Mehr Verantwortung wagen: Die EU und die Konfliktzonen der internationalen Politik

17. Außenpolitische Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung

Die südliche und die östliche Nachbarschaft Europas sind Zonen der Instabilität, gegen die wir uns nicht abschotten können: Europa muss zu einer neuen Balance zwischen außenpolitischem Idealismus und Realismus finden. Die Eröffnungsrede zur 17. Außenpolitischen Jahrestagung.

Dies ist die 17. Außenpolitische Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung – das ist schon eine stolze Tradition. In diesen Jahren ist die Welt komplizierter, unübersichtlicher, krisenhafter geworden. Zugleich verschwimmen die Trennlinien zwischen Außen- und Innenpolitik immer mehr. Die jüngste Massenzuflucht nach Europa hat uns das noch einmal vor Augen geführt: Was in Afrika, im Vorderen Orient oder in Osteuropa geschieht, schlägt unmittelbar auf die gesellschaftliche und politische Situation im eigenen Land durch.

Das Motto dieser Tagung lautet „Europa in einer friedlosen Welt“. Der Titel klingt fast so, als sei unser Kontinent eine Insel der Stabilität in stürmischer See. Das wäre allerdings ein arges Missverständnis. Längst haben die globalen Verwerfungen auch Europa eingeholt. In der Europäischen Union zeigen sich tiefe Risse im Gebälk.

Was vor Kurzem noch undenkbar schien, ist heute nicht mehr ausgeschlossen: ein Prozess fortgesetzter Desintegration aufgrund starker nationaler Fliehkräfte, ökonomischer Diskrepanzen und antidemokratischer Bewegungen. Beobachter aus anderen Weltgegenden schauen heute auf die EU als ein Projekt am Rande des Scheiterns, die meisten mit Besorgnis, andere mit Genugtuung.

Wer hätte noch vor ein paar Jahren vorausgesagt, dass wir heute mit Bangen dem britischen Referendum über den Bruch mit der EU entgegensehen; dass Österreich nur knapp an einem stramm rechtsnationalen Präsidenten vorbeigeschrammt ist, in Frankreich Marine Le Pen an die Tür des Präsidentenpalasts klopft, in Polen und Ungarn strikt antiliberale Regierungen an der Macht sind; dass die deutliche Mehrheit der europäischen Regierungen auf harte Abwehr von Flüchtlingen setzt und in Deutschland wieder Flüchtlingsheime angegriffen werden?

Diese Krisensymptome sind teils hausgemacht, teils reflektieren sie Veränderungen in unserem internationalen Umfeld. Werfen wir also einen Blick auf die geopolitische Lage.

Globale Herausforderungen

Es ist kaum fünfzehn Jahre her, da flogen die Deutschen ohne Angst in die Feriengebiete am südlichen Mittelmeer: Tauchen in Ägypten, archäologische Touren nach Palmyra, Cluburlaub in der Türkei oder Tunesien. Mit dieser Unbeschwertheit ist es vorerst vorbei. Der Nahe Osten wird heute mit Radikalisierung, Krieg und Terror identifiziert. Das ist ebenso ein Zerrbild wie die damalige vermeintliche Stabilität, die sich den autoritären Regimes vom Schlage Mubaraks verdankte. Und doch ist mehr als ein Korn Wahrheit an dieser Wahrnehmung.

Die EU steht vor den Trümmern ihrer Nachbarschaftspolitik. Statt von einem Ring stabiler, mehr oder weniger demokratischer Staaten umgeben zu sein, sieht sich Europa einem Krisenbogen gegenüber, der von der Ukraine über die Türkei bis nach Syrien, Libanon, Ägypten, Libyen, Tunesien und Algerien reicht.

Die Folgen bekommt Europa bisher vor allem in Gestalt hunderttausender Flüchtlinge und den Anschlägen radikaler Islamisten zu spüren. Gut vorbereitet waren wir weder auf das eine noch auf das andere, obwohl die Zeichen an der Wand schon lange zu lesen waren.

