Die erste Frage der Gerechtigkeit

Justitia

I

Versuchen wir zunächst, den Begriff  der politischen und sozialen Gerechtigkeit zu klären. Er bezieht sich auf einen Kontext politischer und sozialer Verhältnisse, die nach einer gerechten Ordnung verlangen. Wir meinen damit eine gesellschaftliche „Grundstruktur“ (J. Rawls), die die politischen und die zentralen sozialen und wirtschaftlichen Institutionen umfasst: die Verfassung, die wichtigsten ökonomischen Institutionen sowie gesellschaftliche Einrichtungen wie die Schule oder die Familie – all die Institutionen also, die die Lebenschancen der Einzelnen entscheidend bestimmen und deren Regelung politisch möglich und notwendig ist. Damit muss von vornherein der Fokus auf diese öffentliche Institutionenordnung gelegt werden.

Eine gerechte Ordnung ist eine, in der die Regeln und Institutionen der sozialen Kooperation von Formen willkürlicher Herrschaft frei sind, d.h. gegenüber einer jeden beteiligten Person als Freie und Gleiche gerechtfertigt werden können  – und zwar im Modus demokratischer Selbstbestimmung.(i)  Ein Kontext der Gerechtigkeit ist ein institutioneller Zusammenhang, in dem bestimmte Güter – Bildung, soziale Positionen, Einkommen, Vermögen, Gesundheit etc. – gemeinsam erwirtschaftet und verteilt werden – und zwar nach allgemein legitimierbaren Regeln. Der Gegenbegriff zur Gerechtigkeit ist der Begriff der „sozialen Willkür“, und sie wird durch Verfahren der Rechtfertigung gebannt. Dieses Verständnis von Gerechtigkeit ist reflexiver Natur: Denn die Rechtfertigungen, die bestimmte Verteilungen legitimieren, müssen nicht nur eine bestimmte Qualität haben, sie müssen auch durch Verfahren hindurch gegangen sein, an denen alle Betroffenen ausreichende Beteiligungschancen hatten. Die besondere Qualität von Gerechtigkeitsgründen besteht darin, dass sie besonders vor denen bestehen können, die sozial am schlechtesten gestellt sind. Denn die Frage der Gerechtigkeit ist ihre Frage – die Frage danach, wieso eigentlich Verhältnisse sind, wie sie sind, und wieso dabei bestimmte Gruppen (mehr oder weniger) regelmäßig schlecht abschneiden. Die reflexive Pointe der Gerechtigkeit besteht darin, dass sie der Demokratie eine besondere Rechtfertigungsschwelle vorgibt: nämlich in realen Beteiligungsverfahren die Gründe derer besonders zur Geltung zu bringen, die am kooperativen Geschehen nur am Rande oder kaum teilnehmen, weil es nach Regeln verläuft, die sie nicht beeinflussen können und die sie ausgrenzen. Die Gerechtigkeit spricht nicht an ihrer Stelle, sondern sie verlangt zunächst, ihnen eine Stimme zu geben.

Gerechtigkeit ist im sozialen Rahmen eine relationale Größe. Sie kommt in die Welt, um Verhältnisse zu ordnen, die aus den Fugen geraten sind (oder wo dies droht).

