Was heißt Gerechtigkeit? Kurze Einführung in einen politisch umkämpften Begriff

Justitia
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Justitia in der Wuppertaler Neumarktstraße

Im linken Spektrum wird sich öfter auf den Begriff der "Gerechtigkeit" bezogen als anderswo. Dennoch handelt es sich bei „Gerechtigkeit“ um einen oftmals unbestimmten Begriff, der sehr vieles heißen oder behaupten kann.

Im politischen Sprachgebrauch ist er in vielen Fällen mehr rhetorisches Mittel als substantieller Maßstab, an dem sich politisches Handeln messen ließe. Und so wird der Begriff mitunter je nach politischer Agenda selbst in der gleichen (Sonntags-)Rede mit sehr unterschiedlichen impliziten Bedeutungen eingesetzt. Was mit Gerechtigkeit ungefähr gemeint sein soll, bleibt in der politischen Welt vielfach im Trüben. Deshalb ist es in der politischen Sphäre dringend geboten, sich explizit mit dem Begriff der Gerechtigkeit zu befassen. Gerechtigkeit ist normativ ein elementarer Begriff politischen Denkens und Handelns. Und er macht für eine Partei oder einen anderen politischen Akteur nur dann Sinn, wenn er – als interpretierter Begriff mit Ecken und Kanten – unterscheidbar ist von anderen Gerechtigkeitspositionen, wenn er nicht einfach unbestimmt bleibt.

Eine Vielzahl von Gerechtigkeitsinterpretationen

Ein Blick in die politische Philosophie und Theorie zeigt, dass es lange Traditionslinien des Nachdenkens über den Maßstab der Gerechtigkeit gibt, die zu einer Vielzahl völlig unterschiedlicher Antworten kommen, was Gerechtigkeit im Kern heißen soll. (Das ist - neben einer subkutanen Mischung von Gerechtigkeitsempfinden und Eigeninteressen  ein weiterer Grund für die empirische Beschreibung einer Vielzahl unterschiedlicher Gerechtigkeitsintuitionen). Wahrscheinlich ist vielen Politikerinnen und Politikern gar nicht klar, welche Vielfalt an Bedeutungen das Allerweltswort Gerechtigkeit haben kann.

Gerechtigkeitstheorien im Schnelldurchlauf: Es macht einen großen Unterschied, ob man Gerechtigkeit für einen relativen Maßstab hält oder für einen absoluten, also ob Gerechtigkeit einen (relativen) Gleichheitsmaßstab zwischen Subjekten darstellt oder ob er für jedes Subjekt einen (absoluten) Standard einfordert. Innerhalb der absoluten Gerechtigkeitsansätze ist dann weiterhin offen, wodurch sich der Standard bestimmt - Grundbedürfnisse? Grundfähigkeiten? Gutes Leben? Innerhalb der relativen Gerechtigkeitsansätze ist wiederum zu klären, worauf sich der Gleichheitsmaßstab eigentlich bezieht - Ressourcen, Chancen, Möglichkeiten, Freiheitskonstitution, Freiheitsverwirklichung im Sinne von Erfolgsbedingungen für den je eigenen Lebensentwurf.

An diese Grundfragen schließen sich dann weitere wichtige Fragen an: Wie werden in dem jeweiligen Grundsatz besondere Handicaps und besondere Leistungen berücksichtigt? Was ist, wenn entgegen dem – wie auch immer interpretierten – Gleichheitsgrundsatz eine Ungleichverteilung selbst die Schwächsten einer Gesellschaft besser stellt, als sie bei einer Gleichverteilung stehen würden? Und weiter: In welchem Radius greifen Gerechtigkeitsansprüche (Raumachse/Zeitachse)? Wer sind die Subjekte von Gerechtigkeitsansprüchen? Auch Tiere? Gar „die Natur“, wie manche Grüne – nach Auffassung des Autors irrtümlich - meinen? Und was sind eigentlich die Güter, auf die man einen Gerechtigkeitsanspruch erheben kann. Primär Geld? Öffentliche Güter? Auf Freundschaft oder Liebe wohl kaum. Bereits aus diesen wenigen Sätzen deuten sich eine Vielzahl von (Kombinations-)Möglichkeiten an.

