Wahlen in Mexiko

Kommentar

In Mexiko haben die Drogenkartelle die kommunale Kontrolle in einigen Bundesländern übernommen. Wenn am 1. Juli 2018 eine neue Regierung gewählt wird, steht diese vor der kaum zu bewältigenden Aufgabe, aus Mexiko wieder einen wirklich souveränen Staat zu machen

Andrés Manuel López Obrador
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Wahlfavorit Obrador

Wenn alles mit rechten Dingen zugeht, wird Andrés Manuel López Obrador am 1. Juli  die Präsidentschaftswahlen in Mexiko gewinnen. AMLO, wie der Kandidat zumeist kurz genannt wird, steht für die meisten Menschen am ehesten für einen aufrichtigen Versuch, etwas zu ändern; zudem gilt er als unbestechlich. Versuche seiner Gegner, ihm die Fratze eines mexikanischen Chávez aufzusetzen und die Angst vor einem unmittelbar bevorstehenden Sozialismus zu schüren, haben nicht verfangen.

AMLO ist in der ewigen Regierungspartei PRI des scheidenden Präsidenten Enrique Peña Nieto groß geworden und scheint dem ursprünglichen ideologischen Projekt eines staatszentrierten Nationalismus, der auf Industrialisierung, Entwicklung der Landwirtschaft und sozialen Ausgleich setzt, verhaftet. Den privaten Sektor wenig zu regulieren, ist Teil dieses Projekts. Das bedeutet auch, dass AMLO wie übrigens jeder andere Präsidentschaftskandidat im Kern das mexikanische Entwicklungsmodell fortsetzen wird. Dieses basiert darauf, Industrieprodukte ausländischer Unternehmen zu Geringlöhnen wettbewerbsfähig zusammenzuschrauben, die Energie weiter vorrangig aus dem eigenen Erdöl, Erdgas und auch aus Schiefergas zu produzieren und wertvolle Metalle unter Inkaufnahme erheblicher sozialer und ökologischer Konflikte aus dem Boden zu holen.

Die Bergbaukonzessionen steigen von Jahr zu Jahr, Umweltschutzgebiete sind davor immer weniger geschützt. Mexikos Wirtschaft wächst seit Jahren um etwa zwei Prozent, die absolute Zahl der Armen – 44 Prozent aller Mexikaner - aber ist größer geworden. 57 Prozent der Beschäftigten sind ohne Absicherung in der informellen Wirtschaft tätig.

Ist Mexiko noch ein souveräner Staat?

Die größte Herausforderung für den künftigen Präsidenten ist eine Bedrohung, die jede Regierung als existenziell begreifen muss, denn sie betrifft den Staat selbst. Mexiko ist der Verfassung nach ein souveräner Staat, also ein Staat, der sein Territorium kontrolliert und dort die Regeln setzt. Doch das ist schon lange nicht mehr der Fall. Manche sprechen davon, kriminelle bzw. korrupte private Akteure hätten den Staat kooptiert oder „gefangen genommen“ (state capture).

Präziser wäre es, sich von der Vorstellung zu verabschieden, dem Staat oder der Regierung stünden, als getrennte Sphären, eine Wirtschaft, eine Gesellschaft und das organisierte Verbrechen gegenüber. Eine solche klare Trennung bildet wohl nirgendwo auf der Welt Realität ab; in Mexiko bildet alles zusammen einen Komplex oder ein Netzwerk der Makrokriminalität, in dem  „De-facto-Mächte“ ihren Einfluss geltend machen. Große Teile des Staatsgebietes werden von bewaffneten Gruppen kontrolliert, die sich mit staatlichen Sicherheitskräften, Justizbehörden und mit Unternehmen verständigen oder diese zur Verständigung zwingen. Hier simuliert der Staat Souveränität, ohne souverän oder autonom zu sein.

In Allende im Bundesstaat Coahuila wiesen die Söldner des Zeta-Kartells die Polizei und die Feuerwehr an, auf Patrouillen zu verzichten und auf Notrufe nicht zu reagieren, bevor sie sich aufmachten, in dem Städtchen offiziell 54, vermutlich aber mehr als 300 Menschen zu massakrieren. Die im September 2014 verschwundenen 43 Studenten aus Ayotzinapa wurden von örtlichen Polizisten an Drogenhändler übergeben.

