Die ASEAN-Identität heute und in der Zukunft: Interaktion über Grenzen hinweg in Südostasien

Südostasien sollte nicht nur als geographische Definition oder politischer Block namens ASEAN verstanden werden. Es ist vielmehr ein Zusammenspiel aus Netzwerken, Lebenswelten, Handelssystemen und interkulturellen Wegen von menschlicher Interaktion. Diese Interaktionen sind nicht neu in Zeiten von Billigflügen und Facebook, sondern haben in verschiedenen Formen schon lange existiert, wie ein Blick in die Grenzregionen Südostasiens zeigt.

Eine Mutter mit zwei Kindern auf einem Boot.
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Eine Mutter und zwei Kinder überqueren den Mahakam in Kalimantan Timur, Indonesien

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers 50 Jahre ASEAN – Welche Rolle spielt soziale und ökologische Gerechtigkeit?

Dieses Jahr feiern wir das 50-jährige Bestehen der ASEAN und betrachten ihre Errungenschaften – die meiner Meinung nach zahlreich sind. Dabei stellt sich die Frage, ob sich ein Gefühl einer gemeinsamen ASEAN-Identität unter den Bürgerinnen und Bürgern der jeweiligen Nationalstaaten Südostasiens herausbilden wird.

Wir sollten uns an Folgendes erinnern: die ASEAN wurde zunächst von den Regierungen der Region ins Leben gerufen, um zu gewährleisten, dass die ASEAN-Länder nicht in den Kalten Krieg hineingezogen würden; es war nie beabsichtigt, die ASEAN zu einer überstaatlichen Einheit auszubauen, die die Souveränität ihrer Mitgliedstaaten in irgendeiner Weise in Frage stellt; und es bestand 1967, als die ASEAN zuerst ersonnen wurde, keine Absicht, irgendetwas zu schaffen, das einem gemeinsamen Markt mit einer gemeinsamen Währung ähnelte oder eine gemeinsame Staatsbürgerschaft für alle Menschen, die in der Region leben. Da es sich von Anfang an um ein bescheidenes Projekt handelte, sollten die Leistungen der ASEAN entsprechend beurteilt werden.

Nach einem halben Jahrhundert können wir jedoch positive Zeichen einer zunehmenden Integration der gesamten ASEAN erkennen. Die ASEAN-Mitgliedstaaten sehen verstärkt die Notwendigkeit, den Handel miteinander zu intensivieren, und andere Fortschritte in den Bereichen Kommunikation und Logistik haben die Mobilität für Bürgerinnen und Bürger der ASEAN Realität werden lassen.

Tourismus, Reisen und Migration innerhalb der ASEAN haben zugenommen, und wir sehen heute das Phänomen der „ASEAN-Rucksackreisenden“, wobei immer mehr junge ASEAN-Bürgerinnen und -Bürger die jeweils anderen ASEAN-Länder bereisen und gegenüber kulturellen Unterschieden größere Offenheit entwickeln.

In manchen Beispielen erkennen wir greifbare Ergebnisse des Brückenschlagens, etwa beim malaysisch-singapurischen Hochgeschwindigkeits-Bahnprojekt. Dieses Projekt wird Zeit und Raum zwischen den beiden Ländern verschmelzen und die Unterschiede zwischen ihnen verkleinern anstatt sie zu vergrößern.

Die Tatsache, dass ein solches Projekt jetzt stattfindet, in einer Zeit, in der in anderen Teilen der Welt der Hypernationalismus auf dem Vormarsch zu sein scheint, und in der Nationen ihre Grenzen schließen anstatt sie zu öffnen, ist von enormer Bedeutung. Dies verweist auf die Tatsache, dass die ASEAN-Region weiterhin eine der stabilsten der Welt ist; ASEAN-Staaten haben eine entscheidende Rolle dabei gespielt, Gemeinschaften zusammenzubringen.

Noch vor den Grenzen: Unsere gemeinsamen Wurzeln

So positiv wie diese Entwicklungen sein mögen, sie sind nicht ganz neu. Fachleute für südostasiatische Geschichte weisen darauf hin, dass die heutigen Grenzen in Südostasien offensichtlich relativ neu sind und dass sie bis zum 19. Jahrhundert mehr oder weniger festgelegt waren, als Folge des Kontakts Asiens mit westlichen Kolonialmächten. Wenn wir jedoch die Uhr um etwa 30.000 Jahre zurückdrehen würden, hätten wir ein vollkommen anderes Bild davon, wie die Region einst aussah.