Ich hoffe, Sie sind ausreichend verwirrt.

Gerechtigkeit als Fairness?

Manche meinen, sie könnten sich die ganzen Fragen ersparen, indem sie besser von „Fairness“ als von „Gerechtigkeit“ sprechen. Rawls beschrieb Gerechtigkeit „als Fairness“ und für manche Kommunikationsstrategen klingt Fairness irgendwie weicher, freundlicher. Bei genauerer Betrachtung landet man dann aber auch mit diesem Begriff doch wieder beim gleichen Klärungsbedarf.

Manchmal soll der Begriff der „Fairness“ eine zurückgenommene Gerechtigkeitsposition betonen, nach der es „nur“ um bestimmte Überlegungen der Verfahrensgerechtigkeit geht, sozusagen um „gerechte Spielregeln“ - und nicht um Kriterien der Gerechtigkeit im Ergebnis. Hier schließt sich die Fragen an, welches Spielfeld gemeint ist. Demokratie? Märkte? Arbeitswelt? Und eine weitere: Ist mit fairen Spielregeln auf dem jeweiligen Feld schon alles gesagt, was sich aus Gerechtigkeitssicht sagen lässt? Und was könnte überhaupt noch eine Gerechtigkeitsposition im Diskurs begründen, wenn die Gerechtigkeit nur in den diskursiven Spielregeln läge? Viele Theoretiker mit rein prozeduralen Ansätzen merken schnell: Gerechtigkeit ist kein „Spiel“ und deshalb mehr als „Fair Play“ – und so packen sie so viele Annahmen in die Spielregeln, bis das Ergebnis passt.

Von der privaten zur institutionellen Moral

Mit Blick auf die politische Praxis ist weiterhin zu beachten, dass der Schritt von einem moralischen Grundsatz hin zu institutionellen, rechtsförmigen Regeln und Prinzipen ein ganz eigener Schritt ist. Als moralische Subjekte können wir im Mikrokosmos unserer Gemeinschaften - Beziehungen, Freundschaften und Familien - Gerechtigkeitsentscheidungen oftmals ganz anders treffen, als in den übergeordneten politischen Räumen der Demokratie und des Rechts. Ein einfaches Beispiel: Wenn wir bei einer Geburtstagsfeier in der Familie zusammen sitzen, können wir sehr individuell gemeinsam entscheiden, wie wir den Kuchen backen und verteilen - nach Geschmacksvorlieben, unserem Hunger oder auch etwaigen Krankheiten wie Diabetes. Moralische Überzeugungen werden hierbei vielleicht eher geteilt, es ist viel Platz für (nervenaufreibende) Diskussionen und am Ende gilt oftmals das Konsensprinzip.

In der gesetzgebenden Demokratie, die Menschen gleich behandeln will und in der deshalb die Gesetze für alle gelten, sind diese moralischen Gerechtigkeitsgrundsätze nicht aufgehoben, aber sie haben sich in einem völlig anderen Kontext zu bewähren und können deshalb zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Wir haben in den Räumen von Demokratie und Rechtsstaat - Gottseidank! - viele Informationen nicht, haben starke Freiheitsrechte in ihrer abwehrrechtlichen Dimension und wissen entsprechend von zahlreichen individuellen Handicaps ebenso wenig wie von zahlreichen individuellen Wünschen und Träumen. Deshalb werden wir im öffentlich-demokratischen Raum unsere Gerechtigkeitsgrundsätze anders übersetzen als im privaten Raum. Wir werden die entscheidenden politischen Fragen zwar in einem möglichst starken öffentlichen Raum verhandeln, aber wir werden die Entscheidung vielfältiger, konkreter Fragen an demokratisch legitimierte repräsentative Räume überantworten und in aller Regel nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden. In den demokratischen Räumen werden übrigens - richtig verstanden - nicht einfach Kientelinteressen ausgehandelt, sondern die unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen. Sonst wäre das Mehrheitsprinzip fatal.