Auch die europäische Friedensordnung bröckelt. Die russische Annexion der Krim und die verdeckte Intervention in der Ukraine waren ein Schlag ins Kontor. Simulierte atomare Angriffe und andere militärische Drohgebärden des Kreml haben die NATO auf den Plan gerufen. Eine neue Spirale von Aufrüstung und militärischer Muskelspiele droht.

In Syrien wie in Osteuropa tritt Russland als interventionistische Großmacht auf. In beiden Fällen ist Moskau zugleich Kontrahent und Verhandlungspartner des Westens in den Bemühungen, die Lage auf diplomatischem Wege zu stabilisieren. Diese Ambivalenz von begrenztem Konflikt und begrenzter Kooperation wird voraussichtlich auch in den kommenden Jahren unser Verhältnis zu Russland prägen.

Der Wunsch, zu einer weitgehend konfliktfreien „strategischen Partnerschaft“ mit Russland zurückkehren, ist verständlich, verkennt aber die Lage. Die kurze Phase russischer Politik, als eine Integration oder zumindest eine weitgehende Annäherung an den Westen möglich schien, ist vorbei. Das gilt für die Innen- wie die Außenpolitik. Heute ist Russland eine autoritäre Macht nach innen und eine revisionistische Macht nach außen, das Zentrum einer antiliberalen Internationale und ein geopolitischer Gegenspieler zu den USA, der seine wirtschaftliche Schwäche durch militärische Macht zu kompensieren versucht.

Umgekehrt wäre es falsch und gefährlich, jede Zusammenarbeit mit Russland abzuschreiben. Ein neuer kalter Krieg ist nicht angesagt. Wir sollten uns vielmehr von der Devise leiten lassen: So viel Kooperation wie möglich, so viel Konfliktbereitschaft wie nötig. Eindämmung und Abschreckung gehören ebenso zum Arsenal westlicher Russlandpolitik wie Zusammenarbeit und Interessenausgleich.

Eins aber muss klar sein: Deutschland kann und darf den Ausgleich mit Russland nicht auf Kosten der mittel-osteuropäischen „Zwischenstaaten“ suchen. Die Ukraine, die baltischen Staaten, Georgien und Polen sind keine Bauern auf dem Schachbrett der Großmächte. Die Aufteilung Europas in rivalisierende Einflusszonen ist hoffentlich ein für allemal vorbei.
 
Noch kaum im europäischen Bewusstsein angekommen ist der weltpolitisch vielleicht gefährlichste Konflikt, der sich gegenwärtig in Ostasien aufbaut. Angefacht wird er von den widerstreitenden territorialen Ansprüche Chinas und anderer Anrainer des südchinesischen Meeres, bei denen es um Rohstoffvorkommen und die Kontrolle von Handelswegen geht. Im Hintergrund geht es um das künftige Kräfteverhältnis zwischen den USA und China. Die Schwerpunktverlagerung der amerikanischen Außenpolitik auf Asien will den Ambitionen Chinas Grenzen setzen und die eigenen Interessen im pazifischen Raum verteidigen.

Die europäischen Staaten sind nolens, volens in diesen Konflikt involviert. Europa hat ein starkes Eigeninteresse, die Gefahr einer militärischen Konfrontation in Ostasien einzudämmen, kooperative Strukturen zu fördern sowie Handelswege offen zu halten. Das erfordert eine pro-aktive europäische Asienpolitik, von der wir allerdings noch weit entfernt sind.

Damit ist auch schon das Generalthema unserer Außenpolitischen Jahrestagung angesprochen: wie soll, wie kann eine neue internationale Ordnung aussehen, die auf Völkerrecht und Kooperation beruht? Ist Europa bereit und in der Lage, eine aktive Rolle in der Welt zu spielen und als Ordnungsfaktor in unserer östlichen und südlichen Nachbarschaft aufzutreten? Amerika wird uns jedenfalls diese Rolle nicht länger abnehmen.