Zunächst einmal war der Meeresspiegel vor 30.000 Jahren viel niedriger als heute, und zwar um etwa 150 Meter. Daher war ein Großteil des Gebiets, das wir heute das Südchinesische Meer nennen, Festland, und die Region des vom Meer geprägten Südostasien tatsächlich eine ausgedehnte Landmasse, auf der rudimentäre landwirtschaftlich geprägte Gemeinschaften lebten.

Dies war die Ära der großen Bewegungen und der Sesshaftwerdung der austronesischen Völker, die die fernen Vorfahren der Menschen des heutigen Südostasiens waren. Die Ausdehnung der Bewegungen und Migrationen dieser Völker erstreckte sich über das gesamte Gebiet vom heutigen Taiwan bis hin zum gesamten vom Meer geprägten Südostasien und den Gebieten, die wir heute als Nias, Nusa Tenggara, Timor und Papua kennen.

Hier, in unserer gemeinsamen Geschichte, die älter ist als die frühesten aufgezeichneten Gemeinwesen der Region, sehen wir die menschlichen Beziehungen, die uns verbinden.

Bei den Menschen Austronesiens handelte es sich nicht um eine einzige ethnische Gruppe mit einer gemeinsamen Kultur an sich, sondern vielmehr um eine Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Sprachsystem (Austronesisch), und Fachleute für Sprachgeschichte weisen darauf hin, dass viele der Sprachen in den entfernten Teilen Südostasiens ihre austronesischen Wurzeln bis heute bewahren.

Erst viel später, als der Meeresspiegelanstieg begann, entstand das Südchinesische Meer, und die Völker Austronesiens wurden in die hochgelegenen Gebiete zerstreut, die heute die Landmassen bilden, auf denen die Gesellschaften Südostasiens leben. Obwohl diese frühen Gemeinschaften sich später zu Gemeinwesen und dann zu Nationalstaaten entwickelten, ist das Erbe von Bewegung, Siedlung und Teilen über kulturelle Grenzen hinweg in ganz Südostasien bis zum heutigen Tag eine grundlegende, alltägliche Realität geblieben.

Ein Blick in die Geschichtslehrbücher

Inwieweit berücksichtigen die heutigen ASEAN-Mitgliedstaaten diese historischen Faktoren und grundlegenden, alltäglichen Realitäten? Ein kurzer Blick in die Geschichtslehrbücher, die in den Ländern der Region benutzt werden, gibt uns eine Vorstellung davon, in welch oberflächlicher Weise unsere historische Vernetzung bislang betrachtet worden ist.

Wenige offizielle Versionen der Geschichte erwähnen die Tatsache, dass die Gemeinschaften und Nationen Südostasiens Gemeinsamkeiten hinsichtlich ihrer Sprache, Kultur, Glaubensvorstellungen und Werte aufweisen. Fast alle Geschichtslehrbücher in der Region beginnen mit dem Nationalstaat als dem Hauptakteur in der Geschichte, und dabei vernachlässigen sie die Jahrhunderte mit fließenden Bewegungen und interkulturellem Austausch, die einst die Normen darstellten, nach denen die Menschen Südostasiens lebten.

Was die Angelegenheit weiter erschwert: es ist festzustellen, dass alle Staaten Südostasiens ihre politischen Grenzen heute als vorgegebene politische Realität betrachten, jedoch nicht wahrnehmen, dass diese Grenzen von Kolonialmächten aus Europa gezogen und den Menschen Südostasiens während der Kolonialära mit Gewalt aufgezwungen wurden.

Die von den westlichen Kolonialmächten unterzeichneten Übereinkommen, etwa die Britisch-Niederländischen Verträge, erlegten den Menschen Südostasiens Grenzen und Behinderungen auf. Früher waren sie in ihrer eigenen Region ungehindert gereist und fassten sich nicht notwendigerweise als verschiedene und ausschließende Nationen auf, die sich von anderen unterschieden.

Der Kolonialismus war für Südostasien in dem Sinne zerstörerisch, dass er einer fließenden und mobilen Welt mit zahlreichen Zentren, in der kultureller Austausch und kulturelle Anleihen normal und üblich waren, ein Ende bereitete und stattdessen den Rahmen für ausschließende Formen der nationalen Identität festlegte, die ihrer Natur nach gegensätzlich waren und bleiben.

