Die Zeit von Ayotzinapa

Zur Eröffnung der Ausstellung "Spuren der Erinnerung" im Juli 2017, las Carlos Beristain einen Auszug aus seinem Buch "El tiempo de Ayotzinapa". Das Drama der Angehörigen, Aufklärung, Anklage und die Wahrheit über das gewaltsame Verschwindenlassen in Mexiko sind sein Thema.

Carlos Beristain (re)
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4. Juli 2017, Carlos Beristain auf der Ausstellungseröffnung "Spuren der Erinnerung - Ausstellung zum gewaltsamen Verschwindenlassen in Mexiko"

Die Zeit von Ayotzinapa
Carlos Martín Beristain

Auszug aus dem Buch „El tiempo de Ayotzinapa“. Auf Spanisch erschienen bei Ediciones Akal, Madrid.

Rekonstruktion der Geschichte

Um die Verschwundenen zu suchen, muss man zurückgehen. Die verlorenen Spuren erkunden. Die Welt der Suchen ist voller Wege, die nirgendwohin führen. Ich bin ein Landkarten-Besessener. Ein wenig Ordnung in die Informationen und ins Chaos bringen. Die Darstellung sucht nach dem Sinn. Wir lesen alles. Es gibt überholte Quellen, deren Wahrheiten ihr Laub abgeworfen haben. So viel ist mit Gewissheitsanspruch geschrieben worden. Wenn du anfängst, Ordnung hineinzubringen, kommen andere, unsichtbare Dinge zum Vorschein. Ich beginne mein Schema auf einer kleinen Ecke des Blattes, damit es wachsen kann. Und ich schreibe mit Bleistift, denn es gibt genauso viel zu schreiben wie auszuradieren. Orte. Episoden. Zeiten. Rekonstruktion einer Geschichte aus Teilen, die nie zusammenpassen. Wie diese Puzzles oder Geduldsspiele, in denen scheinbar alles passt, wenn du die Teile mit ein wenig Druck zusammenfügst, aber dann bleibt eines übrig, und alles gerät aus den Fugen. So sieht es auch mit der sogenannten „historischen Wahrheit“ aus.

Mexiko und gewaltsames Verschwindenlassen

Die Darstellung der Wirklichkeit ist ein Feld, auf dem es um alles oder fast alles geht, doch ist es leicht, dabei die Orientierung zu verlieren. In Mexiko haben uns so viele Leute von einem Staat erzählt, der für seine Fähigkeit bekannt ist, die Menschen zu vertreten, und das, was er darstellt, durch etwas zu ersetzen, was er nicht ist, ohne dass es so aussieht, und umgekehrt. Ein Teil unserer Arbeit wird darin bestehen müssen, beide Seiten einander anzunähern, damit die Realität durch den Spiegel nicht verzerrt wird. In so vielen Ländern besetzen die Medien den Raum zwischen beiden Polen; sie halten die Spannung oder nähern sich der einen oder anderen Seite an. Bei unserem Auftrag geht es um technische Hilfe. Dies bedeutet, an der Seite der Institutionen tätig zu sein, sie in ihrer Arbeit auf eine Realität hinzulenken und in die Tiefe des Verborgenen vordringen zu lassen. Es geht aber auch um die Aufklärung der Gesellschaft.

Gewaltsames Verschwindenlassen ist eine Verwirrungsstrategie. Sie verschleiert nicht nur das Schicksal der Verhafteten, sondern den Tatbestand als solchen. Die Wahrheit wird zu einem Gelände, das so umkämpft ist wie kein anderes. Dabei handelt es sich jedoch um ein sumpfiges Terrain bzw. um eine Art Treibsand. Die Schlagzeilen in der Presse definieren, um was es geht, wenn auch nur flüchtig. Danach muss man zurückgehen, und dies ist der schwierigste Weg. Entscheidungen müssen getroffen und neue Konzepte erdacht werden. Auf dieser Versammlung fragt Rafael, was es denn damit auf sich habe, den Raum zu schützen. Während ich es ihm erkläre, nehme ich meine Hände zu Hilfe und male in die Luft, so dass der Schirm schützend über dem Handeln steht. Wir müssen das Land ebenso aufklären wie die Angehörigen. Bei den Opfern klafft eine offene Wunde, eine weitere in diesem durch das Verbrechen verletzten Land, und diese Wunde ist ein Angriff auf unseren Sinn für ein gemeinsames Menschsein.

