Das Schweigen der Kulturszene: Keine Lösung ist auch keine Lösung

Kommentar

In der Zeit nach dem Terroranschlag der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung wurden Zeichen der Anteilnahme schmerzlich vermisst. Wer in der Kulturszene schwieg so laut - und warum?

DJ an einem Mischpult

Das Schweigen der Kulturszene nach dem 7. Oktober - man kann es sich rückblickend vor Augen führen, noch einmal alles nachlesen, wenn man durch die Artikel und Posts der vergangenen Wochen scrollt: Was schmerzlich vermisst wurde, waren Zeichen des Mitgefühls kurz nach dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung. Keine israelischen Flaggen an Museen, sehr wenige Solidaritätsbekundungen auf Social Media, stattdessen Funkstille auf den Kanälen – so beschrieb es mein Kollege Eugen El in einem Kommentar für die „Jüdische Allgemeine“ kurz nach dem Anschlag. Von einem „unüberhörbaren“, einem „lauten“, einem „ohrenbetäubenden“ Schweigen der Kulturszene wurde in vielen weiteren Artikeln berichtet. Ein fassungsloses Staunen liest man aus ihnen heraus: Bei anderen terroristischen Anschlägen in der Vergangenheit war doch der Aufschrei da gewesen, das Mitgefühl mit Opfern, Angehörigen und der getroffenen Gesellschaft groß. Wo blieb diesmal die Empörung?

Wo blieb die Anteilnahme?

Auch mit etwas zeitlichem Abstand ist die Frage offen: Wieso gab es keine angemessene Anteilnahme, an welcher Stelle fehlte sie, oder mit anderen Worten: Wer in der Kulturszene schwieg eigentlich so laut – und warum?

Zahlen oder wissenschaftliche Studien, die erfassen würden, was nicht da war, gibt es nicht. Vermutlich würden sie die Qualität des Sich-nicht-Äußerns, des Zu-wenig, des Zu-leise auch nur unzureichend beschreiben können. In dieser unheimlichen Stille, die zu diesem furchtbaren Zeitpunkt den Kulturbetrieb ergriff, sah man dafür etwas anderes; ein Spiegelbild des Hasses. Wenn man begreifen will, was da los war, warum die Kulturszene schwieg, warum sie in Teilen noch immer still ist, dann ist es vermutlich eine gute Idee, sich dieses Spiegelbild anzusehen.

Es waren die vielen pro-palästinensischen, anti-israelischen, auch antisemitischen Äußerungen, die in den folgenden Wochen den Ton angaben, die „Free Palestine“- und „Free Gaza“-Ausrufe auf den Straßen und im Netz, die auch von Künstlerinnen und Künstlern geteilt wurden. In der internationalen Kunstwelt kursierten offene Briefe, darunter der „Open Letter from the Art Community to Cultural Organizations“, der im US-Kunstmagazin „Artforum“ veröffentlicht wurde. Eine lange Liste an Unterstützerinnen und Unterstützern –  darunter prominente Künstlerinnen und Künstler wie Nan Goldin und Katharina Grosse – forderte darin ein Ende der Gewalt und der „Unterdrückung und Besatzung“ des Gazastreifens durch Israel, und warf Israel vor, Völkermord zu begehen. In der ursprünglichen Version des Briefes (später gab es einen Nachtrag) wurde der Terrorangriff der Hamas mit keinem Wort erwähnt. Ein weiterer, offener Brief machte die Runde: „Philosophy for Palestine“. Er wurde von linken Philosophinnen und Philosophen initiiert, darunter die jüdische, feministische US-Philosophin Judith Butler, die auch die BDS-Kampagne mit dem Ziel des kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Boykotts Israel unterstützt. Auch dort wurde ein „sich entfaltender Genozid“ in Gaza verurteilt und dazu aufgerufen, sich „mit Palästina und dem Kampf gegen Apartheid und Besatzung“ zu solidarisieren. Die Massaker der Hamas wurden in einem einzigen Satz lapidar als „Angriffe“ bezeichnet. Die Schuldfrage - eindeutig geklärt.