Zwischen den Machtzentren der ASEAN und der Peripherie

Fachleute sprechen und schreiben häufig über die zunehmende Mobilität, die heute in Südostasien festzustellen ist, beziehen sich dabei jedoch oft auf konventionelle Verkehrmittel und Kommunikationsmöglichkeiten. Bis zum 19. Jahrhundert waren die Hafenstädte Südostasiens wahrlich kosmopolitische Knotenpunkte für Handel, Migration und Bewegung, und viele dieser Hafenstädte waren auch Zentren für die Verbreitung von Nachrichten und politischem Gedankengut.

Dass Städte wie Penang, Medan, Batavia (Jakarta), Singapur, Manila, Surabaya, Saigon (Ho-Chi-Minh-Stadt) etc. Orte waren, an denen Gemeinschaften zusammenkamen und ebenfalls Zentren des Verlagswesens in der jeweiligen Landessprache waren, war kein Zufall.

Heute leben wir jedoch in einer Zeit des Luftverkehrs, und die Hauptverbindungen und -vektoren für den Luftverkehr sind die Hauptstädte sowie Städte mit Flughafen. Dies hat neue Mobilitätspfade und -netzwerke geschaffen und unseren Fokus vom Meer aufs Land verlagert. Es ist ebenfalls kein Zufall, dass es sich bei den meisten bedeutenden Städten mit internationalem Flughafen um Zentren der politischen und ökonomischen Macht in vielen ASEAN-Ländern handelt.

Infolgedessen haben manche Beobachterinnen und Beobachter die Schlussfolgerung gezogen, dass die Haupt- und Megastädte Südostasiens heute die tatsächlichen Zentren des Kosmopolitismus und des Pluralismus sind, während sie ländliche Bereiche als das ländliche Landesinnere typisieren, das statischer und homogener in der sozialen Zusammensetzung ist und sich langsamer entwickelt.

Eine klare Trennung zwischen dem „kosmopolitischen Zentrum“ und der „homogenen Peripherie“ wurde eingeführt; ich würde jedoch argumentieren, dass es sich bei einer solchen Trennung im Grunde um ein Konstrukt handelt, und dass es tatsächlich falsch ist.

Modalitäten des wirtschaftlichen und soziokulturellen Lebens in den Grenzregionen

Ich schreibe dies als Wissenschaftler. Meine Arbeit hat mich oft in die Grenzzonen Südostasiens geführt, und ich habe die Modalitäten des wirtschaftlichen und soziokulturellen Lebens in den Grenzregionen des Gebiets untersucht. Meine aus diesen Begegnungen entstandenen Beobachtungen sind wie folgt:

  • Die Grenzen Südostasiens sind tatsächlich durchlässig. Trotz aller Bemühungen, diese Grenzen zu schließen und zu überwachen, sind grenzüberschreitende Bewegungen in vielen Teilen Südostasiens eine informelle, alltägliche Realität. Obwohl Grenzlinien auf Landkarten existieren mögen, leben und denken Menschen in Situationen des realen Lebens entsprechend ihrer eigenen „mentalen Landkarten“.
  • Zweitens, die Menschen, die in diesen Grenzzonen leben, haben häufig eine größere Affinität zu ihren politischen Nachbarinnen und Nachbarn als zu ihren Landsleuten in anderen Landesteilen. Der Grund dafür ist einfach: es ist gut möglich, dass der Mensch, der jenseits der Grenze lebt, deine Freundin bzw. dein Freund, deine Geschäftspartnerin bzw. dein Geschäftspartner, deine Verwandte bzw. dein Verwandter oder sogar deine Ehefrau bzw. dein Ehemann ist. Solche Verbindungen sind familial, organisch und daher real.
  • Drittens haben Gemeinschaften in der Grenzzone häufig nicht die nationalistischen Tendenzen, die exklusiv und/oder gegenüber dem „Anderen“ feindselig sind. Eng definierte nationalistische Diskurse haben weniger Bedeutung und Verbreitung unter Menschen, die in solchen Grenzzonen leben, schlichtweg deshalb, weil die sogenannten „fremden Anderen“ buchstäblich nebenan sind, vor ihnen stehen und zufälligerweise diejenigen Menschen sind, mit denen sie Handel treiben, interagieren und verheiratet sind.
  • Viertens – und möglicherweise am wichtigsten – basieren diese grundlegenden Erfahrungen auf grundlegenden Realitäten von Handel, Siedeln, Migration und Ehe. Und weil sie auf sozioökonomischen Realitäten fußen, sind sie auch von Bedeutung für diejenigen Menschen, deren Leben durch diese Realitäten geprägt sind.

