Das Haager Tribunal: Aussöhnung im Wartestand

Kommentar

Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien hat die Verantwortung für die Verbrechen klar aufgezeigt. In der Region wird das jedoch erfolgreich geleugnet. Eine Aussöhnung ist so nicht möglich.

Die Tatsachen über den Genozid in Srebrenica, die Belagerung von Sarajevo, die Lager in Prijedor, die Vergewaltigungen in Foča, die serbische und kroatische sogenannte "ethnische Säuberung" von Bosniak/innen in Bosnien und Herzegowina, die Verbrechen der Serb/innen an den Kroat/innen und der Kroat/innen an Serb/innen in Kroatien, die massenhafte Ermordung und die sogenannte "ethnische Säuberung" von ca. 800.000 Albaner/innen im Kosovo bestreiten heutzutage nur die Dummen und Böswilligen.

Sie sind erfolglos hinsichtlich des Leugnens von Tatsachen, aber erfolgreich bei der Verbreitung ihrer Theorien in der Region. Dieses Bild zeichnet der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Was er aufdeckte, decken andere zu. Was er beleuchtete wird von anderen verdunkelt. Sein klares Bild wird von anderen verzerrt.

Wer sind diese anderen? Es handelt sich um regionale politische Strukturen, die zumeist an der Macht sind. Es sind ihre bezahlten Gefolgsleute und Anhänger/innen. Es sind all jene, die ein Interesse daran haben, dass die Wahrheit über die Kriege im ehemaligen Jugoslawien nicht ans Licht kommt. Es geht also um Politiker/innen, Militärs und Polizisten, die in Kriege und Kriegsverbrechen verwickelt sind oder sich in Kriegen bereichert haben und jetzt um jeden Preis ihre Posten behalten und ihre Rolle im Krieg verheimlichen wollen. Damit verhindern sie jegliche Gerichtsprozesse, die gegen sie geführt werden könnten.

Das Tribunal hat viel erreicht, aber die beteiligten Staaten wollen keine Aussöhnung

Als 1993 der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Haager Tribunal gründete, war eines der Ziele dieses Gerichts zur Aussöhnung in der Region beizutragen. Trotz aller Fehler und Versäumnisse hat das Tribunal während seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens viel geschafft. Es verurteilte 90 von insgesamt 161 Angeklagten. Unter ihnen sind hochrangige Politiker/innen von Staaten und Entitäten der Region, Armee- und Polizeioffiziere sowie ein Teil der grausamsten Mörder von den untersten Ebenen. Noch wichtiger ist, dass das Tribunal umfangreiches Material über die Kriege der Neunziger gesammelt hat und entsprechende Schlussfolgerungen hinsichtlich dieser Auseinandersetzungen zog.

All dies hätte zur Aussöhnung beitragen können. Aber dazu sind zwei vonnöten. Die andere Seite, bzw. die infolge des blutigen Zerfalls Jugoslawiens entstandenen Staaten, wollten keine Aussöhnung auf Grund der historischen Tatsachen. Seit der Gründung des Strafgerichtshofs haben die politischen Machthaber der Region, vor allem in Serbien und Kroatien, versucht, seine Arbeit zu bremsen. Sie lehnten die Auslieferung von Angeklagten und die Zusendung von Archivmaterial ab. Sie instruierten Zeugen, damit sie in ihrem Sinne die Unwahrheit sagen usw.

Trotzdem hat das Tribunal es geschafft, mit den Bremsern fertig zu werden und Ergebnisse zu präsentieren, die zu Beginn seiner Arbeit niemand erwartet hatte. Es brachte alle Flüchtigen vor Gericht. Jede/r Angeklagte wurde auch verurteilt. Verschiedene Warlords und Kriegstreiber/innen wurden entmachtet oder ihre Rückkehr in Machtstrukturen verhindert. Dies trifft zum Beispiel für den ehemaligen Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien Slobodan Milošević, die Führer der bosnischen Serben Radovan Karadžić und Ratko Mladić oder den Führer der bosnischen Kroaten Jadranko Prlić zu.

