Guatemala: Wo Straflosigkeit mit Hilfe des Rechtsstaats möglich ist

Hintergrund

Straflosigkeit und Korruption – Alltag in Guatemala. Wer dagegen kämpft, sieht sich Bedrohungen ausgesetzt wie die Menschenrechtsverteidigerin Helen Mack. Die staatlichen Institutionen und Verfahren, die für Gerechtigkeit sorgen sollten, fördern stattdessen als treibende Kräfte die Straflosigkeit.

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Was ist der Frieden wert – ohne Kampf gegen Straflosigkeit und Korruption?

Kampf gegen die Korruption vs. Korruption gegen den Kampf

Noch vor wenigen Jahren verdiente Guatemala Bewunderung und Respekt für seine Bürgerbewegung, die sich das Motto vom Kampf gegen die Korruption zu eigen gemacht hatte: Flankiert von den überzeugenden Maßnahmen der Internationalen Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) gelang es 2017, Staatspräsident Otto Pérez Molina und seine Vizepräsidentin, Roxana Baldetti, vor Gericht zu stellen – ein in Zentralamerika bis dahin nie dagewesener Vorgang. Damit vergleichbar waren höchstens die Prozesse gegen Francisco Flores (2015) und später gegen Antonio Saca (2018) in El Salvador; jedoch waren sie bei weitem nicht so durchschlagend.

Zwar zeugte der Absturz zweier Persönlichkeiten wie Molina und Baldetti, die tief in die Korruptionsfälle im Zusammenhang mit dem Zollbetrugsskandal „La Línea“ verstrickt waren, von einem großen Schritt nach vorn, was die Bereiche Justiz und Sicherheit in Guatemala betraf, doch handelte es sich dabei lediglich um die Spitze des Eisbergs. Militärische, wirtschaftliche und politische Strukturen bzw. die in der Staatsmacht fest verankerten Kräfte blieben unangetastet. In diesem Kontext gewann der heute amtierende Präsident Guatemalas, Jimmy Morales, die Wahlen, indem er sich als „anders“ präsentiert hatte, als Kandidat, der weder durch Wahlen noch aufgrund seiner politischen Vergangenheit vorbelastet war. Diese Tendenz hat mittlerweile leider auch in anderen Ländern wie El Salvador Schule gemacht. Ohne Bekenntnis zur Vergangenheit werden die alten militärischen, partei-, finanz- und unternehmenspolitischen Machtstrukturen weiter gefestigt – nur sind sie so weniger sichtbar.

Mithin stellen im Grunde einzig und allein die Untersuchungen der CICIG eine Gefahr für die Staatsmacht und deren Vorgehen dar. Im August 2017 erklärte Staatspräsident Morales jedoch den Leiter der CICIG, Ivan Velásquez, zur persona non grata und läutete damit einen Krieg niedriger Intensität gegen jeglichen Versuch ein, bis dahin lange straflos gebliebene Korruptionsfälle in Guatemala aufzuklären. In einem dieser Fälle waren Personen aus dem direkten Umfeld des Präsidenten verwickelt; in anderen ging es um Wahlkampffinanzierung für politische Parteien aus fragwürdigen Quellen oder auch um Bestechlichkeit der Justiz. Korruption ist nach wie vor in vielen staatlichen Bereichen präsent. Einziges Hindernis ist dabei nur noch die CICIG, weswegen sie unter Beschuss des Präsidenten steht.

Die Bürgerbewegung – Hauptprotagonistin des sogenannten „guatemaltekischen Frühlings“ – unterstützte und erreichte letztlich zwar die Absetzung von Personen wie Pérez Molina und Baldetti, doch sind ihre Demonstrationen in jüngster Zeit zurückgegangen. Problematisch daran ist, dass dadurch im Wesentlichen nur noch der Staat bleibt, von dem die Entwicklung von Lösungsstrategien im Land erwartet wird.

Die Flut von Klagen und Rechtsmitteln, mit denen hoch angesehene Persönlichkeiten aus der Zivilgesellschaft wie beispielsweise Helen Mack überzogen werden, zeigen aber überdeutlich, dass staatliche Kläger den Rechtsstaat lediglich dazu benutzen, Einzelpersonen und Vereinigungen, die für Gerechtigkeit kämpfen, zu zermürben und scheitern zu lassen. Dass gerade diejenigen Institutionen und Verfahren, die für Gerechtigkeit sorgen sollten, stattdessen als treibende Kräfte die Straflosigkeit fördern, ist heute Guatemalas größtes Paradox.

