Meine Identitäten: Israelisch, säkular, sozialistisch

Der israelische Autor Yiftach Ashkenazy ist Gast bei den deutsch-israelischen Literaturtagen, die sich mit Gerechtigkeit befassen. Wie wächst man auf in einem Umfeld, das das Gute und Beste will? Enttäuschung heißt hier, erwachsen zu werden.

Ich bin nicht der einzige Mensch, der jedes Jahr, wenn sein Geburtstag naht, unglücklich ist. Ich bin nicht der Einzige, der an diesem Tag das Gefühl hat, dass er schon tierisch alt ist, nicht erreicht hat, was er im Leben wollte, dass mindestens die Hälfte der Leute, die ihn auf Facebook mit künstlich begeisterten Glückwünschen überhäufen, nicht mal seinen Namen kennt. Dennoch gibt es eine Sache, die diese Niedergeschlagenheit an meinem Geburtstag zu etwas Besonderem seiner Art macht: die Schoah.
Dass die Schoah stets im Hintergrund meines Geburtstages präsent ist, steht nicht im Zusammenhang mit mir und meinen eigenartigen Präferenzen. Ich bin schlichtweg am Abend des Schoah-Gedenktages geboren und feiere meinen Geburtstag stets nach dem jüdischen Kalender. Daher fällt das private Feiern jährlich auf den Tag mit den Zeremonien, den Zeitzeugenaussagen, der Flagge auf Halbmast und der Aufforderung an die Öffentlichkeit, sich zur Nationalhymne zu erheben. Nun habe ich die Tatsache, dass mein Geburtstag immer besonders tragisch ausfällt, weil er mit der Schoah besetzt ist, nicht nur angeführt, um Mitleid zu erregen (was in meiner Familie Tradition ist), vielmehr ist es ein Versuch, hinsichtlich meiner Identität etwas zu erklären. Dass ich am Schoah-Gedenktag geboren bin, scheint mir ein bedeutsamer Teil von etwas Größerem, von einem Stück jener klar umrissenen Identität, in die ich hineingeboren wurde – die zionistisch-israelisch-sozialistisch-linke-Identität.

Meine Eltern hatten zwar nicht die Absicht, dass ich am Schoah-Gedenktag das Licht der Welt erblicken würde, doch so ergab es sich. Ebenso wenig hatten sie die Absicht, dass meine Beschneidung auf den Jom ha-Sikaron, den Gedenktag für die gefallenen israelischen Soldaten, eine Woche später, fiele, doch so ergab es sich. Sehr wohl hatten sie die Absicht, dass ich Teil des israelischen Kollektivs würde, darum gaben sie mir den Namen Yiftach, nicht etwa benannt nach dem Richter im Alten Testament, sondern nach der Kämpferbrigade im Unabhängigkeitskrieg. Von klein an unternahmen meine Eltern mit mir Wanderungen durch Israel, denn die Liebe zum Land ist etwas, das durch die Beine geht. Eine Maxime meiner Erziehung war es, einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten und daher nahmen sie mich zu sämtlichen Demonstrationen mit, die sie mit ihrer Anwesenheit bedachten. Die Familie ist sich uneinig, ob mein Vater mich tatsächlich schon auf eine Protestdemonstration gegen das Massaker von Sabra und Schatila im Libanon 1983 mitgenommen hatte. Sicher ist jedoch, dass ich mit acht Jahren bereits auf einer Massenkundgebung zur Aufgabe der besetzten Gebiete war. Zudem waren meine Eltern fest entschlossen, dass ich neben einem politischen ein ökologisches Bewusstsein entwickeln sollte, weshalb jeder Schabbath meines zehnten Lebensjahres den Demonstrationen gegen den Bau eines Staudammes am Jordan gewidmet wurde. Bei uns zu Hause hörten wir nostalgische Lieder über Eretz Israel und als ich bei meinem Vater einmal nachfragte, von welchem Stamm wir seien, war er fast gekränkt und meinte: Wir sind Israelis. Obwohl meine Eltern nicht im Kibbuz lebten und keine hundertprozentigen Sozialisten waren, glaubten sie an eine Gesellschaft mit Gemeinschaftssinn, die für alle sorgen sollte. Und als mein Vater herausfand, dass ich den Text der Internationale nicht beherrschte, korrigierte er das Versäumnis umgehend und ließ nicht locker, bis ich schmettern konnte: „Die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“

