"Ein neuer Krieg wäre von völlig anderer Dimension"

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Uwe Halbach forscht seit 2001 für die Stiftung Wissenschaft und Politik zu Russland, Zentralasien und dem Kaukasus

Seit Jahrzehnten kämpfen Armenier und Aserbaidschaner um Berg-Karabach – in diesem Jahr spitzt sich die Lage weiter zu. Der Osteuropawissenschaftler Uwe Halbach über Ursachen und Perspektiven des Konfliktes.

Herr Halbach, Sie forschen seit über 20 Jahren zum Berg-Karabach-Konflikt. Wie ist die aktuelle Lage vor Ort?

Der Konflikt ist seit dem Sommer 2014 so hochgekocht wie selten zuvor: Ende Juli – Anfang August vergangenen Jahres forderten Schusswechsel an der Waffenstillstandslinie zwei Dutzend Todesopfer. Das war der schlimmste Zwischenfall seit 2008. Manche sagen, der schlimmste seit Ende des Karabach-Krieges 1994. Im ersten Quartal 2015 folgten weitere Zwischenfälle – ungewöhnlich für die Wintersaison.

Die Einschätzungen zur aktuellen Kriegsgefahr gehen nun auseinander. Rhetorisch spricht Aserbaidschan immer wieder davon, Karabach und die umliegenden Gebiete zurück zu erobern. Dass es zu einem absichtlichen Krieg kommt, halten viele Analysten für unwahrscheinlich. Trotzdem muss man sich fragen: Kann das aus dem Ruder laufen? Zwanzig Jahre lang gingen solche Zwischenfälle nicht in eine volle militärische Eskalation über. Analysten warnen aber vor einem "war by accident". Deshalb muss der Konflikt auf der internationalen Agenda bleiben. Er ist seit 20 Jahren so sehr nebenseitig.

Und wenn es wieder zum Krieg käme, wäre das etwas ganz anderes als 1992 bis 1994. Der Karabach-Krieg erfolgte damals noch mit ungeordneten Truppen auf beiden Seiten. Jetzt sind alle Seiten hochgerüstet. An der Waffenstillstandslinie stehen sich Tausende Scharfschützen gegenüber. Ein neuer Krieg wäre von völlig anderer Dimension – viel schwerwiegender.

Sie sagen es selbst: Auf internationaler Ebene und vor allem in deutschen Medien spielt der Konflikt kaum eine Rolle. Woran liegt das?

Zum einen daran, dass sich viele an den Titel "frozen conflict" gewöhnt haben – der suggeriert, es gäbe keine akute Gefahr. Tatsächlich handelt es sich beim Karabach-Konflikt vielmehr um einen schwelenden Konflikt.

Zum anderen erscheint der Konflikt entfernter als er ist. Das war schon während des Karabach–Krieges 1991-94 so – nicht zuletzt weil viele Flüchtlinge aus dem Kaukasus nicht bis nach Europa kamen, sondern im GUS-Raum blieben. Um Aufmerksamkeit zu erregen, muss man klarmachen: Der Konflikt ist europanah, er ist lokalisiert in der östlichen Partnerschaftszone der EU – insofern geht er uns schon etwas an – und man kann sich auf den Begriff des "eingefrorenen" nicht 100-prozentig verlassen. 

Der Georgien-Krieg hat 2008 verdeutlicht, dass über ungelöste Konflikte erneut ein Krieg ausbrechen kann. Der Karabach-Konflikt reiht sich hier ein. Der Konflikt stagniert, was die Verhandlungsprozesse betrifft. Aber die immer wieder aufflammende Gewalt zeigt die Dringlichkeit, den Konflikt zu lösen. Leider erfordert die Vertrauensbildung im Konflikt viel Geduld und Zeit – und Zeittoleranz stößt angesichts der Gewaltzwischenfälle an der Waffenstillstandslinie immer wieder an ihre Grenzen.