Die reflexiv verstandene Gerechtigkeit bezieht sich auf das, was Einzelne als Teile des Ganzen haben oder nicht haben und können oder nicht können, aber mehr noch als das Haben betrifft sie die Beziehungen untereinander. Gerechtigkeit ist eine Qualität von sozialen Verhältnissen und Institutionen, sie betrifft nicht allein das, was man hat, sondern wie man behandelt wird: ob als eigenständiger und gleichberechtigter Teil einer Rechtfertigungsordnung oder nicht. Die größte Ungerechtigkeit ist das Übergangenwerden, das legitimatorische „Luftsein“ der „Unsichtbaren“ oder Sprachlosen. Das ist der tiefere Zusammenhang von Gerechtigkeit, von Inklusion und Partizipation, wie er in den Berichten des Zukunftsforums angesprochen wird: Die gerechte Gesellschaft bezieht nicht Einzelne als nur passive Empfänger von Gütern ein, sondern als aktive Bürgerinnen und Bürger, die an der Gestaltung der allen zugänglichen Institutionen als Freie und Gleiche mitwirken. Das ist ein anspruchsvolles Verständnis von Inklusion, das auf Partizipation, kritische Partizipation, hinausläuft. Anders gesagt: Wer an distributiver Gerechtigkeit interessiert ist, der blickt nicht nur darauf, was Einzelne an Gütern haben oder nicht haben, sondern wo und wie darüber befunden wird, wer was hat oder worauf einen Anspruch hat. Das ist die erste Frage der Gerechtigkeit, die politische Frage der Beteiligung und der Macht.

Machen wir uns das an einem Beispiel klar. Wie ein Kuchen aufgeteilt werden soll, das mag zwischen den Kindern einer Familie umstritten sein. Ein Kind hat beim Backen geholfen und beansprucht mehr, ein anderes hat länger nichts gegessen, ein drittes plädiert für strenge Gleichverteilung. Die Gerechtigkeit, reflexiv verstanden, fordert ein faires Abwägen dieser Ansprüche, und man muss dabei beachten, dass Menschen sich unter Umständen mit Lösungen einverstanden erklären können, die sie, ohne an ihrem Zustandekommen beteiligt gewesen zu sein, niemals akzeptieren würden – aber wenn sie angemessen beteiligt wurden und auf die Ansprüche anderer reagieren konnten, sind sie viel häufiger zu Einigungen, auch zu Einbußen bereit. Der erste Anspruch der Gerechtigkeit ist somit nicht einer, der abstrakt gesehen auf Aspekten von Verdienst, Bedürfnis oder materialer Gleichheit beruht, sondern der, bei einer Entscheidung über das Gerechte als Gleiche(r) fair beteiligt zu sein.

Aber mehr noch. Dies richtig durchdacht warnt uns davor, diesem (beliebten) Beispiel nicht auf den Leim zu gehen. Denn häufig erscheint darin die Mutter der Familie als unhinterfragte Verteilungsinstanz. Dabei wird oft vergessen, dass die eigentliche Gerechtigkeitsfrage die ist, wer im politischen Kontext eigentlich Mutter (oder Vater) spielen darf. Allzu oft verbleibt nämlich unser Gerechtigkeitsdenken noch dem Absolutismus verhaftet – als ob wir Kinder wären, die an übergeordnete Autoritäten Ansprüche auf Güter stellen, in der Hoffnung, gehört zu werden. Aber diese Mutter gibt es im Politischen so nicht; hier gibt es keine vorgeordnete natürliche Autorität, und wir sind nicht Empfänger von Gaben, sondern selbst die Autorität, politische und ökonomische Verhältnisse zu bestimmen – zumindest der Idee der Gerechtigkeit nach.

II

Versteht man den Begriff der Gerechtigkeit so, dann klären sich einige in öffentlichen Diskursen weit verbreitete Missverständnisse. Eines besteht darin, Gerechtigkeit als einen „Wert“ zu begreifen, der neben anderen wie „Freiheit“ oder „Gleichheit“ steht und jeweils gegen diese abgewogen werden muss. Dann steht etwa ein Freiheitsanspruch gegen einen Gerechtigkeitsanspruch. Diese Rede aber ist falsch. Denn die Göttin der Gerechtigkeit ist zu erhaben, als dass sie sich auf dieses Getümmel einließe: Sie entscheidet darüber, wer welchen Freiheitsanspruch wem gegenüber hat – denn die Freiheit des einen, die Umwelt zu gefährden, ist die Unfreiheit der anderen, die dann unter Fluglärm, schlechter Luft oder dem Ansteigen der Meere leiden und womöglich ihre Heimat verlieren. Hier übertrumpft dann nicht die Gerechtigkeit die Freiheit, sondern sie macht klar, dass die Freiheit des einen nicht zu Lasten von der der anderen gehen darf – und welche die wichtigere ist, das sagt die Gerechtigkeit, nicht die Freiheit.