Ich weiß nicht genau, wann die Kehrtwende eintrat. Wann ich verstand, dass diese Identität, in die ich hineingeboren worden war, mit Rissen und Problemen behaftet war: Zweifellos bei meinem Militärdienst während der Zweiten Intifada (2000-2005). In jenen Tagen lauteten die Befehle, den Druck auf die palästinensische Zivilbevölkerung zu erhöhen und ich begriff, dass die nationalen und die humanistischen Werte miteinander im Widerspruch standen und ich nicht beide hochhalten konnte. Einen weiteren Riss in meiner Identität erlebte ich, als mir auffiel, wie der Staat sein Gesicht veränderte. Viele Angehörige der Generation meiner Eltern, die immer noch von der guten unschuldigen Zeit sprachen, erreichten zunehmenden Wohlstand und hoben zu Erklärungen an, warum es logisch sei, dass es Reich und Arm gab. Vielleicht hatte ich einfach mit vielen Leuten zu tun, die in einer anderen Realität als ich aufgewachsen waren, als der Ausspruch: „Wir alle sind Israelis“ die in der israelischen Gesellschaft vorhandene Benachteiligung und Ungerechtigkeit unter den Teppich kehrte. Bis heute besteht in Israel eine nicht zu leugnende Kluft zwischen Misrachim und Aschkenasim, zwischen alteingesessenen Einwohnern und Neueinwanderern, zwischen Juden und Arabern. Durch diese Einsichten ging ich auf Abstand zu der Identität, in die ich hineingeboren worden war. Ich begriff, dass die Ideale, an die meine Eltern glaubten, zuweilen naiv waren oder andere Male Naivität vorgaben, wodurch sie zuließen, dass vor unserer aller Augen äußerst schwerwiegende Dinge passierten.

In einer bestimmten Hinsicht widerspiegelt der von mir durchlebte Prozess, der mich zu der Identität meiner Eltern auf Abstand gehen ließ, einen tiefgreifenden Prozess, den die gesamte israelische Gesellschaft durchlebte. 1977 setzte mit der Machtergreifung der Rechten eine dramatische politische Wende ein. Von jenem Moment an begann die Elite, in die ich hineingeboren worden war, ihren Einfluss einzubüßen und die israelische, zionistische, linke und sozialistische Identität, die mich geprägt hatte, wurde zermürbt. Die Kritik, die in der israelischen Gesellschaft hinsichtlich jener Identität aufkam (sie wurde innerhalb des politischen Spektrums von der religiösen Rechten geäußert), unterschied sich nur geringfügig von meiner, aber das Prinzip war wesensgleich. Die meisten erblickten in dieser Identität, die israelisch sein wollte, eine verlogene Sache, die viele von ihrer Tradition distanzierte und noch dazu viel Unrecht zuließ. 
In den letzten Jahren hat diese Entfernung von der all-israelischen, sozialistisch-zionistischen Identität ihren Höhepunkt erreicht. Viele Politiker gossen Öl ins Feuer. Premierminister Netanyahu speiste seine politische Macht stets daraus, dass er zwischen verschiedenen Gruppen der israelischen Gesellschaft Reibung erzeugte. Diese Politiker nutzen die Wut aus, die echt und sogar gerechtfertigt ist, um einen Keil zu treiben zwischen Misrachim und Aschkenasim, Zentrum und Peripherie, Säkularen und Religiösen, Neueinwanderern und Alteingesessenen, Reichen und Armen, arabischen Einwohnern und jüdischer Mehrheit. Bedauerlicherweise ergibt sich in der israelischen Gesellschaft heutzutage nur eine gemeinsame Identität im Zuge des vereinten Hasses auf eine andere Gruppe wie die Araber oder die Arbeitsimmigranten, die aus Afrika nach Israel geflüchtet sind.