Auch der Ostukraine wird immer wieder die Entwicklung hin zu einem "frozen conflict" prophezeit. Sehen Sie Parallelen zur Entwicklung im Karabach-Konflikt?

Ja, in der russischen Beteiligung. Russland ist zwar nicht direkt im Karabach-Konflikt beteiligt. Aber es ist ein wichtiger externer Akteur in der Vermittlung. Und dabei hat es eine sehr fragwürdige Konzeption: die Vorstellung von kontrollierter Instabilität. Russland will zwar verhindern, dass die Konflikte in seinem nahen Ausland in offenen Krieg zurückfallen. Aber es hat kein Interesse daran, dass diese Konflikte gelöst werden. Allenfalls, wenn es dabei selbst als Konfliktlöser hervorginge, denn so blieben alle Parteien von Russland abhängig. Dieses Konzept kann aber auf Dauer nicht funktionieren.

Ist Karabach also einfach ein Spielball geopolitischer Interessen?

Das ist eine beliebte These, der ich aber widersprechen würde. Der Karabach-Konflikt und überhaupt die ungelösten Konflikte im Südkaukasus haben natürlich eine Blockadewirkung, was den Kaukasus als Landbrücke zwischen Europa und Asien betrifft. Auf der anderen Seite haben sich gerade die Erdöl-Beziehungen dann doch entfaltet.

Ich denke, die Beteiligung Außenstehender am Konflikt wird insgesamt überbetont. Externe Akteure müssen natürlich mitwirken und den Konflikt als Mediatoren beeinflussen. Aber am Ende ist es ein Konflikt zwischen Armeniern und Aserbaidschanern. Es muss ein Ruck durch die internen Konfliktparteien gehen. Sonst ist es unmöglich, den Durchbruch zu erzielen.

Woran scheitert die Einigung der Konflikt-Parteien?

Einerseits muss Armenien klar machen, unter welchen Bedingungen es seine Truppen aus den um Karabach liegenden Gebieten abzieht. Es gibt ja schon mehrere UN-Resolutionen und Erklärungen internationaler Organisationen, die das fordern. Andererseits kann man das von der armenischen Seite nicht erwarten, solange Baku, wie im Moment, ständig die Kriegstrommel rührt und sich vorbehält, den Konflikt militärisch zu lösen, wenn er sich diplomatisch nicht lösen lässt.

Die Frage ist also: Wie steht es mit den sogenannten Madrider Prinzipien? Die liegen seit Jahren auf dem Tisch. Von der internationalen Politik im Rahmen der Minsk-Gruppe wäre etwas mehr Nachdruck gefordert: Gegenüber Armenien betrifft dies den Truppenrückzug aus den Gebieten um Karabach, gegenüber Aserbaidschan die Forderung, auf Gewaltandrohung zu verzichten. Externe Akteure wie die EU gingen nach dem Prinzip vor: Wie hätten Sie es denn gern? In den Aktionsabkommen im Rahmen der Nachbarschaftspolitik betonte man gegenüber der armenischen Seite das nationale Selbstbestimmungsrecht, bei Aserbaidschan die territoriale Integrität.

Aber auch die enormen psychologischen Barrieren zwischen Armenien und Aserbaidschan verhindern eine Annäherung. Die sind natürlich auch in anderen Konflikten hoch. Aber im Karabach-Konflikt kommt es zu schier unüberwindbaren Feindbildern. So ist auf armenischer Seite die Gewalt im Karabach-Konflikt mit der Genozid-Erfahrung von 1915 in Verbindung gebracht worden. 

Bislang glauben beide Seiten der Formel: Wir die Opfer, ihr die Täter. Es gibt aber keinen Konflikt, der dieser Formel folgt. Ich wurde in Armenien wie in Aserbaidschan immer auf Friedhöfe geführt, wo die eigenen Leute als Helden bestattet sind. Da habe ich immer gesagt: Auf der Gegenseite war ich auch auf solchen Friedhöfen. Das hat man dann nicht gerne gehört. Es wird nicht ansatzweise der Versuch unternommen, die Opfererfahrung der Gegenseite nachzuvollziehen. Aber es geht um gegenseitige Gewalt, das muss beiden Seiten klar werden.