Guatemala am 17. Januar 2019: ein belagertes Land am Scheideweg

Rein deskriptiv betrachtet haben sich nur wenige Institutionen auf der Grundlage der in der Verfassung festgeschriebenen Rechte und Pflichten konsequent für die Bewahrung des Landes vor Straflosigkeit eingesetzt. Einige davon, wie die Ombudsstelle für Menschenrechte (Procuraduría de Derechos Humanos), können sich angesichts der Dauerkrise in Guatemala als Stimme des Protests behaupten. In diesem Zusammenhang auffällig sind die unverhältnismäßigen Angriffe gegen das Verfassungsgericht. Es gehört mittlerweile zu denjenigen Institutionen, die in zahlreichen Fällen die verfassungsmäßigen Rechte in Guatemala geachtet und verteidigt haben. In der direkten Auseinandersetzung zwischen Staatspräsident Morales und der CICIG hat das Verfassungsgericht immer wieder den notwendigen Mut bewiesen und die CICIG mit schlagkräftigen rechtlichen Argumenten zum Nutzen der guatemaltekischen Gesellschaft verteidigt - unfassbar bzw. unangenehm für diejenigen, die von ihren Regierungsrängen aus versuchen, die Justiz zu behindern.

Am 17. Januar 2019 setzte der guatemaltekische Kongress, in dem mehrheitlich konservative, mit der alten Staatsmacht verbündete Abgeordnete vertreten sind, das Vorverfahren („antejuicio“) gegen drei Richter des Verfassungsgerichts fort, der einzigen Institution, der es bisher gelungen ist, überaus fragwürdigen Verfügungen von Staatspräsident Morales unmittelbar entgegenzutreten und einige der Maßnahmen zu stoppen, die als Verstöße gegen internationale, auch für Guatemala geltende Menschenrechtsvereinbarungen gewertet wurden. Mittlerweile läuft das Verfassungsgericht Gefahr, durch solche „legalen“ Tricks behindert zu werden. Damit würde bei Entscheidungen des Staatspräsidenten und des Kongresses ein Nährboden für völlige Straflosigkeit bereitet. Das Verfassungsgericht wäre in seinen Handlungsspielräumen eingeschränkt und durch eine mögliche Neubesetzung von Richterposten mit Gefolgsleuten der Regierung bei den 2020 anstehenden internen Wahlen geschwächt.

Ebenfalls am 17. Januar 2019 unterzeichneten in den USA 47 Kongressabgeordnete ein Schreiben an US-Präsident Donald Trump mit der Bitte, die Hilfen für die Morales-Regierung zu kürzen und Sanktionen gegen sie zu verhängen. Begründet wurde dies mit den ständigen Versuchen, die Ermittlungen in Korruptionsfällen zu stoppen, die der guatemaltekischen Gesellschaft schaden. Diese Abgeordneten und weitere Gruppen in den USA sind davon überzeugt, dass solche Tricks gerade seitens der staatlichen Stellen nicht nur die Straflosigkeit begünstigen, sondern auch zur Zwangsemigration in Richtung Nordamerika führen. Trump gilt nicht als Verbündeter Zentralamerikas. Insofern ist zu erwarten, dass er auf das Phänomen der Migrant/innenströme jüngster Zeit mit Repression reagieren wird. Eine seiner möglichen Antworten könnte darin bestehen, Sanktionen gegen diejenigen zu verhängen, die sich der Korruption schuldig machen oder sie begünstigen. Auch Staatspräsident Morales und die aufgrund von illegaler Finanzierung im Kongress vertretenen Kräfte könnten von möglichen Sanktionen betroffen sein.

Doch nicht nur außenstehende Gruppen setzen auf ein gerichtliches Vorgehen gegen die Korruption. Persönlichkeiten wie die Menschenrechtsaktivistin Helen Mack, die wegen ihres Kampfes gegen die Straflosigkeit in Guatemala hohes Ansehen genießt, sind sich darüber im Klaren, dass der Rechtsweg am ehesten dazu geeignet ist, einerseits die Regeln des Rechtsstaats zu achten und andererseits demokratiefeindlichen Entschließungsanträgen entgegenzutreten.