Wir werden in der demokratischen Sphäre, in der die Übersetzung von Moral in Recht gefragt ist, auch dann nach geeigneten Typisierungen und Standards suchen, wo es uns um die gleiche, relative Ermöglichung individueller Lebensentwürfe geht. So verhindern wir eine staatliche Allmacht, die zwar im Namen der Gerechtigkeit agieren würde, aber in der Konsequenz zu extrem ungerechten Ergebnissen käme. Deshalb kann in bestimmten Bereichen auch ein relativer Gerechtigkeitstheoretiker im politischen Raum zu dem Ergebnis starker Standards kommen oder ein Gerechtigkeitstheoretiker mit dem Ideal der gleichen Freiheitsverwirklichungschancen zu dem Ergebnis einer ressourcendefinierten Gleichverteilungsregel.

Ich hoffe, Sie sind noch mehr verwirrt.

Ein paar einfache Ableitungen

Versuchen wir nun den Knoten etwas zu entwirren und setzen einmal - wie der Autor - voraus, dass einer grünen Politik der Gerechtigkeit erstens ein relativer Gerechtigkeitsanspruch zu Grunde liegen sollte, der zweitens im Kern auf die Gleichverteilung von Freiheitsmöglichkeiten - in Sinne von „Teilhabemöglichkeiten“ - zielt, in den drittens durchaus ein Gedanke von tatsächlicher erbrachter Leistung - eine eigene Debatte - einfließt und der viertens um die gerechtigkeitsbegründeten Ausnahmen vom Gleichheitsgrundsatz weiß, wo etwa marktwirtschaftlicher Wettbewerb tatsächlich dem Wohle aller dient.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lassen sich mit Blick auf die grüne Gerechtigkeitsdebatte einige einfache Dinge festhalten. Erstens steht Gerechtigkeit nicht gegen Freiheit, sondern Gerechtigkeit ist eine Antwort darauf, wie wir uns als Freie zueinander verhalten, wie sich die Freiheitssphären zueinander verhalten - deshalb hat Rainer Forst recht, wenn er Gerechtigkeit in diesem Sinn als „den einzigen Grundsatz“ bezeichnet. Zweitens schließt Gerechtigkeit einen politischen Paternalismus aus, der für die Menschen beantwortet, worin ein „gutes Leben“ besteht und was ihnen deshalb zusteht. Politische Gerechtigkeitsentscheidungen sind in aller Regel nicht advokatorisch gegenüber Kleinkindern zu treffen, sondern mit und gegenüber mündigen Bürgerinnen und Bürgern, die jeweils ganz eigene Vorstellungen von einem gelungenen Leben haben. Drittens müssen die Grünen sich in ihrer Funktion als Partei klar machen, das sie als Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Gesetzgebung mit institutionellen Gerechtigkeitsvorschlägen gefragt sind und nicht moralisierender Akteur des vorpolitischen Raumes.

Konturen und Unklarheiten eines grünen Gerechtigkeitsverständnisses

Was aber sind jetzt die konkreten Konturen eines grünen Gerechtigkeitsbegriffs? Worin unterscheidet er sich von den anderen Akteuren? Auch innerhalb des linken Spektrums?

