Zwei Generationen im Konflikt

Teaser Bild Untertitel
"Hört ihm nicht zu, er ist ein Extremist!" Vater und Sohn über den Konflikt

Es ist schwierig geworden für Aktivist/innen in Baku: Viele NGO-Konten sind gesperrt‚ kritische Stimmen verhaftet. Ali Abasov und sein Sohn Faraj streiten trotzdem für die Versöhnung mit Armenien - jeder auf seine Art.

Eigentlich sieht es aus wie jedes andere Buch: "Der Karabach-Konflikt. Lösungsansätze: Konzepte und Realität"‚ heißt der Band, den Ali Abasov betont lässig vor sich auf den Tisch legt. Auf dem Softcover das unscharfe Bild zweier ergrauter Herren im Home-Office. Und doch ist es ein wissenschaftliches Wunder auf 184 Seiten: "Das erste und letzte Buch"‚ so Abasov, "das ein Armenier und ein Aserbaidschaner gemeinsam über die Lösung des Konflikts geschrieben haben."

Seit dem Krieg um Bergkarabach vor über 20 Jahren sind die Grenzen zwischen Armenien und Aserbaidschan geschlossen, die jeweiligen Feindbilder zum Teil bis ins Rassistische aufgeladen. Wie es trotzdem zu dem Buch kommen konnte, erzählt der 65-Jährige mit ruhiger Stimme bei Tee und Gebäck. Vor 15 Jahren reist er in die USA und trifft seinen künftigen Koautor. Die folgenden Monate schreiben Ali Abasov, Professor für Philosophie, und Harutiun Khachatrian, hauptberuflich Biologe, an ihrem Werk. Bei Uneinigkeiten schreiben sie ihre verschiedenen Ansichten einfach parallel nieder. 2002 ist es soweit, die erste Auflage erscheint auf Armenisch, Aserbaidschanisch, Russisch und Englisch. Abasov reist zur Veröffentlichung nach Jerevan.

Nicht ohne Stolz präsentiert er einen Souvenirmagneten, den er damals aus der armenischen Hauptstadt mitbrachte. Der ganze Kühlschrank ist mit solchen Magneten bedeckt – als Insignien der Weltoffenheit. Schon seit Jahrzehnten engagiert sich Abasov für den Frieden. Als Teilnehmer in armenisch-aserbaidschanischen Reisegruppen besuchte er unter anderem Holland, Israel, Tibet und die USA, als Mediator hat er in Georgien immer wieder Seminare für armenische und aserbaidschanische Jugendliche gegeben.

"Es funktioniert. Auch zwischen Armeniern und Aserbaidschandern"

Die kurz vor und nach dem Krieg Geborenen sind oft auf beiden Seiten militanter als die Elterngeneration. Während ältere Armenier/innen und Aserbaidschaner/innen von Erinnerungen an ein friedliches Zusammenleben zehren können, haben die jüngeren oft noch niemals eine Person von der anderen Seite getroffen. Abasov und sein Sohn, der mittlerweile hinzugestoßen ist, sind ein lebendiges Beispiel dieses Generationenunterschieds.

"Früher war ich auch aggressiv in Bezug auf Bergkarabach – mit 20 denkt man, die Welt gehört mir", wirft Faraj ein. Erst später sei er besonnener geworden. Mittlerweile arbeitet er selbst an Friedensprojekten – wenn auch mit anderen Ansätzen. Was der Vater über Wissenschaft und Kultur anstrebte, will Faraj über die Wirtschaft erreichen. Über eine Webseite sollen sich Unternehmer und Dienstleister mit verschiedenen Fähigkeiten zusammenfinden, um gemeinsame Projekte umzusetzen. Der Trick: "Am Anfang bleibt die Herkunft des anderen geheim. Bis man sich nach Jahren guter Zusammenarbeit entschließt, darüber zu sprechen. Und siehe da: Es funktioniert. Auch zwischen Armeniern und Aserbaidschanern." Wirtschaftliche Kooperation soll über die Vorurteile hinweghelfen.