Es sind die typischen Worte, der typische Ton eines in der Linken verbreiteten Politaktivismus, und was daran besonders schockierte, war, ganz abgesehen von allen inhaltlichen Interpretationen, der unempathische und taktlose Moment der Veröffentlichung und die zur Schau gestellte Kälte gegenüber Israel. Meron Mendel, der Leiter der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, nannte das in der „Frankfurter Rundschau“ „eine völlige Verdrehung des moralischen Kompasses“. In diesem Klima gab es dennoch im Laufe der Zeit auch lauter werdende Stimmen, die sich öffentlich mit Israel, mit Jüdinnen und Juden solidarisch erklärten, etwa in dem Statement „Literaturbetrieb, jetzt!“, das rund 1000 Autorinnen und Autoren unterschrieben hatten - darunter große Namen wie Herta Müller, Durs Grünbein oder Sibylle Berg. Darin wurde auch das bisherige Schweigen der Literaturbetriebs kritisiert. Rund 250 Filmschaffende wandten sich im November in einem offenen Brief explizit gegen Antisemitismus und benannten außerdem „Angriffe, Relativierungs- oder Einschüchterungskampagnen“, denen Filmschaffende seit dem 7. Oktober ausgesetzt waren.

Neben dem großen Echo anti-israelischer Stimmen in der Kulturszene, konnte man sich auch über die Aggressivität wundern, mit der die Anliegen hervorgebracht wurden: Institutionen und Einzelpersonen, die sich Israel-solidarisch äußerten, wurden teils massiv vom anderen „Lager“ angegangen. Ein Protestbrief, den 1800 Filmschaffende unterzeichneten, forderte etwa zum Boykott der  Kurzfilmtage Oberhausen auf, weil dessen Leiter Lars Henrik Gass auf Facebook zur Teilnahme an einer Solidaritätskundgebung mit Israel aufgerufen hatte und er mit seiner Wortwahl Palästinenser entmenschlicht und stigmatisiert habe.
Viele Kulturschaffende hätten Angst, differenzierte Positionen zu artikulieren und davor, dass sie ausgeschlossen würden, wenn sie dem „Kunst-Mainstream“ nicht folgten, sagte die Künstlerin Hito Steyerl im Interview mit dem „Spiegel“. Das Schweigen der Kultur – wahrscheinlicher als ein bewusst gesetztes Statement ist es die Folge einer mal mehr, mal weniger subtilen Stimmungsmache, die sich im Laufe der Jahre verbreitet hat und immer wieder offensiv hervorbricht.

Kultur als Sammelbecken für progressive Sichtweisen

Ein als links-aktivistisch verstandener Israelhass ist zwar nicht nur ein Problem der Kulturszene, aber es ist auch kein Zufall, dass er besonders dort in konzentrierter Form zutage tritt. Die Kultur, ganz allgemein gefasst, ist ein diskursives Sammelbecken für progressive Sichtweisen, für identitätspolitische Anliegen und für postkoloniale Konzepte - besonders in den letzten Jahren.  Kulturakteurinnen und -akteure beschäftigen sich mit den Mitteln der Kunst und des Diskurses damit, drängende Probleme zu beschreiben und Visionen einer gerechteren Gesellschaft zu entwerfen. Schon seit einiger Zeit weiten Kulturinstitutionen den Blick in die Welt, bringen Stimmen zu Gehör, die vorher, unter der Dominanz der weißen, patriarchalen Gesellschaft, nicht zu Wort kamen. Die vielen neuentdeckten, künstlerischen Positionen von bisher Marginalisierten kommen dabei natürlich auch aus Ländern mit Kolonialerfahrung. Natürlich sind die Blickwinkel da andere.

Auch die documenta 15 hatte dieses Anliegen. Schnell fiel den Macherinnen und Machern - als wäre es nicht zu erahnen gewesen – das im Hintergrund stehende Konzept der Einteilung der Welt in „Globalen Norden“ und „Globalen Süden“ mit dem damit verbundenen Täter-Opfer-Schema auf die Füße. In einer vielfältigen Welt mit vielfältigen Gewalt- und Unterdrückungserfahrungen gibt es auch vielfältige Ansichten dazu, wer Opfer und wer Täter ist. Unter den Sichtweisen sind bekannterweise aber auch eindeutige, auch radikale, in denen Israel als Außenposten eines europäischen, westlichen Kolonialismus gesehen wird. Unglücklicherweise werden aus Fakten und Wahrheiten oft Narrative und Ideologien. Wie stark antisemitische Klischees dabei eine Rolle spielen, haben wir auf der Documenta spektakulär vorgeführt bekommen.