Die Suche nach einem verschwundenen Kind

Niemand kann ermessen, was das bedeutet.
Die Ungewissheit des Verschwindens ist unerträglich und so dringend. Schlaflosigkeit zieht sich meist durch lange Nächte, und dir geht immer wieder dasselbe durch den Kopf: Was wird er gerade tun? Was ist mit ihm geschehen? Wo ist er wohl jetzt? Wird er leiden? Ist er am Leben? Ist er tot? … Dieser innere Dialog, bei dem sich die Gedanken immer wieder im Kreis drehen, ist durch nichts zu stoppen. Er setzt sich in den Träumen fort, in denen der Verschwundene auftaucht oder du etwas Verlorenes suchst, das du niemals wiederfindest.

In den schlaflosen Nächten sprechen die Eltern von ihrem Kind, machen sich Mut, halten sich aneinander fest. Wenn sie aufstehen, ist die Dringlichkeit immer noch da. Es ist beklemmend, nicht zu wissen, was man tun oder wohin man sich wenden soll. Während die Familien diese Qualen leiden, hat die übrige Welt keine Eile.

Unzählige Male habe ich auf Versammlungen mit Staatsvertretern von Angehörigen den Satz gehört: „Stellen Sie sich doch einmal vor, es wäre Ihr Kind!“ Vielleicht ist damit alles gesagt. Es geht um die Fähigkeit zur Empathie, die sich nicht darauf beschränkt, den Menschen auf die Schulter zu klopfen oder einfach nur „tut mir leid“ zu sagen und dann zu etwas anderem überzugehen, zu einer anderen Geschichte oder einer anderen Arbeit. Währenddessen fragt sich die Familie, wie es weitergehen soll, wo Manuel, José und Alberto sind. Und irgendjemand muss versuchen, Mut zu machen, auch wenn er selbst keinen hat.

Das widerspenstige Telefon (oder davon, welchen Beitrag die Familien zu den Nachforschungen leisten)

Alejandro und ich kehren zur Hochschule zurück. Für heute ist eine dieser Versammlungen geplant, auf der zwei sonst stets getrennt erscheinende Seiten aufeinandertreffen: die Angehörigen und die Ermittler. Wir haben darauf bestanden, dass die Papas und Mamas, wie Mario sie nennt, in möglichst großer Zahl dabei sein sollen, denn wir möchten über die Handys sprechen. Die Kommunikationskanäle ihrer Kinder bzw. zu ihnen könnten für uns Spuren ergeben.

An diesem Morgen erwartet uns wieder einmal mühsame Kleinarbeit: Wir haben eine Liste mit Familien und Telefonnummern, die wir auf ihre Richtigkeit überprüfen müssen. Schritt für Schritt korrigieren wir die Fehler, denn wegen einer falsch verstandenen Nummer oder irgendeines ungeklärten Missverständnisses gehen Ergebnisse verloren. Der Reihe nach gehen wir Namen und Nummern durch. Wir fügen neue hinzu und nehmen Korrekturen vor. Ebenso suchen wir nach Detailinformationen; danach, ob jemand in jener Nacht mit seinem Kind gesprochen hat, ob es noch irgendeine Verbindung gab, insbesondere nach 22.40 Uhr. Wir wissen, dass die Studenten genau zu dieser Zeit verhaftet wurden. Dabei wurden vermutlich ihre Handys beschlagnahmt. Vielleicht ist es aber auch einigen von ihnen gelungen, sie zu verstecken und bei sich zu behalten. Nach offizieller Version wurden die Jugendlichen um 00.00 Uhr nachts ermordet und ihre Handys sowie persönliche Gegenstände auf der Müllkippe verbrannt. Diese Stundenangabe ist eine weitere zeitliche Bezugsgröße.