Das Tribunal erkämpfte sich von den Staaten der Region Archivmaterial, führte vor Ort umfangreiche Untersuchungen durch und gelangte so in den Besitz von mehreren zehntausend Armee- und Polizeidokumenten, Gesprächsprotokollen, Videoaufnahmen, Fotos, Sitzungsprotokollen von Behörden. Es konnte 4.650 Zeug/innen feststellen und befragen – Überlebende, Verwandte von Ermordeten und auch Insider von verschiedenen politischen und militärischen Ebenen. Ihre Aussagen wurden auf ca. zweieinhalb Millionen Seiten festgehalten.

Die Region befindet sich heute in einer Situation, die nach ihrer an Kriegen und Trauma reichen Geschichte einzigartig ist. Erstmalig kann ein historisches Narrativ in Gänze auf Tatsachen und nicht auf Mythen errichtet werden. Zum ersten Mal kann Einsicht genommen werden in die Fehler der Vergangenheit und die Gefährlichkeit des Traums territorialer Expansion sowie in die Folgen nationaler Abgrenzung auf dem Balkan. Dies geschieht jedoch nicht.

Der Journalist Boro Kontić aus Sarajevo erklärt dies auch damit, dass „unsere Leute mehr an Trugbilder glauben als an Fakten“. Dies liegt auch daran, dass Trugbilder von Medien und Politiker/innen als Wahrheit präsentiert und Tatsachen als unnötige gerichtliche Winkelzüge betrachten werden.

Die Beweismittel zeigen die Verantwortung Serbiens und Kroatiens auf

Wenn wir Serbien und die serbische Seite im Krieg betrachten, so geht aus den Akten des Tribunals hervor, dass die Kriege von 1991 bis 1995 von Belgrad aus geführt wurden und das Ziel hatten, Teile Kroatiens und Bosniens ethnisch zu säubern und wenn möglich Serbien anzugliedern. Alles war vorher geplant. Bei der Umsetzung dieses Plans wurden zehntausende Zivilisten ermordet und Hunderttausende vertrieben. Es offensichtlich, dass bei der Realisierung des Konzepts „Großserbien“ Militär und Polizei aus Serbien sowie serbische Strukturen in Bosnien und Herzegowina als auch in Kroatien teilgenommen haben.

Manche werden wie Radovan Karadžić und Ratko Mladić sagen, dass die Rolle Serbiens im Krieg in Bosnien und Herzegowina z.B. nicht in den Urteilen des Tribunals erwähnt wird. Es stimmt, dass nicht explizit geäußert wird, dass Serbien in Bosnien Krieg geführt hat. Aber die Beweismittel und die festgestellten Tatsachen zeigen klar die politische Unterstützung für die bosnischen Serben durch die Machthaber in Belgrad, die militärische Unterstützung für Einheiten, welche Kriegsverbrechen begingen, sowie die Anwesenheit von Polizei- und Armeeeinheiten aus Serbien in Bosnien und Herzegowina während des gesamten Krieges.

Ratko Mladić und seine Offiziere, die den Genozid in Srebrenica planten und durchführten, terrorisierten Sarajevo 44 Monate lang und schufen ein System von Konzentrationslagern in ganz Bosnien. Sie wurden die ganze Zeit des Krieges von Belgrad aus dem Haushalt der jugoslawischen Armee bezahlt. Eine große Zahl dieser von Ratko Mladić geführten Offiziere bezieht heute von der Republik Serbien eine Rente.

Aus den Beweisen ist auch klar ersichtlich, dass die Ermordung mehrerer tausend und die Vertreibung von mindestens 800.000 Kosovoalbanern während der NATO-Intervention gegen die Bundesrepublik Jugoslawien 1999 von Militär- und Polizeieinheiten aus Serbien begangen wurden. Klar ist auch, dass auf Befehl der Staatsführung von der Polizei rund 1.000 Leichen albanischer Zivilisten vom Kosovo in Massengräber nach Serbien überführt wurden.

Nun zur Rolle Kroatiens in Bosnien und Herzegowina. Es geht aus den Akten des Tribunals eindeutig hervor, dass es die Idee der kroatischen Staatsführung war, mit Hilfe der militärischen und politischen Führung der bosnischen Kroaten einen Teil von Bosnien und Herzegowina zu besetzen, ethnisch zu säubern und Kroatien anzugliedern. In diesem Sinne wurden Bosniak/innen auf dem angeblich kroatischen Territorium ermordet, inhaftiert, gefoltert und von dort vertrieben.