Schließlich schildert Faraj seine Version des Konflikts – und wird sofort vom Vater unterbrochen. "Er ist ein Extremist – hört ihm nicht zu", kommentiert der. Dann gibt Ali Abasov auf Russisch seine Variante wieder, während sein Sohn zur selben Zeit unbeirrt auf Deutsch erklärt. In vielerlei Hinsicht ist Sohn Faraj noch heute das Gegenteil seines Vaters: Als Chef einer Marketingfirma mit rund 20 Mitarbeitern verdient er ein Vielfaches des Vaters. Während Farajs Karriere in die Höhe schießt, wurde Ali Abasov 2005 wegen regierungskritischen Äußerungen degradiert und verlor seinen Posten als Direktor am Institut für Philosophie und Recht. Zweimal wurde außerdem wegen Korruptionsvorwürfen erfolglos gegen ihn ermittelt. Der junge Abasov studierte im Westen und gehört zu Aserbaidschans neuen Aufsteigern, sein Vater noch zur akademischen Elite aus Sowjetzeiten.

Bessere Zeiten

Die Abasovs stehen damit auch für die Gegensätze des Landes: Nicht jeder habe vom Ölreichtum profitiert, so der häufige Vorwurf. Zwar hat sich die wirtschaftliche Lage des Landes in den letzten Jahren massiv verbessert – lebte 2001 noch jeder zweite in Armut, waren es 2011 nur noch sieben Prozent der Bevölkerung. Aber von den 500 Manat, umgerechnet rund 500 Euro, die Ali Abasov als Professor monatlich verdient, kann man in einer teuren Stadt wie Baku kaum leben. Das gilt schon für die günstigen Viertel – die Wohnung an der Promenade kann er sich nur leisten‚ weil sein Sohn ihn finanziell unterstützt.

Und während Faraj seine Projekte zur Not auch ohne Hilfe von außen umsetzen kann, ist sein Vater immer wieder durch äußere Umstände blockiert. Sein Mitautor Khachatrian ist schwer erkrankt. Aktualisierte Neuauflagen ihres Buches, wie sie bislang erschienen, werden damit unwahrscheinlich. In ungesundem Zustand ist auch die Zivilgesellschaft in Aserbaidschan: 2014 wurden viele NGOs geschlossen oder zumindest ihre Konten eingefroren, mehrere Menschenrechtler_innen und Journalist_innen wurden verhaftet. Selbst wenn die Gelder für sein aktuelles Filmprojekt fließen, ist unklar, mit wem Abasov noch zusammenarbeiten kann.

Abgeschreckt hat ihn das nicht. "Warum sollte ich schweigen?", kommentiert er die politische Lage. "Meiner Meinung nach ist alles bekannt. Alle Macht liegt in einer Hand." Nähme man ihm seinen Status, würde das wenig bewirken. Prestige scheint ihm egal zu sein: den Blick aufs Kaspische Meer, die hellen Ledergarnituren und den großen Balkon vor seiner Wohnung beachtet er kaum. Ein Porträt bringt es auf den Punkt – es schwebt über dem Sofa und zeigt Abasov genauso nonchalant lächelnd wie im wirklichen Leben.

Bei unserer Verabschiedung drängeln sich zwei Kätzchen in die Wohnung, Ali Abasov scheucht sie liebevoll heraus. Er bleibt zurück bei seinem Kühlschrank, Faraj steigt in ein teures Auto mit Chauffeur. Nur wenige Meter entfernt im Zentrum von Baku lächelt  ein anderer vom Porträt. Es ist Heydar Aliyev, Aserbaidschans 2003 verstorbener Alleinherrscher. Nach seinem Tod übernahm Sohn Ilham Aliyev die Macht. Auch er hat noch einen Sohn.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Projektarbeit der Freien Universität Berlin. Im Oktober 2014 beschlossen sechs Studierende der Osteuropawissenschaften, sich mit dem Konflikt um die Region Berg-Karabach auseinander zu setzen. Nach einer mehrmonatigen Vorbereitungsphase fuhr die Gruppe im Frühsommer 2015 nach Georgien, Aserbaidschan, Armenien und Berg-Karabach. Vor Ort und in Deutschland führten sie Interviews mit Politikwissenschaftler/innen, Flüchtlingen, Politiker/innen, Jugendlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur/innen. Weitere Beiträge und Informationen finden Sie in unserem Berg-Karabach-Dossier und auf dem Projektblog.