Mehrere Angehörige haben berichtet, dass sie ihre Kinder am frühen Morgen, am darauffolgenden Tag, an späteren Tagen oder sogar nach Wochen angerufen haben, mit unterschiedlichem Ergebnissen: Manchmal sprang die Mailbox an, manchmal nahm auch jemand ab. Andere Male wiederum war einfach nur der Klingelton zu hören. Ein Vater erhielt einen Anruf vom Telefon seines Sohnes, zwei Monate danach, und als er abhob, wurde aufgelegt. Als er zurückrief, antwortete niemand mehr.

Alle Angaben helfen uns bei unseren Nachforschungen, und wir müssen sie mit der Akribie eines Uhrmachers aufschreiben. Die Mutter von Jorge Aníbal meldet sich zu Wort:

„Mein Sohn hat mir morgens um 01.16 Uhr eine SMS geschickt, also später als zu der Uhrzeit, die Sie genannt haben.“
“Wie? Können wir sie sehen? Bitte!”

Doña Luz kommt die Treppe herunter und bringt uns das Telefon. Sie sucht nach der gespeicherten Nachricht:

„26/09/2014. Mama, Guthaben dringend für mich aufladen lassen.“
„Darf  ich ein Foto von Ihnen machen? Bitte heben Sie das Handy auf und benutzen Sie es nicht; und sorgen Sie dafür, dass es nicht verloren geht.“

Monate später bestätigen wir: Die SMS kam zu der angegebenen Uhrzeit. Dies bedeutet, dass Jorge Aníbal um 01:16 Uhr noch lebte. Damit ist die offizielle Version widerlegt. Außerdem gibt es an der Müllkippe von Cocula keinen Netzempfang. Du machst Dir Gedanken darüber, welche Schritte sich Jorge Aníbal vielleicht überlegt hat und was ihm widerfahren ist. Möglicherweise hat er nicht angerufen, weil er kein Guthaben mehr hatte oder ein Anruf ihn verraten hätte. Was bezweckte er wohl mit dem Anruf? Was wollte er erzählen und wem? Inwieweit war ihm bewusst, was ihm bevorstand? Hielt er sich vielleicht versteckt? Warum nahm er nicht vorher Kontakt auf? Fragen über Fragen überschlagen sich, bis es still wird.

Wessen Geschichte?

Man kann keine Politik gestalten, keinen Fall lösen, ohne die Erfahrungen der Angehörigen einzubeziehen. Dies soll nicht die Geschichte der Täter sein – Mitglieder der Drogenmafia wie El Chucky, La Rana oder El Chereje , die Geschichte des Direktors für öffentliche Sicherheit, Felipe Flores, oder des Bürgermeisters von Iguala, José Luis Abarca. Es muss die Geschichte des Leids der Menschen sein. Wenn die Auswirkungen nicht verstanden werden, wird auch niemals das zu mobilisieren sein, was zur Bewältigung der schwierigen Aufgaben erforderlich ist, vor denen Mexiko steht. Diese Geschichte hinter der offiziellen Geschichte bzw. den Nachrichten ist die Unterströmung, die Folgewirkung im sozialen Gefüge. Unterströmungen drängen bisweilen an die Oberfläche wie ein Geysir, andere sind Teil des Lebens in einer Unterwelt, die niemals verstanden wird. Allzu oft verschwinden die Opfer in der geschichtlichen Versenkung, und manchmal – wie in diesem geschundenen Bundesstaat Guerrero – ist die Versenkung der Geschichte ein Ort, der an den Armutsindikatoren derjenigen gemessen werden kann, die nichts zählen.

Wie schwer wiegt die Lüge?

Die Sonne hat den gesamten Schulhof bis zum letzten Winkel erobert. Bei dieser Zeremonie übernimmt ein Student die Lehrerrolle. Erneut ergreifen die Studierenden das Wort, führen ein, stellen vor, verbinden, schließen mit dem Mikrofon in der Hand. Emiliano lächelt. Es ist an diesem Morgen ein Lächeln des Wiedersehens und eines, das etwas anderem gilt. Er greift zum Mikrofon, bedankt sich und nimmt auf dieses Lächeln Bezug. Er spricht von den Studierenden selbst wie von einer tiefen Wahrheit.