Obwohl kroatische Generäle mit einem schändlichen Berufungsurteil von ihrer Verantwortung für Verbrechen an Serb/innen in der Krajina während und nach der Operation „Sturm“ freigesprochen wurden, sieht man anhand der Beweise, dass Verbrechen an Serben begangen wurden. Jedem der lesen kann ist klar, dass der kroatische Staat dies geplant und durchgeführt hat.

Sogar Ereignisse, die nicht gerichtlich verhandelt wurden, wie z.B. das serbisch-kroatische Abkommen über die Aufteilung von Bosnien und Herzegowina, können leicht den Urteilen und Beweismaterialien des Tribunals entnommen werden.

Politiker/innen ignorieren die Beweise und verbreiten Mythen

Dies ist erst ein Teil der Schlussfolgerungen des Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien, welche es uns ermöglichen können, die Vergangenheit richtig zu bewerten, eigene Irrtümer auszuräumen und ein für allemal Konzepte aufzugeben, die zu Kriegen und massenhaften Verbrechen an Zivilisten geführt haben. Aber nein – wir tun das Gegenteil.

Wir kehren die Tatsachen unter den Teppich und wenden uns von ihnen ab. Weil es so leichter ist. Es ist nicht nur leichter, sondern auf diese Weise wird nicht über die strafrechtliche, moralische und jegliche andere Verantwortung aktuell amtierender Staatsbediensteter und Politiker/innen gesprochen, die an den Kriegen teilnahmen, die kriegerischen Ziele ihrer Staaten unterstützten und häufig auch an der Planung und Durchführung von Kriegsverbrechen beteiligt waren.

Der Präsident Serbiens Aleksandar Vučić zum Beispiel vertrat während des Krieges eine radikale politische Option und hat jahrelang die Ergebnisse des Strafgerichtshof geleugnet und dieses Tribunal nur kritisiert. Täglich wiederholt er, dass man sich nicht auf die Vergangenheit beziehen sollte, sondern in die Zukunft schauen muss. Ihm antwortete ein Belgrader Journalist:

„Wenn ich eine derartige Vergangenheit hätte, würde ich auch nur in die Zukunft schauen.“

Aus diesen Gründen kommt die Aussöhnung in der Region nicht voran. Diejenigen, die am meisten kritisieren, dass das Tribunal nicht zur Aussöhnung beigetragen hat, also vor allem die Politiker/innen in Serbien und auch in Kroatien und anderswo in der Region, haben am meisten dazu beigetragen, dass die von dem Gerichtshof festgestellten Tatsachen für die Mehrheit der Bürger/innen unsichtbar bleiben.

Verurteile Kriegsverbrecher werden öffentlich hofiert

Diese Politiker/innen reden trotz der Beweise über die Planung von Verbrechen über die Verteidigung ihres Volkes. Anstelle der Beweise für die Rolle des Staates bei den Verbrechen verbreiten sie Geschichten von allein handelnden Extremisten. Anstatt die verurteilten Kriegsverbrecher/innen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen, erhöhen sie sie und arbeiten mit ihnen zusammen.

Wenn wir schon einmal dabei sind, sollten wir uns fragen, wie das Tribunal uns aussöhnen soll, wenn verurteilte Kriegsverbrecher/innen von uns wieder in staatlichen Institutionen eingesetzt und als moralische Autoritäten in der Gesellschaft anerkannt werden. So wurde der serbische General Vladimir Lazarević, der für Kriegsverbrechen an albanischen Zivilist/innen im Kosovo verurteilt wurde, nach verbüßter Haftstrafe mit einem Regierungsflugzeug nach Serbien zurückgebracht. Auf dem Flughafen wurde er von Ministern, dem Chef des Generalstabes sowie kirchlichen Würdenträgern wie ein Held empfangen. Derselbe General wurde bald Lehrkraft an der staatlichen Militärakademie.