Ausgerechnet am 17. Januar reichte Helen Mack Klage gegen 12 Richter des Obersten Gerichtshofs ein, nachdem sie verfahrensrechtliche Unregelmäßigkeiten entdeckt hatte, durch die der Abgeordnete Felipe Alejos Lorenzana in seiner Immunität weiterhin geschützt wäre. Dabei ging es um dessen mutmaßliche Beteiligung in einem Bestechungsfall, wo durch entsprechende Schmiergeldzahlungen die Rückerstattung von Steuern beschleunigt werden sollte. Die fraglichen Richter des Obersten Gerichtshofs hatten sich gegen die Aufhebung der Immunität von Alejos Lorenzana ausgesprochen, so dass weder über seine Unschuld noch über seine Schuld per Gerichtsurteil entschieden werden konnte. Helen Mack ist davon überzeugt, dass solche Maßnahmen einen Angriff auf die Demokratie in Guatemala darstellen. Durch ihre Klage werden die Machtstrukturen und Eliten in Frage gestellt, die den Staat zu ihrem eigenen wirtschaftlichen und machtpolitischen Vorteil missbrauchen wollen. In den 1980er Jahren hatte die Staatsmacht auf derartige Versuche, die Menschenrechte zu wahren, mit Drohungen reagiert und schließlich auch zu äußersten Mitteln wie dem Mord an Aktivist/innen gegriffen, so geschehen im konkreten Fall von Myrna Mack, Helens Schwester, die auf bestialische Art und Weise ermordet wurde. Nun könnte man denken, dass es in demokratischer Hinsicht Fortschritte gibt, und verglichen mit den Bedingungen zur Zeit des Bürgerkrieges in Guatemala ist dies auch tatsächlich der Fall. Die alten politischen, militärischen und ökonomischen Strukturen bzw. die Staatsmacht erweisen sich allerdings als weitgehend unfähig, die als „Demokratie“ bezeichneten Spielregeln einzuhalten und den Rechtsstaat zu achten. Am 17. Januar wurde Helen Mack beim Abendessen mit ihrer Familie in einem Restaurant von vier bewaffneten Männern bedroht: ein klarer Einschüchterungsversuch.
Wenn der Kampf um Menschenrechte und Gerechtigkeit in eine direkte Konfrontation mit Korruption und Straflosigkeit mündet, wird es weiterhin solche Drohungen geben, sofern die Ausprägungsformen von Straflosigkeit und Korruption in Guatemala dieselben bleiben wie bisher. Deshalb ist nicht nur Helen Mack in Gefahr, sondern alle Menschen, die gegen die systematische Zerschlagung der Demokratie protestieren.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass im guatemaltekischen Kongress ebenfalls am 17. Januar die Debatte über ein nationales Versöhnungsgesetz begann, das neben anderen Rechtsfolgen auch eine Amnestie für Militärs beinhalten könnte, die während des Krieges in Guatemala Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Versuche, Verfahren wiederaufzugreifen, die im Zuge der Friedensvereinbarungen in Guatemala schon gewonnen waren, malen ein düsteres Bild. Aus vergleichbaren Prozessen wie in El Salvador wird mehr als deutlich, dass Straflosigkeit und Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft nur noch größere Ausmaße annehmen, wenn Kriegsverbrechen nicht gerichtlich verfolgt werden. Begriffe wie „Übergangsjustiz“ sind ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Schuldenlasten der Vergangenheit unter den Teppich gekehrt werden sollen. Für die Opfer und ihre Angehörigen jedoch bleiben sie präsent.