„Ihr seht uns heute mit einem stärkeren Lächeln. Der Grund dafür ist, dass uns eine riesige Last abgenommen worden ist, nämlich die Last der Lüge.“

Wie schwer wiegt das? Ich weiß es nicht. In der Psychologie benutzen wir die Bezeichnung „sekundäre Viktimisierung“. Es geht dabei um alle Formen, in denen erneut auf Opfer von Menschenrechtsverletzungen eingeschlagen wird, durch Kriminalisierung, Verachtung, Lüge, Schuld, Respektlosigkeit. Auch wir kamen hierher mit einer harten Haltung: Wir hätten gern eine Antwort über den Verbleib der Studenten bekommen. Dies war jedoch bisher nicht möglich. Die Väter und Mütter wissen darum. Als unser Teammitglied Pancho das Wort ergreift, sprudelt es aus ihm hervor:

“Genau das hatten wir uns gewünscht, und das wünschen wir uns auch immer noch!“

Danach verharrt er in Schweigen, mit Blick zum Himmel. Pancho glaubt nicht an Gott, er ist keiner, der betet. Seine Augen schauen nach oben, damit die Tränen ihn nicht verraten. Unter anderem ist es die Menschlichkeit, die uns hilft, diese Arbeit zu tun.

Der weiße Schmetterling

Bei der Wiederaufnahme unserer Nachforschungen gehört die Umgebung der Müllkippe von Cocula zu den Gebieten, die wir untersuchen müssen. Dort wurden an mehreren Stellen Gruben und verkohlte menschliche Überreste gefunden, verborgene Identitäten in dieser Schau der Lebensverachtung.

Es ist schon Nachmittag geworden an diesem Tag im Januar, an jenem Ort namens Canal Grande. Spürhunde, die alles erschnuppern können, erkunden zunächst das Gelände. Die kleine Hündin der Bundespolizei ist bereits zum Einsatz gekommen. Sie hat heftig in der Erde gescharrt und mit dem Schwanz gewedelt,  als ob sie sagen wollte: „Hier ist etwas!“ Solche Hunde sind darauf trainiert, den unterirdischen Geruch des Todes wahrzunehmen. Es ist schon gegen 18.00 Uhr. Dennoch beschließen Gutachter und Staatsanwalt, die Erde auszuheben, obwohl wir wissen, dass es darüber Nacht werden wird. Die Befürchtung, dass jemand kommen und die Überreste mitnehmen könnte, macht die Sache so dringlich.

Die Gutachter stellen ein Zelt auf; eines von denen, wie sie für Familienausflüge aufs Land benutzt werden. Hier aber soll es den Tatort abschirmen. Sie bringen ihre gelben Bänder an, im strömenden Regen, der sich nach und nach bemerkbar macht und alles durchnässt, was sich ihm in den Weg stellt. Weißer Nebel beginnt allmählich, die abendliche Szenerie in Dunkelheit zu hüllen, vor der Zeit.
José hat die Koordinaten und Standortdaten auf seiner Tafel und schlägt als Erster die Pickhacke in den Boden. Die Ausgrabungen beginnen mit kraftvollen Hieben, um die Erde zu lockern, und werden allmählich behutsamer, für den Fall, dass Überreste, Kleidungsstücke oder sonstige Fundstücke auftauchen. Einer der Männer aus dem Suchteam hat im letzten Jahr schon Dutzende von Gräbern in diesem Gebiet ausgehoben, und mit Adlerblick deutet er auf einen Fund: Hier ist der Schädel. Die Gutachter schälen sich aus ihren weißen, klamm gewordenen Schutzanzügen und machen weiter, mit Pinseln, kleinen Kellen, Bürstchen.

Als die Sonne endgültig verschwindet, müssen Scheinwerfer aufgestellt werden, um die Arbeit fortsetzen zu können. Zwei Flutlampen beleuchten im Regen das Rechteck von 1,20 x 0,80 Metern. Aus den Knochensplittern fügt sich der Umriss eines Schädels zusammen, eine schwarze Hose, ein Arm im Boden neben einer starken Baumwurzel, die ihn fast zu umgreifen scheint. Es ist wie bei einer der Exhumierungen von Massengräbern aus der Zeit der Franco-Repression im spanischen León vor zwei Jahren, als ein Angehöriger zu den Kriminaltechnikern sagte:

„Hoffentlich ist es mein Vater. Aber wenn er es nicht ist, dann findet er sich in allen verschwundenen Leichen in diesem Grab.“