Vor ihm wurde ein weiterer Verurteilter, Miloševićs „Mann für den Kosovo“ Nikola Šainović, nach Verbüßung seiner Strafe umgehend in den Hauptausschuss der regierende Sozialistischen Partei Serbiens (die ehemalige Partei von Slobodan Milošević) aufgenommen. Die andere Regierungspartei – die Serbische Fortschrittspartei von Aleksandar Vučić läßt Veselin Šljivančanin, verurteilt in Den Haag wegen Verbrechen an Kroat/innen in Vukovar, öffentlich auftreten.

Der ehemalige Präsident Serbiens Tomislav Nikolić, ebenfalls Kader der Serbischen Fortschrittspartei, lud in das Präsidialamt Momčilo Krajišnik zu Konsultationen ein. Dieser war die rechte Hand von Radovan Karadžić und wurde ebenfalls in Den Haag verurteilt. Worüber haben sie sich beraten?

Die Flucht vor der Kollektivschuld

Dem Strafgerichtshof in Den Haag wird vorgeworfen, dass es lediglich zur Aufspaltung der sowieso gespaltenen Völker auf dem Balkan beigetragen hat. Das ist wahr. Aber wie genau ist das geschehen? Seine Tätigkeit wurde wie ein sportlicher Wettkampf gesehen. Es wurde nachgezählt, wie viele von den unseren und wie viele von den ihren verurteilt wurden. Jedes Urteil wurde mit Tränen in den Augen auf der einen und mit einem Lied auf den Lippen auf der anderen Seite begrüßt, obwohl keiner der Weinenden und Singenden auch nur ein Urteil durchgelesen hat.

Dank der Lügen der Politiker/innen und der Medien glauben die Leute, dass in Den Haag Angeklagte nur deswegen verurteilt wurden, weil sie Serben oder Kroaten sind. Sie glauben, dass die Richter nachts darüber nachdenken, wie sie uns ärgern und Verbrechen anhängen und bei uns eine Kollektivschuld evozieren können.

Darin besteht vielleicht der Trick: Auf der Flucht vor der Kollektivschuld haben wir uns aus der Verantwortung gestohlen. Obwohl wir nicht alle schuld an den Verbrechen sind, tragen wir eine bestimmte Verantwortung für das, was in der Vergangenheit geschehen ist. Sei es als Unterstützer/innen der Politik, die zu Verbrechen führte, oder als desinteressierte Bürger/innen, die sich dieser Politik nicht entgegengestellt haben.

Um künftige Kriege zu verhindern, müssen wir die Tatsachen über die Kriege vermitteln

Heute jedoch besteht unsere wichtigste Aufgabe darin, soviel wie möglich über die Ereignisse der Vergangenheit zu erfahren und dieses Wissen der neuen Generation mitzugeben. Das Ziel dabei ist, dass sich die Verbrechen nicht wiederholen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Generation führte die Kriege im ehemaligen Jugoslawien in den Neunzigern. Diese Leute hatten keine Kriegserfahrung. Sie haben nur romantische Geschichten gehört oder waren von Narrativen geprägt, die auf Mythen basieren.

Die Lehre der Geschichte muss sein, dass sich dieses Szenario nicht wiederholt. Neben uns wächst die nach den Kriegen in den Neunzigern geborene Generation auf, die wir mit Mythen und romantischen Geschichten über Kriegshelden großziehen. Dabei sind im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg die angeblichen Kriegshelden gewöhnliche Kriminelle. Sollten wir dieser Generation nicht die Tatsachen über die Kriege vermitteln, so kann es geschehen, dass sie als Erwachsene und Entscheidungsträger/innen neue Kriege auf Grund alter unerfüllter Träume anzetteln.

Der Internationale Strafgerichtshof kann uns Unterstützung geben. Man darf ihn jedoch nicht als Ende der Vergangenheitsbewältigung ansehen. Seine Arbeit sollte einen Anfang für das ehrliche Gespräch in der Region darstellen, damit wir verstehen, was wie in den Neunzigern warum getan haben. Nur auf diese Weise können wir ein Haus des dauerhaften Friedens auf dem Balkan errichten.

Übersetzung aus dem Serbischen von Christoph Rolle.