In Armenien und Karabach leben vorwiegend Christen, in Aserbaidschan vor allem Muslime. Wie wichtig sind die unterschiedlichen Religionen im Konflikt?

Die religiöse Komponente ist jedenfalls nicht maßgebend. Es wurden schon, auf armenischer Seite, die Waffen von der Kirche gesegnet. Insgesamt ist der Konflikt aber ein ethnisch- territorialer und kein religiöser. Auf der Seite des muslimischen Aserbaidschan wurde dieser Konflikt jedenfalls nicht "dschihadisiert". Und das ist bemerkenswert. Denn bei anderen Sezessionskonflikten mit einer islamischen Konfliktpartei ging dies sehr schnell: in Palästina, in Tschetschenien, in Kaschmir.

Was unterscheidet den Konflikt noch von anderen Sezessionskonflikten?

Besonders die Rolle der besetzten Gebiete: Die humanitäre Katastrophe für Aserbaidschan kommt nicht so sehr aus Karabach selber, sondern aus den umliegenden sieben von Armenien besetzten Provinzen. Von dort stammt der Großteil der 700.000 bis 800.000 vertriebenen Aserbaidschaner. Deswegen sind diese Gebiete für mich der eigentliche Brennpunkt des Konfliktes.

Das zweite ist der Zustand der Waffenstillstandslinie. Das ist eine Waffenstillstandslinie, die unter keinem echten internationalen Monitoring steht. Sie gleicht gewissermaßen den Schützengräben des ersten Weltkriegs, was die Konfrontation der bewaffneten Parteien betrifft.

Und auf der anderen Seite: Was ist daran typisch?

Der Charakter eines Regionalkonflikts aus der Erbschaft des sowjetischen Vielvölkerimperiums. Der Kaukasus mit seinem komplizierten Ethnogramm war wie keine andere Region von dem betroffen, was ich das "Matrjoschka-Modell" nenne: von der Verschachtelung nationaler Gebietseinheiten in Sowjetrepubliken, autonome (Unter-) Republiken und autonome Regionen. Bei der Auflösung der Sowjetunion kam es zum Aufstand der "Unterpuppen" gegen ihre "Oberpuppen". Im Südkaukasus haben wir heute drei ungelöste Sezessionskonflikte. Im Nordkaukasus kam Tschetschenien dazu. Im Kaukasus waren die sowjetischen Arrangements mit der Einrichtung nationaler Gebietseinheiten besonders konfliktanfällig. Der Karabach-Konflikt wurde zum ersten ethnopolitischen Störfall der Gorbatschow-Ära.

Wir haben jetzt viel über Armenier und Aserbaidschaner gesprochen, also nur über zwei Seiten. Macht es Sinn, die Karabach-Armenier direkt einzubeziehen?

Ja, das ist ein wunder Punkt: Dass eine primäre Konfliktpartei von den Verhandlungen ausgeschlossen ist. Anfangs war sie ja noch mit dabei, erst 1997-1998 wurde sie auf Betreiben Aserbaidschans vom Verhandlungstisch ausgeschlossen. Seitdem betont sie natürlich, dass sie nun nicht mehr verpflichtet ist, Vereinbarungen zu akzeptieren.

Die Rückkehr Karabachs an den Verhandlungstisch ist aber unwahrscheinlich. Aserbaidschan stellt sich vehement dagegen und kann damit drohen, in diesem Fall selbst von den Verhandlungen zurückzutreten. Auch Armenien hat die Forderung bislang nur halbherzig unterstützt und sich in der Rolle des Vertreters für Berg-Karabach eingerichtet. Aber es ist dennoch eine berechtigte Forderung.