Der im grünen Grundsatzprogramm von 2002 entwickelte Begriff der Erweiterten Gerechtigkeit ist Ausdruck gleich mehrerer Anliegen, die die grüne Lesart von Gerechtigkeit, die grüne Idee vom Sozialen auszeichnen. Erstens ist Gerechtigkeit für die Grünen der zentrale Grundsatz, der in alle Politikbereiche ausstrahlt. Zweitens wird Gerechtigkeit in einen engen Zusammenhang mit Freiheit gesetzt, nämlich als Maßstab gleicher Verwirklichungsspielräume von Freiheit, kurz: als gleiche Freiheit. Drittens bestimmt sich der grüne Gerechtigkeitsanspruch inhaltlich  insbesondere an einer Verbesserung der Situation der Schwächsten und Schwächeren. Viertens wird das Ziel der gerechten Verteilung verbunden mit dem Ziel der gerechten Teilhabe im Sinne eines Zugang zu den elementaren Gütern eines selbstbestimmten Lebens. Viertens und fünftens wird der Gerechtigkeitsbegriff mit den Ansprüchen der Generationengerechtigkeit und der Internationalen Gerechtigkeit in zeitlicher und räumlicher Hinsicht erweitert - ökologische Politik lässt sich so aus einem  Gerechtigkeitsanliegen entwickeln und plausibel machen. Und sechstens wird mit dem Geschlecht ein entscheidender Grund sozialer Ungleichbehandlung benannt. Damit sind entscheidende Punkte aufgerufen, die über den traditionellen Begriff einer „sozialen Gerechtigkeit“ hinausragen. Diese Differenzierungen führen darauf, dass es sich bei dem grünen Gerechtigkeitsbegriff um einen „erweiterten Gerechtigkeitsbegriff“ (Axel Honneth) handelt.

So richtig die Komplexitätsanforderung an einen belastbaren Gerechtigkeitsbegriff ist, so offenkundig ist der Klärungsbedarf im Weiteren. Dabei besteht Diskussionsbedarf insbesondere an drei Stellen: Erstens bleibt der grüne Gerechtigkeitsbegriff noch die Antwort schuldig, welchem inhaltlichen Maßstab er im Kern eigentlich folgt. Die genannten Erweiterungen präzisieren eher Radius, Subjekte und Güter, weniger aber den Verteilungsmodus selbst. Zweitens ist zu fragen, wie sich die verschiedenen Gerechtigkeitsdimensionen zu diesem inhaltliche Zentrum eigentlich verhalten und in welcher Wechselbeziehung sie untereinander stehen. Drittens ist zu fragen, welche strategischen Schlussfolgerungen aus all dem zu ziehen sind und welche konkreten Konzepte und Begrifflichkeiten sich daraus ableiten.

Teilhabe und Verteilung

Wenden wir uns zunächst nochmals kurz dem Gerechtigkeitsmaßstab selbst zu: Ein freiheitsbezogener Gleichheitsgedanke muss jene Güter ins Auge nehmen, mit denen sich die Möglichkeit ein selbstbestimmtes Leben zu führen entscheidet. Darüber kann man lange diskutieren: Am Ende bezieht sich die Gleichheit aus normativer Sicht auf die gleichen tatsächlichen Möglichkeiten, nicht etwa auf die gleiche Quantität der Ressourcen.

Der Begriff der „Teilhabegerechtigkeit“ lässt sich als Versuch verstehen, den Anspruch aller auf einen gerechten Zugang zu den entscheidenden Gütern der Freiheitskonstitution und Freiheitsverwirklichung wie öffentliche Güter deutlich zu machen. Eine Gerechtigkeitsposition, die nur auf die individuelle monetäre Relation schauen würde, greift aus dieser Perspektive zu kurz. Das regulative Ideal gleicher Teilhabe ist danach ein Kompass für die Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Umgekehrt bliebe allerdings Teilhabegerechtigkeit ohne den Anspruch gerechter Verteilung von öffentlichen Gütern und ihrer finanziellen Basis ein leeres Versprechen. Teilhabegerechtigkeit steht also nicht gegen Verteilungsgerechtigkeit, sondern gibt Letzterer eine Richtung, eine Orientierung.
Verteilungsgerechtigkeit meint aus dieser Perspektive nicht nur die Primärverteilung und die Umverteilung von Geld an einzelne Personen, sondern auch die Verteilung der Zugänge zu anderen, fundamentalen Gütern, wie etwa Bildung oder Gesundheit. Insofern ist es aus Gerechtigkeitssicht zu kurz gesprungen und irreführend, Verteilungsgerechtigkeit auf die monetäre Frage von Individualtransfers, Einkommen und Vermögen eng zu führen.

Institution Matters!