So ist es denn auch falsch, den Begriff der Gerechtigkeit abstrakt in eine Opposition zu dem der Demokratie zu bringen. Denn recht verstandene politische Gerechtigkeit ist recht verstandene Demokratie, in der im Modus der öffentlichen Rechtfertigung darüber entschieden wird, was allgemein gelten soll. Gleichzeitig heißt dies aber auch, dass eine Demokratie, in der sich Mehrheiten das Recht herausnehmen, die staatsbürgerlichen Grundrechte anderer einzuschränken bzw. nicht hinreichend legitimierbare Politiken zu verfolgen, die Privilegien festzurren, den Grundsatz der Demokratie verletzt, der ja genau solche Willkürpolitik ausschließen soll. Deshalb ist es so wichtig, Parteien zu haben, die die Stimme von Minderheiten geltend machen.

Betonte ich vorhin, dass die erste Frage der Gerechtigkeit die der Rechtfertigung der Herrschaftsausübung ist, so spezifiziere ich nun, dass wir der Gerechtigkeit im politischen Denken stets den Platz geben müssen, der ihr gebührt: den ersten und zentralen Platz. Denn eine politische Gemeinschaft kann und muss mit vielen Kompromissen leben, nicht aber mit einer Kompromittierung der Gerechtigkeit. Wer glaubt, die Gerechtigkeit gegen etwas anderes eintauschen zu können – Effizienz, Glück, Wohlstand, was auch immer – der verrät die Politik. Machen wir uns frei von Verkürzungen und Einschnürungen der Gerechtigkeit im öffentlichen Diskurs: Sie ist nicht ein „Wert“ unter anderen, sondern der oberste Grundsatz der politischen Welt, dessen Ziel es ist, die Willkür zu bannen.

III

Seit vielen Jahren zeigen die Bestandsaufnahmen der sozialen Unterschiede in der Bundesrepublik – insbesondere die ganz passend heißenden „Armuts- und Reichtumsberichte“ der Bundesregierung – das paradoxe Bild einer reicher und zugleich ärmer werdenden Gesellschaft: Während das Nettovermögen der Privathaushalte ansteigt, verringert sich der Anteil der unteren 70 Prozent der Haushalte daran immer mehr, im Jahre 2007 auf unter 9 Prozent (der Anteil der 10 Prozent bestgestellten Haushalte stieg indessen auf 60 Prozent an).(ii) Zudem erhöht sich der Prozentsatz derer, die unterhalb der Armutsgrenze leben müssen; und das Armutsrisiko steigt, auch bei denjenigen, die Arbeit haben. Dazu kommt, dass alle Bildungsberichte bestätigen, dass in kaum einem anderen OECD-Staat die Bildungschancen so sehr von der sozialen Herkunft abhängen wie in unserem Land.

Mit dieser Entwicklung droht das, was man eine „Refeudalisierung“ der Gesellschaft nennen könnte, d.h. eine Gesellschaft, in der Reichtum ebenso wie Armut innerhalb abgegrenzter sozialer Gruppen „vererbt“ werden – und zwar nicht nur durch die Weitergabe bzw. das Fehlen von materiellen Gütern, sondern – sozialisatorisch weit früher und tiefgreifender – insbesondere durch die soziale Determination von Bildungs- und Aufstiegschancen. So sind die Chancen eines Kindes aus einem Elternhaus mit sozial hohem Status mehr als sechsmal größer, ein Studium aufzunehmen, als die eines Arbeiterkindes. So entsteht ein „Adel“ der Chancen am einen Ende, und am anderen finden sich die Gruppen der Besitz- und Ressourcenlosen ohne Perspektiven. Dies ist eine besondere Form der Herrschaft der gesellschaftlichen Willkür; und ein anderes Wort hierfür ist das des Privilegs: Wir leben in einer Gesellschaft der Privilegien des Zugangs zum politischen und sozialen Leben, die sich beständig reproduzieren.