Wie groß sind überhaupt die Unterschiede zwischen der Führung in Karabach und der in Armenien?

Tatsächlich stammt die politische Führungsschicht in Armenien zu großen Teilen aus Karabach, die Präsidenten Kotscharjan und Sarksjan zum Beispiel. Deren Vorgänger, Ter-Petrosjan, war darüber gestolpert, dass er sich im Karabach-Konflikt kompromissbereit gezeigt hat. Das stieß auf massiven Widerstand. Danach hat eine deutliche "Karabachisierung" Armeniens stattgefunden, der Karabach-Clan regiert. Armenien ist auch 20 Jahre nach dem Krieg die Lebensader für Karabach. Ohne Armenien würde Karabach nicht überleben können.

Einige aserbaidschanische Stimmen halten immer wieder dagegen und behaupten, Karabach finanziere sich vor allem über seine Rolle als Drogenumschlagplatz.

Das ist übertrieben. Mir ist jedenfalls nicht bekannt, dass Wirtschaftstätigkeit in Karabach weitgehend in kriminellen Schattenbereichen liegt. Aserbaidschan hat übrigens seinerseits damit zu kämpfen, ein Durchzugsland für Drogen geworden zu sein – als südliche Route aus Afghanistan.

Allerdings hat Karabach selbst tatsächlich keine nennenswerten Ressourcen. Das alltägliche Leben finanziert sich über die Zuwendung aus Armenien und der weltweiten armenischen Diaspora. Als ich das erste Mal in Karabach in einem Hotel war, stand dort am Eingang ein ausgestopftes Känguru. Wie kommt ein Känguru nach Karabach? Das hatte ein australischer Armenier mitgebracht – als er in Karabach dieses Hotel eröffnete.

Die Parlamentswahlen in Karabach im Mai 2015 sollten auch die Legitimität des De-facto-Staates unterstreichen. Wie schätzen Sie diese Wahlen ein?

Tatsächlich ist Karabach unter den De-facto-Staaten einer der am stärksten "demokratisierten". Natürlich versucht die Führung dort auch aus taktischen Gründen, sich als demokratisches Gemeinwesen gegenüber Aserbaidschan darzustellen, wo die politische Entwicklung nicht gerade in Richtung Demokratie verläuft. In Aserbaidschan haben sich die politischen Verhältnisse in den letzten zwei Jahren ja noch mal deutlich verschlechtert. 2014 kam es zu einer der größten Verhaftungswellen. Auch gegenüber zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich im Karabach-Konflikt halbwegs aus den gängigen Feindbildern heraus bewegt haben.

Aber es gibt eben auch in Karabach keine wirklichen Oppositionsparteien und keine echte politische Auseinandersetzung. Dafür ist die Wahrnehmung als Konfliktzone im Verteidigungszustand zu stark. Sie überlagert alles.

Zur Person:
Dr. phil. Uwe Halbach forscht als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin seit 2001 zu Russland, Zentralasien und dem Kaukasus, insbesondere auch zu ungelösten regionalen Konflikten. Gemeinsam mit Franziska Smolnik veröffentlichte er unter anderem die Studie "Der Streit um Berg-Karabach. Spezifische Merkmale und die Konfliktparteien."

Dieser Beitrag entstand im Rahmen einer Projektarbeit der Freien Universität Berlin. Im Oktober 2014 beschlossen sechs Studierende der Osteuropawissenschaften, sich mit dem Konflikt um die Region Berg-Karabach auseinander zu setzen. Nach einer mehrmonatigen Vorbereitungsphase fuhr die Gruppe im Frühsommer 2015 nach Georgien, Aserbaidschan, Armenien und Berg-Karabach. Vor Ort und in Deutschland führten sie Interviews mit Politikwissenschaftler/innen, Flüchtlingen, Politiker/innen, Jugendlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur/innen. Weitere Beiträge und Informationen finden Sie in unserem Berg-Karabach-Dossier und auf dem Projektblog.