Eine organische Herangehensweise, die die ASEAN von unten nach oben betrachtet, sollte diese subregionalen Grenzzonen als eigenständige menschliche Lebensräume auffassen. Als Ausgangspunkt sollte sie die Bedeutung nehmen, die „Heimat“ und „das Lokale“ für diese Gemeinschaften haben.

Offizielle Geschichtsschreibungen mögen Schwierigkeiten haben, mit solchen lokalen, subregionalen Auffassungen von Heimat und Eigentum umzugehen, denn es ist möglich, dass sie dem offiziellen, staatszentrischen Diskurs über Governance oder offiziellen nationalen Geschichtsschreibungen, die meist linear und totalisierend sind, widersprechen.

Dies bedeutet, dass wir Südostasien nicht als vordefinierten geographischen Block oder Bereich untersuchen können und dies vielleicht auch nicht tun sollten, und auch nicht als Region, die ausschließlich durch die ASEAN definiert ist, sondern vielmehr als Patchwork aus Netzwerken, Lebenswelten, Handelssystemen und Möglichkeiten, wie Menschen miteinander Kontakt haben.

Forschung zu Grenzzonen

Zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben bereits den Fokus ihrer Forschung zu solchen Grenzzonen hin verlagert, in einer Zeit, in der die Regionalwissenschaft als Disziplin ernsthafte interne Kritik und Bewertung erfährt.

Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, darunter auch ich, sind jetzt der Meinung, dass das Studium Südostasiens nicht nur auf das Studium politischer Staaten und der Mechanismen der Macht im Zentrum begrenzt werden kann und darf, sondern auch die realen grundlegenden Realitäten in den peripheren Zonen untersuchen muss, wo interessante menschliche Beziehungen und Interaktionen aller Art stattfinden.

In diesen Gebieten, die früher außerhalb der zentralen Zone der politischen Zentren der ASEAN lagen, ist zu beobachten, dass die Vorstellungen der dort ansässigen Menschen von ihrer eigenen Geografie, ihrem subregionalen Zugehörigkeitsgefühl, ihrem Verständnis der benachbarten Gemeinschaften etc. sich alle sehr stark von den offiziellen Narrativen unterscheiden, die von den Machtzentren ausgehen.

Dies negiert nicht die Bedeutung des Kapitals als Machtzentrum, sondern bewirkt, dass unser Verständnis der ASEAN komplexer wird. Weiterhin zeigt es, dass nicht von einer singulären ASEAN gesprochen werden sollte, sondern von vielen lokalen und verankerten Verständnissen der ASEAN, die von verschiedenen Gemeinschaften geteilt werden.

Wenn die ASEAN nun in die Zukunft blickt und ihre künftige Entwicklung plant, müssen ihr diese Realitäten vor Ort bewusst sein, ebenso die Tatsache, dass die Bürgerinnen und Bürger der ASEAN auf einer gewöhnlichen, alltäglichen Ebene multiple, manchmal sich überlappende Verständnisse davon haben, was und wer sie sind.

Es ist tatsächlich der Fall, dass Bürgerinnen und Bürger der ASEAN mehr und mehr in der Region reisen, und im Laufe der Zeit könnte dadurch (jedoch nicht durch die Staatsangehörigkeit) ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen. Es handelt sich dabei aber nicht um ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das alle Bürgerinnen und Bürger der ASEAN in einer zu stark vereinfachenden und homogenisierenden Art und Weise als einzige kompakte Masse betrachtet, sondern um ein Patchwork an Gemeinschaften, die durch eine geteilte Geschichte, geografische Nähe und gemeinsame Interessen miteinander eng verbunden sind.

Um der zukünftigen Kohäsion der ASEAN willen, da die Region in eine von Ungewissheit und großer Unsicherheit geprägte historische Periode eintritt, müssen die grundlegenden sozialen Bindungen, die sich in den Grenzzonen der ASEAN entwickelt haben, geschätzt und verstanden werden, denn es ist gut möglich, dass sie die psychosozialen Sehnen darstellen, die Südostasien in einer Ära der globalen Krise und Spaltung zusammenhalten.