Die Frage stellt sich in aller Schärfe am Beispiel Syrien. Unwillig, dort einzugreifen, schaut Europa der syrischen Katastrophe zu – falls wir es nicht vorziehen, ganz wegzuschauen. Auch die millionenfache Flucht aus diesem geschundenen Land wurde nicht als Weckruf für eine aktive Syrienpolitik verstanden. Die bisherigen diplomatischen Bemühungen waren wenig mehr als ein Rauchvorhang, hinter dem die täglichen Massaker an der Zivilbevölkerung weitergehen.

Dabei hat – außer der syrischen Zivilbevölkerung – wohl niemand mehr Interesse an einer Befriedung Syriens als Europa. Washington sieht seine nationalen Interessen vom Syrien-Krieg nicht berührt; Moskau ist nur am Erhalt des Assad-Regimes interessiert. Der Iran, Saudi-Arabien und die Türkei verfolgen ihre eigenen regionalen Machtinteressen. Woran es fehlt, ist die Bereitschaft der EU, ihr Potential in die Waagschale zu werfen, um einen dauerhaften Waffenstillstand herbeizuführen und eine politische Lösung durchzusetzen. Eine solche Initiative ist mit dem russischen Eingreifen komplizierter geworden – aber weiteres Abwarten wird die Dinge nicht einfacher machen.

Die globale Ordnung, die sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende des Kalten Krieges herausgebildet hat, ist im Umbruch. Sie wird von wiedererstarkten Mächten wie China, Russland und dem Iran genauso herausgefordert wie durch nicht-staatliche Akteure wie dem „Islamischen Staat“. Die Geopolitik ist zurück auf der Weltbühne.
 
Für uns beinhaltet diese Diagnose ein paar unbequeme Botschaften. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Machtpolitik nicht zugunsten der Herrschaft des Völkerrechts verschwunden ist. Nicht alle Konflikte lassen sich durch Geld und gute Worte regeln.

Das heißt ganz und gar nicht, dass wir uns von einer normativen, wertorientierten Außenpolitik verabschieden sollten. Europa muss aber zu einer neuen Balance zwischen außenpolitischem Idealismus und Realismus finden. Wir sollten für unsere Interessen eintreten, ohne unsere Werte zu verraten.

Zu den unschönen Einsichten gehört auch: Die Schönwetterperiode ist vorbei, in der die Bundesrepublik Jahr für Jahr die Dividende sinkender Verteidigungsausgaben einstreichen konnte. Sicherheit hat auch eine militärische Komponente, und ohne die Fähigkeit, Völkerrecht notfalls auch durchzusetzen, wird es zum zahnlosen Tiger.

Zugleich ist klar, dass es auch in der internationalen Politik einen engen Zusammenhang zwischen Sicherheit und Gerechtigkeit gibt. In einer Welt, die durch krasse Ungleichheit gekennzeichnet ist, in der sich Gewinner und Verlierer der Globalisierung gegenüberstehen und Milliarden von Menschen keine Hoffnung auf Besserung ihrer Lage hegen, gibt es keine dauerhafte Stabilität und Sicherheit.

Der klassische Begriff der Staatensicherheit muss deshalb um die Kategorie der „menschlichen Sicherheit“ erweitert werden. Sicherheitspolitik bekommt immer stärker eine soziale und ökologische Dimension. Das gilt erst recht in Zeiten des Klimawandels. Gewalt gedeiht in einer Atmosphäre der Unsicherheit, Angst und Bedrohung. Wir müssen deshalb alles daran setzen, eine Atmosphäre des Vertrauens, der Kooperation und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu schaffen.