Aufklärungsrate bei Mord unter 2%

Es sind dies zwei extreme, aber typische Beispiele. Das Macht- und Interessengeflecht ist besonders dicht gewoben auf kommunaler Ebene. Nicht zufällig sind es deshalb Kommunalpolitiker und  Kandidaten für kommunale Ämter, die ermordet werden. Die Zahl ist grotesk hoch: Fast 120 Männer und Frauen seit Beginn des Wahlkampfs vor einem dreiviertel Jahr. Zahlreiche andere haben die Drohungen erhalten oder Anschläge überlebt. Die Zukunft der Sicherheit entscheidet sich im Lokalen; doch dazu liest man in den Wahlprogrammen der Präsidentschaftskandidaten nichts. Stärkung der Institutionen lautet dort das Rezept und diese ist sicher notwendig. Doch Institutionen, die nur als Fassade operieren, sind kaum zu stärken.

Die mindestens 105.000 Morde seit dem Amtsantritt Peña Nietos Ende 2012 sind ein trauriger Rekord; 98 Prozent werden nie aufgeklärt werden. Hinzu kommt, dass in den letzten zehn Jahren, vorsichtig geschätzt, 35.000 Menschen verschwanden. Die meisten sind nach menschlichem Ermessen tot, vergraben, in Säure aufgelöst, doch für die Angehörigen noch verzweifelt lebendig. Kein Land, das sich nicht im Bürgerkrieg befindet, verzeichnet Derartiges.

Kaum noch ernsthaft bestritten wird, dass Korruption in Mexiko endemisch und systemisch funktioniert. Korruption ist das Schmiermittel, mit dem sich die Knotenpunkte der kriminellen Netzwerke reibungsarm bewegen. Das Land hat 32 Bundesstaaten; vor gut einem Jahr waren 16 Gouverneure wegen Korruption oder dringenden Korruptionsverdachts entweder in Haft, vor Gericht, es wurde gegen sie ermittelt oder sie waren gleich außer Landes geflohen. All dies ist seit langem bekannt und Gegenstand von Debatten; es gibt Programme, auch mit Unterstützung aus dem Ausland, die deutsche Regierung finanziert in Mexiko diverse Maßnahmen, die die Polizeiausbildung und den Rechtsstaat stärken sollen.

Mexiko als scheiternder Staat

Alle genannten Zahlen sind öffentlich und dennoch schwer zu begreifen. Nicht zuletzt, weil sie mit einem im Ausland sehr erfolgreichen und von mexikanischen Offiziellen wohlgepflegten Mexiko-Bild kontrastieren, einem Mexiko voller sonniger Touristenziele, das auf erfolgreiche Unternehmen verweist, knapp 2.000 davon aus Deutschland; wo die großen Banken in der Hauptstadt einen Glaspalast nach dem anderen errichten, wo es eine ordentlich strukturierte Regierung gibt, wo nahezu jedes Amt und jeder Verband eine eigene Menschenrechtskommission herzeigt. Mittlerweile gibt es ein nationales Antikorruptionssystem und Gesetze gegen Folter und Verschwindenlassen.

Doch jene staatlichen Sektoren, die für Sicherheit zu sorgen, das Gewaltmonopol durchzusetzen und Bürger wie Staatsbürger zu behandeln haben – ihnen also etwa zu ihrem Recht verhelfen und ihnen ein Leben in körperlicher Unversehrtheit und Würde ermöglichen –, dieser Staat kommt seiner Verpflichtung nicht nach; in vielen Bereichen bietet Mexiko zahlreiche Behörden auf und ist doch, vom Ergebnis her betrachtet, oft nahe dran, ein scheiternder Staat, ein failing state zu sein. Der so genannte Drogenkrieg ist eigentlich ein Krieg des Staates gegen sich selbst, gegen die eigene Gesellschaft und ihre Zukunft.

Die neue Regierung in Mexiko braucht deshalb Unterstützung, aber auch Druck, von der eigenen Zivilgesellschaft ebenso wie von ausländischen Partnern, deren Unternehmen gerne in Mexiko billig produzieren lassen. Die Forderung nach einer Wahrheitskommission nach dem Vorbild von Guatemala oder Peru wird zu Recht immer lauter. Vor allem aber sollte eine unabhängige, international besetzte Kommission für schwere Menschenrechtsverletzungen mit weitreichenden Ermittlungs- und Strafverfolgungsbefugnissen eingerichtet werden (auch hier ist Guatemala ein Vorbild), die ergänzend zu den Behörden arbeitet.

Die De-facto-Mächte, einschließlich jener in Sicherheitsapparat und Justiz, werden nicht gegen sich selbst ermitteln. Eine solche Maßnahme mag Nationalisten empören. Aber sie kann sie dazu beitragen, die Souveränität des mexikanischen Staates wiederherzustellen.

Eine leicht gekürzte Fassung dieses Textes erschien am 25.06.2018 als „Außenansicht“ in der Süddeutschen Zeitung.