung war bei 43% Prozent der Befragten schlecht bis sehr schlecht (keiner hatte eine gute Meinung); eine relative Mehrheit vertrat sogar die Auffassung, sie trage zu Judenfeindlichkeit bei. Zwar haben sich durch die Massaker der Ha­mas einige Daten zugunsten Israels verbessert, aber die Kluft zwischen Politik und Gesell­schaft in Deutschland bleibt signifikant und brisant.

Es ist nicht das erste Mal, dass Deutschland einen besorgniserregenden Anstieg bei antisemi­tischen Straftaten erlebt. Als sehr erfolgreich haben sich bei der großen antisemitischen Welle von 1959-60 zügige gerichtliche Strafen und Aufklärungskampagnen erwiesen. Zu einer Be­ruhigung der stark polarisierten öffentlichen Debatte könnte aber auch eine ehrlichere Dis­kussion über den Nahost-Konflikt beitragen, die die Trauer, die schmerzlichen Erfahrungen und die Sorgen beider Seiten ernst nimmt. Durch die dramatische aktuelle Gewalt fühlen sich Juden an den Holocaust erinnert, Palästinenser an die Nakba, die Vertreibungen 1947-1949. Israel ist ein weltweit weithin anerkannter Staat, der wie alle anderen ein Recht auf eine sichere Existenz hat. Und ein Staat, der vor dem Hintergrund der europäischen Diskrimi­nierungs- und Verfolgungsgeschichte zu einer lebensrettenden „Heimstätte für das jüdische Volk“ wurde. Übrigens auch eine „Heimstätte“ – und das wird in der Diskussion häufig unter­schlagen – für mehrere Hunderttausend aus arabischen Ländern zugewanderte oder vertrie­bene Juden. Aber auch ein Staat, der aus einem Siedlungskolonialismus in einem schon von Anderen besiedelten Gebiet hervorgegangen ist und der bislang nicht erkennen lässt, ob und wann er sein Kolonisationsprojekt zum Abschluss bringen will. Manche heben den zweiten Punkt hervor und vernachlässigen oder leugnen sogar den dritten; andere betonen den dritten und ignorieren den zweiten.

Israel darf sich angemessen gegen Angriffe verteidigen, das ist selbstverständlich. Aktuell be­steht freilich die Gefahr, dass es mit seiner massiven und völkerrechtlich fragwürdigen Kriegführung in Gaza de facto einen Plan der Hamas erfüllt: nämlich durch den unerhört brutalen Überfall auf israelische Bürgerinnen und Bürger eine extreme Reaktion Israels zu provo­zieren, die große Teile der islamischen Welt und des Globalen Südens auf ihre Seite zieht. Und vor allem braucht Israel eine politische Perspektive, wenn es seine Existenz dauerhaft sichern will. Dazu gehört eine faire Lösung im Nahost-Konflikt mit den Palästinensern, sofern sie sich noch auf einen Kompromiss einlassen wollen. Das ist zurzeit allerdings ebenso un­sicher wie die Frage, ob Israel selbst noch zu einem tragfähigen Kompromiss bereit oder fähig wäre. Die andere Seite in die Unterwerfung zu bombardieren, wird jedoch nicht funktionieren, sagen Strategie-Experten. Grausame Massaker an völlig unbeteiligten Zivilisten und Geisel­nahmen als legitime Formen des Widerstands gegen Kolonialismus zu rechtfertigen, aber ebenso wenig.


Eine etwas längere Version mit Belegen findet sich auf der PRIF Blog Seite; ausführliche Beiträge zu verschiedenen Aspekten des Nahost-Konflikts bei Gert Krell, Schatten der Vergangenheit: Deutschland, die USA und der Nahost-Konflikt, Baden-Baden 2023.