Deshalb ist es so wichtig, dass der Zugang zu gesellschaftlichen und politischen Institutionen im Zentrum eines neuen sozialpolitischen Denkens steht, wie es der zweite Bericht des Zukunftsforums betont; aber wichtig ist es auch, dass wir dabei die diskursiven Verengungen und Verdrehungen überwinden, die der neoliberalen Eiszeit geschuldet sind, deren Ende aufgrund des Versagens der politisch-ökonomischen Institutionen seit 2008 eingeläutet sein sollte (aber darauf wetten sollte man nicht). Damit meine ich Folgendes:
Erstens, das Phänomen der „Unterschichten“ wurde verstärkt als kulturelles dargestellt, als Problem von „Kulturen der Armut und der Abhängigkeit“ (Paul Nolte), die es „aufzubrechen“ gelte. Während gleichzeitig die „alte“ Gerechtigkeit als fürsorgend-entmündigende und zudem kostspielige, unproduktive Form der „Umverteilung“ gedeutet wurde, betonte die „neue“ Gerechtigkeit nicht nur die Verantwortung und Solidarität der Gesellschaft für die sogenannten „Schwachen“, sondern auch deren Verantwortung für sich selbst gegenüber der Gesellschaft. Dies führte dazu, dass in der Öffentlichkeit die Rechtfertigungslasten nahezu umgedreht wurden: Sozial schlechter gestellte Gruppen mussten erklären, weshalb sie aus ihrer Lage nicht herauskommen; aus einer Exklusion wurde damit eine Selbstexklusion gemacht. Diese Verdrehung ist nicht hinnehmbar.

Zweitens, die neue Semantik der Gerechtigkeit ging mit einer überbordenden Pluralisierung von Gerechtigkeitsverständnissen – etwa: Generationen-, Bildungs-, Zugangs-, Leistungs-, Bedarfs-, Befähigungsgerechtigkeit – einher, die – zunächst einmal ganz zurecht – auf unterschiedliche Ex- bzw. Inklusionsfelder verweisen. Doch birgt dies die Gefahr zu verschleiern, dass all diese „Gerechtigkeiten“ innerhalb eines sozialen Gesamtsystems zusammenzuführen sind: Es gibt in einer komplexen Gesellschaft einen Plural von Gerechtigkeitssphären, nicht aber der Gerechtigkeit selbst. Es stimmt zwar, dass das Auge der Gerechtigkeit sich erweitern muss, insbesondere auf die Verhältnisse in Familien (zwischen den Geschlechtern sowie Eltern und Kindern), auf Probleme kultureller Differenz und Missachtung, auf ökologische Problematiken, auf die Beziehung zwischen den Generationen – aber es bleibt dabei doch ein umfassender Begriff der Gerechtigkeit notwendig, und es bleibt ein gesellschaftlicher Zusammenhang der Gerechtigkeit, den wir betrachten müssen. Denn blickt man auf die „Verlierer“ gegenwärtiger sozialer Arrangements, dann sieht man, dass die vielzähligen Ausschlussmechanismen häufig kombiniert und kumuliert auf sie zutreffen: Geschlechterdiskriminierung, kulturelle Ausgrenzung, mangelnde Ausbildungsmöglichkeiten, Arbeitslosigkeit.