Die strategische Konsequenz aus dieser Gerechtigkeitsperspektive muss vielmehr in einer politischen Priorität zugunsten einer Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Institutionen und Infrastrukturen liegen, über die entscheidende öffentliche Güter in einem kooperativen gesellschaftlichen Akt produziert und zugänglich gemacht werden. Hierin liegt die tiefe gerechtigkeitspolitische Bedeutung der Parole „Institution Matters!“.

Gesellschaftliche Solidarität zeigt sich vor allem im Umgang mit den Institutionen, auf die die Menschen angewiesen sind, um an öffentlichen Gütern teilzuhaben. Öffentliche Institutionen sind wichtig. Aus diesem Plädoyer für öffentliche, allgemein zugängliche Institutionen folgt nicht zwingend eine rein hoheitliche Handlungsform, da die Trägerschaft unter Umständen auch bei Privaten liegen kann. Es erfordert jedoch in jedem Fall die staatliche Gewährleistung dieser Institutionen, ihrer Qualität, entsprechender Zugangsrechte, wie auch ihrer finanziellen Absicherung und entsprechender institutioneller Transfers. Gerade in dieser Hinsicht ist das skandinavische Modell mit seinem Arrangement von öffentlichem Dienstleistungssektor und Steuerpolitik nach wie vor hochinteressant. So sind qualitative Dienstleistungen in Bereichen wie Bildung oder Gesundheit für alle zugänglich und nicht nur für die, die es sich leisten können.
Die Bedeutung einer Erneuerung und Stärkung unserer öffentlichen Institutionen und Infrastrukturen wird gerade beim Blick auf die große Unterstützungs- und Integrationsaufgabe deutlich, vor der unsere Gesellschaft als Einwanderungsgesellschaft gerade steht.

Haushaltspolitische Ableitung: Ausgabenklarheit und Einnahmensolidarität

Dies hat wiederum Konsequenzen für eine haushalts- und finanzpolitische Strategie der materiellen Umverteilung: Eine solche Politik der gerechten Umverteilung ist zum einen - auf der Einnahmenseite - nur möglich, wenn sich ein solidarisches Steuersystem mit einer erwirtschafteten Umverteilungsmasse verbindet. Der Zusammenhang von Gerechtigkeit und ökonomischer Produktivität ist dabei ein eigenes Kapitel. Eine Politik der gerechten Umverteilung erfordert jedoch zum anderen - auf der Ausgabenseite - eine klare Priorität zu Gunsten teilhabeorientierter Institutionen und Infrastrukturen. Ein konturierter grüner Gerechtigkeitsbegriff kann nicht ohne strategische Konsequenzen in der Haushaltspolitik bleiben. Umverteilung zielt hier also prioritär auf institutionelle Transfers, ohne die Notwendigkeit individueller Transfers zur Grundsicherung außer Acht zu lassen. Ein symbolischer Vorschlag zur Verdeutlichung dieses Anliegens liegt etwa darin, für jeden zusätzlichen Euro für Individualtransfers zwei zusätzliche Euro in öffentliche Infrastruktur investieren, die die Teilhabe aller an den zentralen öffentlichen Gütern ermöglicht.

Ein Pointe dieser finanzpolitischen Übersetzung von Teilhabegerechtigkeit: Für eine deutliche Erhöhung der Mittel auf der Einnahmenseite lässt sich nur dann gesellschaftliche Akzeptanz herstellen, wenn die Zwecke auf der korrespondierenden Ausgabenseite eine hohe Plausibilität haben. Nur über eine klare und nachvollziehbare Darlegung, wohin das Geld mit welcher Intention und welchen Effekten fließt, kann es gelingen die Bürgerinnen und Bürger für eine Politik der Umverteilung zu gewinnen. Gute öffentliche Institutionen und Infrastrukturen, in denen Teilhabe ermöglicht wird und in denen die Bürgerinnen und Bürger zusammen finden, erhöhen die Motivation deutlich einen entsprechenden Solidarbeitrag zu erbringen.