In den letzten Jahren habe ich jedoch parallel zu der Kritik, die ich anbrachte, einen Prozess durchlebt, der meine Einstellung hinsichtlich der Identität, in die ich hineingeboren wurde, leicht verändert hat. Diese Kritik steht im Kontext meines letzten Buches: „Auf zur Verwirklichung.“ Es beschäftigt sich mit meinem Vater, seligen Andenkens, seinen Kameraden und dem Prozess, den sie in ihrem Leben durchliefen. Ihre Geschichte begann als die einer Gruppe idealistischer junger Leute, die in der Tat sowohl an den Zionismus als auch an politische und ökonomische Gerechtigkeit glaubten und den Prozess widerspiegelten, den das Land durchlebte. Würde es mir gelingen, diesen Prozess zu beschreiben, so spürte ich, würde es mir auch gelingen, ein gewisses Verständnis zu erlangen. Immerhin gehörten sie der Linken an, die gleichwohl ihren Militärdienst in den besetzten Gebieten geleistet hatte und Teil von etwas war, das über ein anderes Volk herrschte. Sie waren diejenigen, die als Sozialisten begonnen hatten, dann den Glaube daran aufgaben und Teil des kapitalistischen Spiels wurden.

Die Arbeit an dem Roman setzte in mir etwas in Gang. Ich wurde mir über Folgendes klar: Obwohl ich diese Leute kritisierte, die für viele der schlechten Dinge, die sich im Land ereignet hatten, die Verantwortung trugen, liebte und schätze ich sie. Sie hatten jede Menge Fehler begangen und ihr Wertesystem entpuppte sich als durchaus problematisch, doch letztendlich enthielt ihr Glaube etwas sehr Bedeutsames. Sie glaubten, dass Israel etwas Neues und Gutes darstellen könne, glaubten an einen gerechten und moralischen Staat. Zudem glaubten sie, dass die israelische Identität die Türöffnung zu etwas Neuen und Gutem darstellen könne. Diese Einsicht führte nicht dazu, dass ich meine Kritik einstellte, aber daneben entwickelte ich eine Liebe zu der Identität, die mich geprägt hatte.

Trotz allem hatte die israelische, säkulare, sozialistische Identität, in die ich hineingeboren worden war, etwas Gutes. Unter Umständen mochte sie naiv sein, aber sie glaubte an soziale Gerechtigkeit und dass Israeli zu sein, bedeutet, Teil von etwas Richtigem und Gerechtem zu sein. In diesen Tagen, in denen diese Einigkeit und der Glaube an das Gute in weiter Ferne scheint, weckt diese Identität in mir einen Anflug von Sehnsucht. Ich bin sogar bereit, einen persönlichen Preis zu zahlen und meine Geburtstage weiterhin mit dem Schoah-Gedenktag im Hintergrund zu begehen.

Über den Autoren

Yiftach Ashkenazy wurde 1980 in Carmiel (Israel) geboren und lebt heute in Jerusalem. Sein Wehrdienst in der israelischen Armee hat seine Sicht der Realität nachhaltig verändert. Heute ist er Schriftsteller und Literaturkritiker bei der Tageszeitung Haaretz und arbeitet im Yad Vashem Institut. Er lebte unter anderem in Berlin und publiziert immer wieder Kolumnen im deutschen Radio und in deutschen Zeitungen. Ashkenazy wurde 2016 mit dem Prime Minister’s Prize ausgezeichnet.

 

Der Text erschien zuerst am 5. April 2018 im Feuilleton der Berliner Zeitung. 

Die deutsch-israelischen Literaturtage finden vom 11. bis 15. April in Berlin statt. Am Sonntag, den 15. April 2018, 16.00 Uhr, liest und diskutiert Yiftach Ashkenazy in den Sopiensälen mit Takis Würger. Ihr Thema ist „Emporkömmlinge“ und welchen Preis man zahlt, um sich zu bestimmten Kreisen zugehörig zu fühlen oder sich von anderen abgrenzen zu können