Aber mehr noch, der Plural der Gerechtigkeiten bringt auch schiefe Bilder mit sich. So wird häufig argumentiert, dass es ein Gebot der Generationengerechtigkeit sei, etwa durch die Kappung von öffentlichen Ausgaben und Transferleistungen die Staatsverschuldung zu reduzieren, um „unseren Kindern und Kindeskindern“ nicht einen großen Schuldenberg zu hinterlassen. Das ist gut gesprochen, aber das wahre Bild der Gesellschaft sieht etwas anders aus: Es gibt nicht eine einzige eindeutige Kluft zwischen der älteren und der jüngeren Generation, sondern in erster Linie eine innerhalb der jeweiligen Generationen. Blickt man nämlich auf die Zahlen, welche Vermögen zwischen den Generationen künftig vererbt werden, so ist ersichtlich, welche materiellen Lichtjahre Mitglieder ein- und derselben Generation voneinander entfernt sind und sein werden. Durch soziale Sparmaßnahmen werden dann nicht selten diejenigen besonders getroffen, die ohnehin im Wettbewerb innerhalb ihrer Generation verlieren werden, wenn nicht politisch gegengesteuert wird.

Drittens wird im Zuge der neuen Gerechtigkeitsdebatte zuweilen unklar, worin genau die Bedeutung von „Gerechtigkeit“ liegt, wenn sie mehr sein sollte als eine solidarische oder barmherzige „Hilfe zur Selbsthilfe“. Denn ein Diskurs, der die „Ausgeschlossenen“ wie Opfer von Naturgewalten behandelt, denen „geholfen“ werden muss, oder als „Schwache“, die „gestrauchelt“ sind, blendet die Ursachen der Ungerechtigkeit aus. Eine Gesellschaft, die Exklusion strukturell produziert, etwa in ihrem Bildungssystem, soll nicht den „Schwachen helfen“, sondern hat die Pflicht, die Strukturen zu verändern, die „Schwäche“ hervorbringen.

IV

Was heißt dies nun für die Idee der „Teilhabegerechtigkeit“? Wir müssen hier zwei Konzeptionen davon unterscheiden. Die eine, reduzierte Version, ist primär güter- und empfängerzentriert und minimalistisch. Danach hat der Sozialstaat die Aufgabe, die gravierendsten Exklusionsauswirkungen der ökonomischen Ordnung und anderer Institutionen zu kompensieren. Er zielt darauf ab, Möglichkeiten der Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern wie Bildung und Einkommen etwa zu eröffnen, kann dabei aber nicht mehr als eine minimale Grundsicherung bzw. Hilfe zur Verfügung stellen. Bei dieser Konzeption tritt das Ziel der basalen sozialen Inklusion an die Stelle einer umfassenderen Gerechtigkeit: Die Frage nach der Rechtfertigbarkeit einer Grundstruktur, die die oben erwähnten Phänomene der Ungleichheit zeitigt, gegenüber denen, die in ihr am schlechtesten gestellt sind, wird weitgehend ausgespart. Die wesentlichen Strukturen scheinen jenseits der Rechtfertigung zu liegen, angepeilt wird lediglich die Reparatur der Folgen struktureller Defizite.

Ein alternatives, unverkürztes Verständnis von Teilhabegerechtigkeit hingegen fragt nicht nur danach, wer welche Güter in einem minimalen, grundlegende Lebensstandards erfüllenden Sinn braucht, sondern umfassender danach, welche Güter aus welchen Gründen an wen legitimerweise zu verteilen sind, und mehr noch danach, wer über die Bedingungen von gesellschaftlicher Produktion und Verteilung bestimmt. Dies ist der ursprüngliche, politische Sinn der Gerechtigkeit. Theorien, die primär allokativ-kompensatorischer Natur sind, sind entsprechend verkürzt, sofern sie die Gerechtigkeit nur von der „Empfängerseite“ her denken, ohne die politische Frage nach der Bestimmung der Strukturen der Hervorbringung und der Verteilung von Gütern zu stellen. Ich spreche hier von radikaler, an die Wurzel gehender Gerechtigkeit. Hier ist die ganze institutionelle Ordnung einer Gesellschaft das Thema, die von Anfang an die Lebensmöglichkeiten der Einzelnen bestimmt.

