Nachts vor dem Lageso

Demonstrierende halten ein Plakat mit der Aufschrift "Registrieren statt erfrieren" vor dem Lageso in Berlin
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Seit dem Spätsommer sind hunderte Helfer/innen täglich im Einsatz, um die vielen wartenden Flüchtlinge vor dem Lageso mit dem Nötigsten zu versorgen

Nicht mehr als Partyhauptstadt, sondern mit anderen Neuigkeiten erwirbt Berlin seit dem Sommer 2015 internationale Aufmerksamkeit. Dass Flüchtlinge vor der Erstaufnahmestelle des Landes teils wochenlang unter menschenunwürdigen Bedingungen warten müssen, interessierte sogar die New York Times.

Sie habe noch nie bei Besuchen in Flüchtlingsaufnahmen „auch nur im Entferntesten vergleichbare Zustände gesehen“ wie in Berlin. Das schrieb die Grünen-Abgeordnete und Bundestagsvizepräsident Claudia Roth im Dezember 2015 an Michael Müller (SPD), den Regierenden Bürgermeister der Hauptstadt, nachdem sie die dortige Erstanlaufstelle für Flüchtlinge besucht hatte. „Hunderte, vielleicht auch tausende Menschen“, die „verzweifelt und entkräftet“ auf dem Gelände umherirrten: „Frauen, Männer und (Klein)Kinder, Schwangere, Verletzte, Alte, Kranke und Behinderte“, die „stunden-, ja tagelang in Warteschlangen ausharren, zum Teil in Schlamm, Regen und Sturm, oder dicht gedrängt in abgesperrten Bereichen, ohne Garantie, dass sie es schaffen werden, zu einer Sachbearbeiterin oder einem Sachbearbeiter vorzudringen“. 

Eine Behörde kollabiert...

Die Zustände, die Roth so schockierten, dauerten da bereits Monate an. Im Sommer war Anwohner/innen des Landesamt für Gesundheit und Soziales in Berlin-Moabit, zu dem die „Zentrale Aufnahmeeinrichtung des Landes Berlin für Asylbewerber“ gehört, aufgefallen, dass die - auch zuvor bereits langen - Warteschlangen dort nun ungeheure Ausmaße hatten. Hunderte stauten sich täglich auf dem Gelände vor der Behörde, die die Berliner/innen kurz Lageso nennen. Angesichts steigender Flüchtlingszahlen, die sich von Januar (1.540) bis August (5.349) fast vervierfacht hatten, war die Behörde kollabiert. Nur ein Bruchteil derjenigen, die draußen warteten, wurde noch am selben Tag registriert. Geflüchtete, darunter Familien mit Kindern, Kranke, Verletzte, Schwangere übernachteten vor dem Lageso: nicht nur, um am nächsten Tag einen günstigen Platz in der Schlange zu bekommen. Als Nichtregistrierte wies ihnen zudem ja niemand einen Schlafplatz in einer Flüchtlingsunterkunft zu. Auch Taschengeld, Fahrkarten und medizinische Versorgung bekommen Geflüchtete erst nach der Registrierung.

Es formierte sich eine Bewegung, wie sie die wiedervereinigte Hauptstadt nie zuvor erlebt hatte und auf die sie immer noch staunend schaut. Eine Handvoll Menschen, die im heißen Sommer 2015 anfingen, Wasser, Essen, Kleidung an die wartenden Flüchtlinge zu verteilen, löste eine Welle der Hilfsbereitschaft aus, an der sich mittlerweile Tausende Berliner/innen beteiligen. Ohne sie käme Berlin heute bei der Flüchtlingsbetreuung nicht mehr aus. Ihr Anfang war die am Lageso entstandene Bürgerinitiative „Moabit hilft“.  

… und die Bürgerinnen und Bürger verhindern das Schlimmste

Zwei Dinge machten die Initiative zur zentralen Berliner Flüchtlingshilfsorganisation: Das eine war, dass sie sich am Lageso selbst einsetzte und so öffentliche Aufmerksamkeit und Druck auf die Behörde, aber auch auf die übergeordnete Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales und deren Senator Mario Czaja (CDU) lenkte. Das andere waren Handynummern und eine Facebookseite.