Diese Einzelheiten der Identität sind immer hart, ohne Schattierungen. Wir alle ähneln uns, aber hier lassen die Details auch die Zeichen des Schreckens zu Tage treten. Mit den Überresten werden Wahrheiten ausgegraben. Hier, wie in so vielen anderen Fällen und anderen Ländern, erzählen diese Einzelheiten von einer Hinrichtung: auf dem Rücken gefesselte Hände, ein Loch an der linken Stirnseite des Schädels. Wir wissen, dass es sich hier wahrscheinlich nicht um den Fall Ayotzinapa handelt. Die Details aus den Berichten derer, die sich darauf verstehen, den Toten zuzuhören, sprechen von einem Menschen mit anderen Merkmalen und in einem anderen Alter. Dennoch gehören sie zu einem Menschen.

Zwischen den Resten krabbelt eine Vogelspinne hervor und erschreckt uns, als sei sie eine Wächterin des Todes, die weiterhin im Verborgenen bleiben will. Nach und nach werden die Überreste ausgegraben. Umgeben vom Licht der Scheinwerfer und dem Regen draußen, zwischen den blauen Tüchern und den Tüten zur Aufbewahrung der Fundstücke, taucht ein weißer Schmetterling auf. Er ist groß und fliegt gemächlich ans andere Ende der Grube. Wir alle blicken uns an, Zeugen von etwas anderem. Manchmal gibt es Dinge, die uns verbinden: Gutachter, Taucher, uns, Mitglieder der Gemeinde, die uns hierhergebracht haben. Simón, der seit Monaten nach geheimen Gräbern sucht und gerade im Gespräch mit Omar war, sagt:

„Das ist die Seele des Menschen, den ihr gefunden habt. Sie ist dankbar und wird bald nach Hause zurückkehren.“

Schweigen. Nur das mechanische Geräusch der Werkzeuge und die eingesammelten Reste im Beutel. Es ist nach Mitternacht.

Geschichten von anderen, die etwas zu sagen haben

Als wir an diesem Morgen mit den Angehörigen sprechen, muss ich an meine zweite Mama denken: Fabiola Lalinde. Manchmal kreuzen sich unterwegs die Geschichten mit anderen, und sie haben etwas zu sagen. Gerade vor ein paar Tagen habe ich Fabiola besucht. Die Geschichte ihres verschwundenen Sohnes ist anders als die der Familienangehörigen von Ayotzinapa, doch letztlich fließen sie alle trotz der Unterschiede in den Bedeutungen der Gewalt auf einem gemeinsamen Weg zusammen; gemeinsam ist ihnen die Verschleierung der Wahrheit und die Straflosigkeit. Fabiola ist eine Meisterin des Lebens. Ihr Sohn Fernando wurde 1986 in Kolumbien von einer Militärpatrouille verschleppt. 1988, als ihr Fall bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission kurz vor der Entscheidung stand, wurde ihre Wohnung durchsucht. Man versteckte bei ihr zwei Kilo Koka in einem Schrank, und sie wurde daraufhin unter der Beschuldigung inhaftiert, Chefin des Drogenterrorismus in Antioquia zu sein. In ihrem Fall funktionierte das allerdings nicht. Nach 12 Tagen war der ganze Spuk vorbei.

Als unermüdliche Nachforscherin sprach sie mit Bauern, die ihr davon erzählten, wie man die Leiche ihres Sohnes nach dessen Folterung und Ermordung hatte verschwinden lassen. Als sie an die von den Bauern genannte Stelle kam, fand sie dort einen Baum mit mächtigen Wurzeln vor. Der Baum stand oben am Hang; Knochenreste und Kleidungsstücke waren nach und nach weiter hangabwärts gefunden worden. Fabiola bestand darauf, oben graben zu lassen. Die Staatsanwaltschaft und der Richter wollten dies weiter unten tun. Damals steckten die DNA-Untersuchungen zur Feststellung der Identität noch in den Kinderschuhen, und man war auf die Knochen, vor allem aber auf das Gebiss und den Schädel angewiesen, um die Identität einer Person bestimmen zu können.