Es bleibt ein moralisches Dilemma: Man will progressiv und woke sein. Man sieht das Leid in Gaza und im Westjordanland. Man sieht Unrecht und Ungerechtigkeit. Man will keine Unterdrückung unterstützen, besonders, wenn man selbst die Privilegien genießt, weiß zu sein. Jüdisches Leid hat in „woken“ Diskursen dabei oft keinen Platz, weil Jüdinnen und Juden darin im Zweifelsfall als privilegierte weiße Minderheit wahrgenommen werden. Dieses strukturelle Übersehen ist längst zu einem beachtlichen blinden Fleck herangewachsen. Es ist zugegebenermaßen etwas Küchenpsychologie dabei, aber vermutlich sind die meisten Menschen nicht so viel anders als man selbst: Sie scheuen sich vor komplexen Zusammenhängen, vertagen die eigene Unschlüssigkeit und vielleicht die innere Zerrissenheit. Man pokert damit, dass das Nicht-Entschiedene vielleicht keine große Relevanz haben wird. Im Zweifelsfall überlässt man damit radikaler oder zumindest nicht so unschlüssig Denkenden das Feld. Und an Ereignissen wie dem 7. Oktober dann auch die Deutungshoheit.

Was das „Schweigen“ des Kulturbetriebs betrifft: Sind die Akteur:innen und Institutionen der Kulturszene, die sich weder pro-israelisch noch pro-palästinensisch äußern, also Schuld daran, dass sich eine bestimmte Propaganda verbreitet? Inzwischen gibt es mehr Theater, Museen und andere Einrichtungen, die mit Aktionen und Sonderveranstaltungen verstärkt zur Solidarität mit Israel und den Opfern des Terrors sowie zu einem Ende der Gewalt aufrufen. Die öffentliche Forderung, dass sich Institutionen und Kulturschaffende positionieren sollten, hat den Kulturbetrieb unter Druck gesetzt. Sich zu aktuellen politischen Ereignissen zu äußern, gehöre aber eigentlich nicht in den Aufgabenbereich des institutionalisierten Kunstbetriebs, hört man hier und da. Und erst recht werde kein schnelles Statement zu einem so komplexen Thema einfach in die Welt „rausgehauen“.  Ein falscher Post ist gefährlich und kann rufschädigend sein – erst recht, wenn bei dem Thema schon differenzierte Statements den Mob auflaufen lassen.

Die Hitze der Debatte, die Schnelllebigkeit im Netz, die Verkürzung von Argumenten -  das sind keine guten Bedingungen für eine gewinnbringende Auseinandersetzung, und umso länger und krasser die Tendenz zur Polarisierung wird, desto größer wird die Sorge, dass vor allem die Rechte davon profitiert. Das Setting ist im Grunde eine Fortführung der documenta fifteen: verhärtete Fronten, Dialogfähigkeit gleich Null. Die Sache mit der Weltkunstausstellung ist in Wahrheit auch noch überhaupt nicht aufgearbeitet, und nur wenig Einsicht ist gewonnen. Außer der, dass die documenta eben kein Einzelfall war, sondern ein erster größerer Ausbruch. Unter der Oberfläche, in den vielen Adern des Kulturbetriebs, brodelt es seit Jahren mächtig, wie auch schon 2020 bei der Debatte um den kamerunischen Historiker Achille Mbembe zu sehen war, einem Vordenker der Postcolonial Studies, der aufgrund von Antisemitismusvorwürfen von der Ruhrtriennale ausgeladen werden sollte.

Eine Überforderung des Kulturbetriebs

Nach den Erfahrungen der documenta fifteen und nach dem 7. Oktober, nimmt die Frequenz von Ein- und Ausladungen zu Ausstellungen und Veranstaltungen, von Absagen, Entlassungen, Rücktritten und der Nichtvergabe von Preisen zu. Die Kulturwelt ist vollkommen überfordert. Es werden Einstellungen einzelner Kunstschaffender überprüft - Zensur will man aber nicht! (Was nach Meinung von Expert:innen übrigens nicht gegen eine verantwortungsvolle Besetzung von wichtigen Schlüsselpositionen im Kulturbetrieb spricht). Man will keine Vorgabe, wie man über Israel und seine Politik zu denken habe, auf der anderen Seite will man keinen Ausschluss von Menschen alleine schon wegen des bloßen Verdachts, dass sie etwas „Falsches“ denken oder sagen könnten. Eigentlich würde man hoffen, dass es in einer pluralistischen und komplexen Welt möglich sein sollte zu sagen, dass man sich geirrt hat - baut darauf nicht der Fortschritt auf?

Es gibt selten die schön einfachen Erklärungen –  es gibt sie auch nicht für das Schweigen und ebenfalls nicht für das Problem, das dahintersteckt, und das die Kulturwelt noch ein gutes Weilchen beschäftigen wird. Dass es keine Heldentat ist, andere zum Schweigen zu bringen und auch keine dauerhafte Lösung sein kann, sich selbst stumm zu stellen, dürfte mit diesem Kapitel wieder einmal bewiesen sein.