„Moabit hilft“ war immer zu erreichen. Das machte es nicht nur denjenigen leicht, die mitmachen wollten. Man meldet sich telefonisch oder online an, schreibt seinen Namen auf Klebeband und klebt dieses dann auf T-Shirt oder Pullover, bekommt eine Einweisung und ist Teil der Hilfsstruktur. Kern der Initiative sind etwa zehn Menschen und 30 bis 40 stetige Mitarbeiter/innen. Dazu kommen Unzählige, die helfen, wenn sie Zeit haben. „Manchmal täglich über 200“, sagt der ehemalige Sprecher Laszlo Hubert. Etwa die Hälfte seien selbst Geflüchtete – wie etwa Ahadullah Sediqi aus Afghanistan. Er kommt seit seiner Ankunft in Berlin Mitte September fast jeden Abend ans Lageso. Auch nachts sind Helfer/innen dort. Sediqi spricht Farsi, Urdu und Pashtu und gehört zu einer Gruppe Geflüchteter, die dort abends übersetzen und Ankommende über Verfahren und Unterkünfte informieren. Viele andere Helfer/innen seien Rentner/innen, Studierende, Schüler, sagt Hubert.

Aber „Moabit hilft“ wurde auch für die Medien zur wichtigen Ansprechpartnerin. Während die Pressestelle des Lageso oft nicht mehr zu erreichen ist, informiert die Bürgerinitiative Medien über neue Entwicklungen und Probleme am Lageso und über ihre Aktivitäten und Forderungen. Nicht nur deutsche, auch internationale Medien berichteten mittlerweile über das Chaos in und vor der Behörde – sogar die „New York Times“ war da.

Auch das Lageso und die Senatsverwaltung selbst kamen deshalb bald nicht mehr an der Initiative vorbei. „Moabit hilft“ sitzt heute mit Politiker/innen und Verwaltung in täglichen Lagebesprechungen, ist bei Begehungen und Runden Tischen auf Landesregierungsebene dabei. Und war mit vielen Forderungen erfolgreich: Dass mittlerweile Busse auch nicht registrierte Flüchtlinge abends vom Lageso in Notunterkünfte bringen, dass Wartenden auch nachts Zugang zu beheizten Zelten auf dem Gelände gewährt wird, hat „Moabit hilft“ durchgesetzt.

Initiative "Moabit hilft" bewirkt Verbesserungen für die Geflüchteten

Dabei wurde die Arbeit der Initiative von Politik und Verwaltung anfangs eher behindert als unterstützt. Senator Czaja versuchte, die chaotischen Zustände in und vor der Behörde kleinzureden, sprach von „Flüchtlingskrise“, wo die ehrenamtlichen Helfer/innen eine Verwaltungskrise und Verletzung von Grund- und Menschenrechten sahen. Das Lageso selbst, auch Kontrollbehörde für die Einhaltung von Gesundheitsvorschriften, kam trotz Überforderung plötzlich tatsächlich seiner Aufgabe nach - und verlangte von den Ehrenämtler/innen Impfungen, um sich nicht bei – von der Behörde unversorgten - kranken Geflüchteten anzustecken. Für die hatten unterdessen die Helfer/innen ehrenamtlich arbeitende Ärzt/innen organisiert.    

Die Empörung vieler Berliner/innen über die humanitäre Katastrophe in ihrer Stadt und die davon und von der Begeisterung über die Hilfsbereitschaft mitgerissene Medienberichterstattung änderten das - wenigstens teilweise. Bürgermeister Müller erklärte das Flüchtlingsthema zur „Chefsache“ und lud die Ehrenamtler/innen ins Rote Rathaus. Viele Betreiber von Flüchtlingsunterkünften kämen heute ohne freiwillige Helfer/innen, die Betten zusammenbauen, Kinder betreuen oder Essen verteilen, nicht mehr aus. Und sogar Senator Czajas Verwaltung bittet sie per Twitter um Hilfe, wenn Züge mit neuen Geflüchteten ankommen.

Weitere Beiträge zur Flüchtlingspolitik in Berlin finden Sie auf der Länderseite unseres Dossiers "Wie schaffen die das? Die Flüchtlingspolitik der Länder" (zur Startseite).