Dies wiederum verweist auf ein ernst zu nehmendes Problem in Form eines Zirkels: Solange öffentliche Institutionen marode sind und das Vertrauen in sie abnimmt, ist auch die Motivation gering in diese Institutionen zu investieren. Ohne solche Investitionen ist aber eine deutliche Qualitätsverbesserung nicht oder kaum möglich. Deshalb folgt die Strategie starker öffentlicher Institutionen nicht der Vorstellung, man müsse den Schalter einfach nur umlegen. Es geht vielmehr um eine Reformperspektive, die auf der Zeitachse realistische Schritte einer Qualitätsverbesserung beschreibt, die mit kompetenten Konzepten hinterlegt sind und die in der Gesellschaft zu Diskussion gestellt werden. So entsteht langsam Vertrauen in erneuerte Institutionen – und in deren monetäre Unterstützung über Steuern und Abgaben.

Oft wird eine Abgabe an den Staat wie die Zahlung in ein schwarzes Loch wahrgenommen. Aus Gerechtigkeitsperspektive ist eine stärkere Transparenz staatlicher Zahlungen dringend notwendig. Ebenfalls eine offene Bilanzierung des aktuellen Wertes unserer Infrastrukturen inklusive Abschreibungen. Verwendungszwecke müssen mit Blick auf eine Aufwertung öffentlicher Institutionen klar benannt werden. Die Menschen sind etwa bereit einen „Bildungssoli“ zu entrichten, wenn klar ist, dass das Geld in einen flächendeckenden Ausbau qualitativ hochwertiger Ganztagsschulen fließt, anstatt irgendwo zu versickern. Die notwendige Akzeptanz für materielle Verteilungspolitik kann nur dann erlangt werden, wenn die Gegenleistung gerade in Form guter öffentlicher Infrastruktur offensichtlich wird.

Eine gerechtigkeitsorientierte Strategie der Stärkung der öffentlichen Institutionen bedeutet jedoch nicht einfach eine Stärkung des institutionellen Status quo. „Institution Matters!“ ist vielmehr als Aufforderung zu begreifen mit konzeptionellem Ehrgeiz und Fantasie an die Frage zu gehen, wie wir die bestehenden Institutionen weiterentwickeln und verändern müssen, damit sie ihre öffentliche Funktion überhaupt erfüllen können. Eine neue Institutionenpolitik zielt auf eine Transformation der Institutionen, wenn auch in Anerkennung der Zeit, die demokratische Reformen benötigen und des gewachsenen institutionellen Erfahrungsschatzes. Bei der Transformation der Institutionen sind Qualität, Strukturen und Finanzierung zusammen zu denken: Ziele sind eine hohe Qualität der hergestellten Güter, Strukturen, die zugänglich, partizipativ und effizient gestaltet sind, sowie eine fokussierte und möglichst breit getragene Finanzierungsstrategie.

Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit

Betrachten wir abschließend kurz einen Aspekt des grünen Gerechtigkeitsbegriffs, der ebenfalls einen hohen Klärungsbedarf nach sich zieht: seine Erweiterung auf der Zeitachse. Begriffe wie „Generationengerechtigkeit“, „intergenerationelle Gerechtigkeit“ oder eben auch „Nachhaltigkeit“ stehen dafür, dass sich der Radius von Gerechtigkeit nicht nur auf die Jetztzeit bezieht, sondern dass er auch zukünftige Interessen und zukünftige Freiheitsspielräume zu berücksichtigen hat.

Über diese Zeitdimension kommt dann auch stark das ökologische Feld ins Spiel, denn gerade hier geht es stark um Konsequenzen für zukünftige Lebenslagen. Klar ist, dass über den erweiterten grünen Gerechtigkeitsbegriff die natürliche Umwelt zu den Verteilungsgütern zählt, auf die es für ein selbstbestimmtes, gleichberechtigtes Leben ankommt.