Europäische Antworten

Die südliche und die östliche Nachbarschaft Europas sind Zonen der Instabilität, gegen die wir uns nicht abschotten können. Europa hat die Wahl, entweder als Ordnungsmacht aktiv zu werden oder selbst destabilisiert zu werden. Ich sage bewusst „Europa“, weil kein europäischer Staat diese Aufgaben auf sich gestellt meistern kann. Wir brauchen mehr außenpolitische Kooperation und Koordination in Europa, wenn wir eine aktive Gestaltungsrolle spielen wollen.

Von Deutschland wird eine aktivere Rolle in großen außenpolitischen Problemfeldern gefordert – nicht im Alleingang, sondern im Konzert mit anderen. Die breite Öffentlichkeit sieht das mit Skepsis. Bündnisverpflichtungen sind unpopulär, wie man aktuell an der Debatte um eine verstärkte Präsenz der NATO in Osteuropa sehen kann. Sie sind aber der Preis für unsere eigene Sicherheit, die nur im Bündnis mit anderen Staaten gewahrt werden kann.

Noch nicht abzusehen ist, wie der Ausgang der Präsidentschaftswahlen in den USA sein wird. So oder so wird er weitreichende Auswirkungen auf Amerikas Rolle in der Welt haben. Je nachdem, wie das Referendum in Großbritannien und die Entscheidung zwischen Hillary Clinton und Donald Trump ausfallen, werden wir möglicherweise in eine Periode der Schadensbegrenzung schlittern, in der es vor allem darauf ankommt, den doppelten Super-Gau zu verhindern: das Auseinanderbrechen der Europäischen Union und der transatlantischen Allianz.

Beides zusammengenommen käme einem kollektiven Selbstmord des Westens gleich. Gerade in einer Zeit weltpolitischer Turbulenzen, in der die liberale Demokratie von innen und außen herausgefordert wird, brauchen wir das Bündnis der Demokratien mehr denn je: nicht als Festung gegen den Rest der Welt, sondern als Kern einer weltweiten Allianz für die Prinzipien, die in der Charta der Vereinten Nationen und der Deklaration der Menschenrechte verankert sind.

Wir mögen die globalen Konflikte ignorieren wollen, aber sie ignorieren uns nicht. In einer durch Handel, Internet und Migration eng miteinander verwobenen Welt ist eine „Ohne-uns“-Haltung keine realistische Perspektive. Um es mit einem Zitat von Heinrich Böll zu sagen: „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben.“

Funktion der Außenpolitischen Jahrestagung

Über all diese Fragen kann man trefflich streiten. Wir sind weit davon entfernt, mit definitiven Wahrheiten über eine Außenpolitik auf der Höhe der Zeit aufzuwarten. Eins aber ist gewiss: Wir müssen wieder verstärkt über Außenpolitik reden, und zwar in aller Öffentlichkeit.

Außen- und Sicherheitspolitik ist längst keine unangefochtene Domäne politischer Eliten mehr. Sie muss sich im Licht der Öffentlichkeit legitimieren und um Zustimmung werben. Andernfalls wird die Vertrauenskrise zwischen beträchtlichen Teilen der Bevölkerung und der politischen Klasse die außenpolitische Handlungsfähigkeit Europas stark einschränken.

Die Außenpolitische Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung soll ein solcher Ort sein, der den Austausch zwischen Expertinnen und Experten mit einer breiteren öffentlichen Debatte verbindet. Besonders wichtig ist uns der internationale Charakter dieser Debatte: wir wollen kein Selbstgespräch führen, sondern Fenster und Türen öffnen für Stimmen und Perspektiven aus anderen Ländern und Kontinenten.

Im Vorfeld dieser Konferenz haben wir bereits einen Band mit diversen Beiträgen zu dieser Debatte veröffentlicht, den ich wärmstens ihrer Aufmerksamkeit empfehlen möchte.

 

Videomitschnitte der 17. Außenpolitischen Jahrestagung:
"Europa in einer friedlosen Welt" am 16. Juni 2016