Die erste Aufgabe dessen, was ich „fundamentale Gerechtigkeit“ nenne, ist somit die Herstellung einer Grundstruktur der Rechtfertigung, d.h. die strukturelle Ermöglichung einer Gesellschaft ohne Privilegien bzw. zumindest die Eröffnung von Möglichkeiten, Privilegien und willkürliche Herrschaft in Frage zu stellen. Dazu bedarf es einer Reihe von Rechten und Möglichkeiten des Zugangs zu den Institutionen, in denen soziales und reales Kapital erworben wird – von guten Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten hin zum Arbeitsmarkt, aber eben auch zu den Institutionen, in denen darüber entschieden wird, wie diese Institutionen funktionieren. Deshalb ist Inklusion bzw. Güterumverteilung ohne Partizipation nur die halbe Gerechtigkeit.

Ein Vergleich mit der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls mag hier hilfreich sein. Dessen berühmtes „Differenzprinzip“ besagt, dass soziale Ungleichheiten nur dann als gerechtfertigt betrachtet werden können, wenn keine andere mögliche Verteilung den „Schlechtestgestellten“ einer Gesellschaft ein Mehr an Grundgütern einbringen würde – was nach Rawls impliziert, dass die „worst off“ ein „Vetorecht“ in Verteilungsfragen haben: „Diejenigen, die mehr Vorteile haben, müssen das vor denen, die die geringsten Vorteile haben, rechtfertigen können“(iii).  Meinem Vorschlag zufolge wird dieses Prinzip nicht selbst zu einem bestimmten Güterverteilungsprinzip, sondern zu einem übergeordneten, diskursiven Prinzip der Rechtfertigung möglicher Verteilungen. (vi)  Dabei muss allerdings darauf geachtet werden, dass, je nachdem, welches Gut zur Verteilung ansteht, die Gruppe der „worst off“ wechseln kann:
Es können Arbeitslose, Alleinerziehende, Alte, Kranke, ethnische Minderheiten sein, um nur einige zu nennen, und insbesondere Kombinationen dieser Merkmale – zumal unter Geschlechtergesichtspunkten – verschärfen die Situation. Wesentlich ist dabei, dass die Mitglieder dieser Gruppen nicht als Objekte, sondern als Subjekte der Gerechtigkeit gelten; die erste Aufgabe der Gerechtigkeit ist es, ihnen eine echte Teilnahme und Teilhabe an den Institutionen der Gesellschaft zu ermöglichen.

Das bedeutet, dass die Gerechtigkeit auf die Verteilung der wichtigsten Güter – politische Partizipationsmöglichkeiten, Gesundheit, Arbeit, Einkommen, Bildung, Freizeit etc. – eine doppelte Perspektive einnimmt: einmal in Bezug auf die Herstellung fundamentaler Gerechtigkeit und einmal in Bezug auf die weitergehende gerecht(fertigt)e Verteilung, danach fragend, welche Werte und welcher Zweck die Verteilung eines Gutes fördern sollen. Die erste Perspektive ist grundsätzlich egalitär, die zweite differenziert, denn verschiedene Güter sind nach unterschiedlichen Kriterien zu verteilen. Im Bereich der Bildungsmöglichkeiten etwa forderte fundamentale Gerechtigkeit eine größtmögliche Chancengleichheit in Kindergärten und Schulen ohne Einfluss finanzieller oder sozialer Herkunft, um auf weiteren Stufen Qualifikationsmöglichkeiten fair und nach Gesichtspunkten der Eignung verteilen zu können. Liegt Ersteres nicht vor, kann Letzteres nicht folgen. Dies ist übrigens ein zentrales Problem der Rede von „Leistungsgerechtigkeit“: Sie kann nur dort sinnvoll sein, wo Chancengleichheit besteht – und so müsste dies das Feld sein, auf dem die Verteidiger der „Leistung“ sich zunächst fänden.