Die Dimension der Generationengerechtigkeit ist vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen alles andere als trivial. Nimmt man das bisher Gesagte zum Kern eines grünen Gerechtigkeitsbegriffs ernst, so ergeben sich auch hier anspruchsvolle Fragen - spätestens dann, wenn wir nicht über einen gerechten Ausgleich von Interessen aus unterschiedlichen Generationen von den Menschen in der Jetztzeit sprechen, sondern über die Interessen zukünftiger Menschen. Was heißt es, hier Gerechtigkeit anzuwenden, wenn wir noch gar nicht wissen, welche Lebenskonzepte und Wünsche die Zukünftigen verfolgen wollen? Welche politischen Entscheidungen sie treffen werden? Was heißt Generationengerechtigkeit, wenn wir ebenfalls in einem zeitlichen Fernhorizont noch gar nicht wissen, wie sich die Welt entwickelt haben wird, welche Innovationen und auch Rückschläge es geben wird? Und noch fundamentaler: In wie weit gibt es eine politische Verantwortung heute, damit es in Zukunft menschliches Leben gibt?

Ein bisschen Verwirrung am Ende muss wieder erlaubt sein.

Ein letzter kurzer Versuch der Entwirrung: Einer Politik der Generationengerechtigkeit muss mit Blick auf die Verantwortung für junge und zukünftige Generationen jederzeit klar sein, dass es sich dabei um einen offenen, dynamischen Maßstab handeln muss. Wir können die sozialen und ökonomischen, kulturellen und technologischen Innovationen der Zukunft nicht vorweg nehmen. Die Welt ist nicht statisch und die Zukunft Gottseidank offen. Gerade weil wir Gerechtigkeit für junge und zukünftige Generationen wollen, können wir heute weder vorhersagen, welche Leben in diesen Generationen gelebt werden wollen, noch welche demokratischen Entscheidungen zukünftig getroffen werden. Generationengerechtigkeit muss sich auf grundlegende zukünftige Möglichkeiten und Fähigkeiten beziehen, muss Entscheidungsmöglichkeiten auch für die Zukunft offen halten - und darf nie so tun, also wüsste man heute schon, wie folgende Generationen leben wollen. Das ist gerade für einen grünen Begriff von Generationengerechtigkeit wichtig, damit er nicht vage und beliebig für irgendein paternalistischen Anliegen herhalten kann.

Das ändert aber nichts daran, dass uns Generationengerechtigkeit und nachhaltiges Denken dazu auffordert, jungen und zukünftigen Generationen nach bestem Wissen und Gewissen die Möglichkeiten offen zu halten, die wir heute auch für uns einfordern – und den Raum der Freiheit für alle vielleicht noch zu erweitern. Generationengerechtigkeit heißt in diesem Sinn allemal, dass Leben morgen überhaupt möglich ist und dass die Freiheitskonstitution und Entfaltungsmöglichkeiten zukünftiger Individuen (soweit sie absehbar sind) nicht unter die Räder kommen.

Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind in diesem Sinn auch der Aufruf, nach einer Phase der Zukunftsangst und Zukunftsskepsis, einen neuen reflexiven Fortschrittsgedanken zu fassen. Kein ökologisch blinder und risikoblinder Fortschrittsgedanke, aber sehr wohl einer, der davon ausgeht, dass wir die Möglichkeit zu einem besseren Weg haben – und uns nicht nur vor der konservativen Angst vor der Verschlechterung treiben lassen müssen.

Generationengerechtigkeit ist schließlich untrennbar mit einer demokratischen Antwort verbunden. Es ist unsere Aufgabe, Generationengerechtigkeit in unserer Demokratie zu verhandeln und zu erstreiten, anstatt sie aus dem demokratischen Prozess herauszunehmen oder ihr vorzulagern. Demokratie ist aus Gerechtigkeitsperspektive kein klientelistischer Wettkampf, sondern eine Auseinandersetzung um unterschiedliche Interpretationen von Gerechtigkeit. Deshalb gilt für die Generationengerechtigkeit wie für andere moralische Ansprüche die wir in der Demokratie erheben: Wir dürfen die demokratische Auseinandersetzung nicht meiden. Generationengerechtigkeit stellt sich in ihr her, nicht neben ihr. Und nur in dieser Auseinandersetzung wird Generationengerechtigkeit die öffentliche Aufmerksamkeit bekommen, die ihr zusteht.