Wahlen: Zukunft und Vergangenheit für Guatemala

Vor diesem Hintergrund werden die Wahlen im Juni dieses Jahres nur ein schwaches Abbild des Rechtsstaates sein. Bekanntermaßen wird sich Thelma Aldana, ehemalige Generalstaatsanwältin Guatemalas und Unterstützerin der Arbeit der CICIG, möglicherweise um das Amt der Staatspräsidentin bewerben. Für die politischen Parteien, die Präsident Morales und somit all jenen Kräften nahestehen, die Korruptionsdelikte begangen haben oder sich einfach nur im Windschatten der Straflosigkeit bewegen, ist dieses Ansinnen wenig erfreulich. Die derzeitigen Bestrebungen, eine Kandidatur Aldanas zu verhindern, zeigen sich darin, dass politische Gruppierungen wie Encuentro por Guatemala, die Aldana als Plattform offenstehen könnten, vom Kongress in Frage gestellt werden. Dies gilt als Ausdruck der Machtausübung durch Strukturen, die selbst vor repressiven, gewalttätigen Mitteln nicht zurückschrecken, um diese Macht zu bewahren. Die Drohungen gegen Helen Mack sind nur ein „historisches“, der Druck auf Aldana ein vornehmlich wahlpolitisches Beispiel dafür.
Als weitere Bewerberin und Kandidatin der Oppositionspartei UNE (Unidad Nacional de la Esperanza - Nationale Einheit der Hoffnung) steht Sandra Torres fest. Die UNE stellte mit Álvaro Colom bereits 2007 einen Präsidenten. Sandra Torres hat eine Vorgeschichte im politischen Leben Guatemalas. Hierzu gehört auch ihre Wahlniederlage 2015 gegen den derzeitigen Präsidenten Morales. Zwar hat die UNE durchaus Chancen, doch haben mehrere Parteien der Rechten und der Mitte bereits ihre Kandidaturen festgelegt, und mit 20 verschiedenen Wahlparteien erweist sich die wahlpolitische Landschaft nach dem letzten Ergebnis als schwierig: Morales wurde Präsident, weil er seine Chance nach dem Absturz von Otto Pérez Molina und das wachsende Misstrauen der Bevölkerung gegen die traditionellen Parteien nutzte. Als gesichert kann einzig und allein gelten, dass der Wahlkampf in einer angespannten Atmosphäre stattfinden wird, da die CICIG aufgrund der gegen sie gerichteten Zwangs- und Boykottmaßnahmen der Regierung nicht in Guatemala tätig sein kann, die Vereinigten Staaten mit Sanktionen Druck ausüben könnten – sofern es für sie von Nutzen ist – und Institutionen wie das guatemaltekische Verfassungsgericht, die für die Wahrung des Rechtsstaats sorgen, auf Schritt und Tritt überwacht und schikaniert werden.

Im Oktober 2018 erarbeitete der guatemaltekische Kongress einen Straflosigkeitspakt mit Reformen zugunsten derjenigen, die sich der illegalen Wahlkampffinanzierung schuldig gemacht haben. Nutznießer der Vereinbarung sind letztlich bestimmte Einzelpersonen und Institutionen, beispielsweise aus dem Umfeld des Unternehmerverbandes CACIF (Comité Coordinador de Asociaciones Agrícolas, Comerciales, Industriales y Financieras) als Symbol der faktischen ökonomischen Macht in Guatemala, durch den Genuss von Steuergeschenken bzw. Steuerflucht, Politiker zweifelhafter Herkunft und kriminelle Gruppierungen, die auf der Suche nach Geldwäschemöglichkeiten sind. Dies stützt die These, dass die Wahlen 2019 auch von einer geringen Transparenz im Hinblick auf den Umgang mit politischen Finanzmitteln geprägt sein werden. So entsteht eine Atmosphäre der Unwägbarkeit darüber, welche Personen sich derzeit den politischen Willen erkaufen, ohne zuvor die erforderlichen Stimmen für die Ausübung eines öffentlichen Amtes überhaupt erreicht zu haben, und was sie möglicherweise als Gegenleistung dafür von staatlicher Seite erhalten.

Kennzeichnend für die Lage in Guatemala sind schwache demokratische Institutionen und die wahrscheinliche Ablösung der derzeitigen Regierung. Vor dem Hintergrund der Ereignisse und Entwicklungen dieser Tage zeichnet sich ab, dass die Bevölkerung, die soziale Bewegung wiederaufleben und als historisches Druckmittel wirken könnten. Das Kräfteverhältnis hängt einzig und allein vom Gegengewicht der Gesellschaft ab. In Guatemala schlägt das Pendel derzeit nach der Seite des politischen Handelns aus, das noch an die frühere Straflosigkeit gewöhnt ist. Es darf nicht geschehen, dass das Land allmählich immer mehr zum Missbrauchsopfer seines eigenen Staates wird.

Übersetzung aus dem Spanischen von: Beate Engelhardt