V

In diesem Lichte gesehen geht die Stärkung und Erneuerung öffentlicher Institutionen, die die sozialen Möglichkeiten Einzelner determinieren, in die richtige Richtung, wenn sie neben Inklusion auch Partizipation zum Ziel hat und darüber hinaus festsitzende Systeme der Privilegierung bestimmter Schichten angreift: durch eine (wesentlich) bessere Ausstattung von Schulen in sozialen Brennpunkten, aber auch schon früher durch Institutionen frühkindlicher Bildung und durch ganztägige Betreuung. Das Aufbrechen etablierter struktureller Asymmetrien muss aber nicht nur hier ansetzen, sondern auch bei grundlegenden Verteilungsaspekten wie Einkommen und Löhnen (einschließlich eines Mindestlohns), sozialer Sicherung ohne Gängelung, des Zugangs zum Arbeitsmarkt, der Etablierung einer Bürgerversicherung ohne Privilegien bestimmter Einkommen auf dem Feld der Gesundheit, aber natürlich auch bei der Höhe sozialer Sicherung. Denn wie bereits Adam Smith sagte, ist es eine Grundforderung der Gerechtigkeit – wenn auch bei weitem nicht deren Erfüllung –  dass jeder die Möglichkeit hat „to appear in public without shame“. Eine gute Kindergarten- und Schulbetreuung für Kinder aus sozial schlechter gestellten Familien muss auch mit einer Verbesserung der sozialen und das heißt eben auch: finanziellen Möglichkeiten dieser Familien einhergehen. So wird Selbstbewusstsein als Beteiligungsvoraussetzung gestärkt, denn nicht umsonst geht es bei der Gerechtigkeit nicht nur um materielle Güter, sondern auch um die Selbstachtung. Diese hängt aber auch von materiellen Möglichkeiten ab, die man hat, und so müssen die verteilungspolitischen und die institutionenpolitischen Aspekte gemeinsam betrachtet werden.

Wir sollten uns nicht mit einer Politik zufrieden geben, die die Dysfunktionalität des Marktes nur kompensiert, aber nicht strukturell verändert  –  aber das heißt nicht, dass es nicht hier und jetzt einer Besserstellung von Gruppen bedürfte, die sich an der Armutsgrenze bewegen und in der Exklusion sozusagen eingeschlossen sind. Es geht dabei darum zu verhindern, dass jemand durch Armut in einer wohlhabenden Gesellschaft erniedrigt wird; nur so können selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger daran gehen, die Strukturen zu verändern, die Exklusion produzieren. Jede Formel in Bezug auf das Verhältnis der Investitionen in Institutionen und in sogenannte „Sozialtransfers“ muss auf diese Balance achten, und sie muss sich fragen lassen, wie sie es schafft, eine Gesellschaft asymmetrischer Lebenschancen strukturell zu verändern. Das ist natürlich nicht zuletzt auch eine Frage der Einnahmenseite und der Bereitschaft, durch faire Steuern angesichts der Entwicklungen von Einkommen und Vermögen Gerechtigkeit herzustellen. Es wäre freilich ein Fehler, in dieser Diskussion Investitionen in Lebensmöglichkeiten in eine falsche Alternative zu Investitionen in Institutionen zu bringen, denn nicht die Institutionen sollen die Menschen lenken, sondern umgekehrt. Und das können nur Freie und Gleiche, die sich auf Augenhöhe begegnen. Eine Gesellschaft solcher Augenhöhe wäre ein schönes Ziel, noch keine gerechte Gesellschaft, aber ein wichtiger Schritt.

 

[i]              Vgl. dazu ausführlicher Rainer Forst: Kritik der Rechtfertigungsverhältnisse, Frankfurt/M. 2011, Kap. 1.

[ii]              Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 4/2009, S. 59.

[iii]              John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975, 176.

[iv]              Rainer Forst: Das Recht auf Rechtfertigung, Frankfurt/M. 2007.