„Liebe Frau, nach dem Gesetz der Schwerkraft müssen die Reste unten zu finden sein, weil sie oben entfernt wurden und bis hierhin gelangt sind.“

„Einverstanden, wenn es sich hier um einen normalen Fall handeln würde. Das Gesetz der Straflosigkeit aber bewegt sich in entgegengesetzter Richtung zum Gesetz der Schwerkraft. Hier müssen wir oben nach den Toten suchen und nicht unten!“
Nach langem Hin und Her gab einer der Kriminaltechniker dem Drängen der Mutter nach. Adriana, ihre Schwester, ging nach oben, und Fabiola, die schon in etwas fortgeschrittenem Alter war, blieb unten. Als es bereits dunkel wurde, hörten wir einen Schrei. Der Schädel von Luis Fernando wurde an der Wurzel des Baums gefunden, wie Adriana es geträumt hatte. Als danach Clyde Snow, der Vater der modernen forensischen Anthropologie und Gründer des Argentinischen Teams für Forensische Anthropologie (EAAF), Luis Fernando identifiziert hatte, bequemte sich der kolumbianische Staat, DNA-Proben zu nehmen. Nach den Ergebnissen des besten Genetikers in Kolumbien handelte es sich dabei definitiv und zweifelsfrei nicht um die Überreste von Luis Fernando. Vier Jahre später bestätigte Frau Dr. King vom Labor in Berkeley, dass es sich mit 99,9999-prozentiger Wahrscheinlichkeit sehr wohl um Luis Fernando handelte - der kleine Unterschied von einem definitiven Nein hin zu einem runden Ja.

Dieses letzte Mal sprachen wir bei Fabiola zu Hause von den Angehörigen der 43 Studenten, von diesem Schmerz, der ihr so vertraut ist. Auch sie weiß vom Widerstand. Als sie im Buen-Pastor-Gefängnis saß, griff sie in ihrer Verzweiflung zu einer Bibel, die ihre Schwester ihr hatte zukommen lassen, und schlug sie an einer beliebigen Stelle auf. Diese Übung kannte sie schon seit ihrer Kindheit, denn so überbrachte der Zufall bzw. die Hand eines Menschen eine Botschaft. Diesmal stieß sie auf das Lukas-Evangelium, auf das Gleichnis von der Witwe und dem Richter. Die Witwe ließ den Richter mit ihrer Forderung nach Gerechtigkeit nicht in Ruhe. Laut Evangelium dachte der Richter bei sich: „(So) will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage“. Das brachte Fabiola auf die Idee mit der „Operation Cirirí“. Der Cirirí ist ein winziger Vogel mit gelber Brust und schrillem Gesang. Fabiolas Vater hatte immer gesagt, sie sei wie ein Cirirí und von Kindesbeinen an schon immer ein Dickkopf gewesen.  So besann sie sich in ihrem Kampf auf diesen Vogel. Der Cirirí geht sogar auf den Sperber los, wenn er seine Jungen angreift. Mit gellenden Schreien nimmt er die Verfolgung auf und macht ohne Unterlass so viel Lärm, wie er kann. Dann erst kehrt er zu seinem Nest zurück.

“So verhält es sich auch mit der Suche nach den Verschwundenen. Man muss hartnäckig bleiben und insistieren“, sagte Fabiola an jenem Abend, als wir uns trafen. Davon sprechen wir heute mit den Angehörigen: Sie sind die Cirirís auf der Suche nach der Wahrheit.

Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt

© Alle Rechte vorbehalten. Publikation mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

El tiempo de Ayotzinapa
Carlos Martín Beristain
El tiempo de Ayotzinapa
ISBN: 978-84-16842-06-3
Seiten: 272
Kosten: 13,94 €

Das Buch ist in Originalsprache hier zu bestellen.
 

 

Über den Autor:
Carlos Martín Beristain, spanischer Arzt und Psychologe. Mitglied der Interdisziplinären Kommission unabhängiger Experten (GIEI), die 2015-2016 zur Aufklärung im Falle der 43 verschwundenen Studenten von Ayotzinapa, Mexiko eingesetzt wurde.

Fotogalerie: Spuren der Erinnerung - Ausstellungseröffnung und Diskussion zum gewaltsamen Verschwindenlassen in Mexiko

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