Der Libanon erhebt sich

Hintergrund

Die Proteste im Libanon brechen mit gesellschaftlichen Tabus. Das erste Mal seit dem Ende des Bürgerkrieges gibt es einen einheitlichen Ruf gegen frappierende Korruption und Frauen stehen an vorderster Front der Proteste.

Der Libanon erhebt sich - Graffiti der libanesischen Flagge

„Zum ersten Mal in der Geschichte der Republik fordert die Mehrheit der Libanes/innen im In- und Ausland die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse. Mit Würde als Mensch behandelt werden, Grundrechte für jeden Bürger und ohne politisches Vitamin B gleichbehandelt werden. Die Menschen haben es satt, die Hände der Mächtigen zu küssen und um ihre Rechte zu betteln“, schrieb Aktivistin Lamia Masri in einem Facebook-Post am achten Tag der massiven Proteste im Libanon.

Als die Proteste am 17. Oktober begannen, sah es so aus, als würde es sich eine Wiederholung der „You stink“! Demonstrationen handeln, bei denen im Jahr 2015 Menschen auf die Straße gingen, um gegen die Müllkrise zu protestieren. Bald wurde jedoch klar, dass es sich um etwas Größeres handelte, da die Proteste im ganzen Land ausbrachen, über alle Glaubensrichtungen hinweg.

Anfänglich waren die Proteste eine Reaktion auf massive Waldbrände, die die Berggebiete des Landes verwüsteten. Da die Ausrüstung und das notwendige Personal entweder nicht vorhanden oder schlecht gewartet waren, war die Regierung nicht in der Lage angemessen zu reagieren und die Brände zu löschen. Schon fast höhnisch, kündigte die Regierung daraufhin auch noch einen Plan zur Besteuerung von WhatsApp-Anrufen an, die das wichtigste Kommunikationsmittel gerade für ärmere Libanes/innen darstellen. Bei diesem Vorstoß handeltet es sich tatsächlich um den Tropfen, der das Fass zum Überlaufen und die Menschen in großer Zahl auf die Straße brachte.

Glaube statt Staat

Vor der gegenwärtigen Protestwelle, die von den Demonstrant/innen selbst als Revolution bezeichnet wird, war es vor allem die individuelle Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, die das Leben des Einzelnen bestimmte. Im Libanon gibt es ganze 18 solcher Glaubensgemeinschaften. Das öffentliche Leben wird nicht durch einen einheitlichen Staat geregelt, sondern durch die Führungspersönlichkeiten der jeweiligen Gemeinschaft. Wenn Libanes/innen ein Geschäft eröffnen wollen, einen besseren Job oder sogar einen Partner finden möchten, müssen sie sich auf diese Strukturen verlassen. Viele sind von diesem System frustriert und sehnen sich danach, ungeachtet dieser starren Strukturen leben zu können.

Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass diese verknöcherte Struktur allein durch Proteste abgeschafft wird. Die Machtstrukturen sind tief und ihre Nutznießer werden sich bis aufs Äußerste verteidigen. Aber in den letzten Tagen ist sehr deutlich geworden, dass die Menschen sich danach sehnen mehr als christlich, schiitisch, sunnitisch oder drusisch zu sein - sie sehnen sich danach libanesisch zu sein. Sie sehnen sich nach Solidarität und Einheit, die sie seit Jahrzehnten nicht gespürt haben. Die gemeinsamen Anstrengungen aller Glaubensgemeinschaften im Zuge dieser Proteste sind somit eine einzigartige Entwicklung.

Zum ersten Mal protestieren auch Menschen in Gebieten, die von einer Partei oder Bewegung kontrolliert werden - und andere zeigen ihre Solidarität. Als friedliche Demonstrant/innen in Nabatieh, einer Hochburg der schiitischen Hisbollah- und Amal-Bewegung im Südlibanon, gewaltsam angegriffen wurden, riefen Libanes/innen aller Konfessionsgruppen schnell zur Unterstützung auf und nannten Nabatieh „das Herz der Revolution“. Die Menschenrechtsaktivistin Bissan Fakih schrieb deswegen: „In der vergangenen Woche der Revolution haben sich viele Beziehungen verändert im Libanon. Zwischen Städten, Glaubensgruppen und herrschenden Klassen.“

Frauen an vorderster Front

Eine weitere wichtige Entwicklung der jüngsten Proteste ist die massive Beteiligung und Führungsrolle von Frauen. Die Tatsache, dass der Libanon eine feministische Bewegung hat, wird oft übersehen, obwohl die Bewegung eine starke Basis unter Akademiker/innen und Aktivist/innen und auch darüber hinaus hat. Beispielsweise haben sich während des internationalen Frauentags im März diesen Jahres Libanesinnen zusammen mit weiblichen Hausangestellten, Mitgliedern der LGBTI Community und Flüchtlingsfrauen zusammengeschlossen.

Feministinnen sind auch aktiv an der Organisation der aktuellen Proteste sowie der Verbreitung von Forderungen beteiligt. Als solche werden sie von verschiedenen Seiten, auch aus dem Ausland, fetischisiert. Alaa, der Sohn des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak, teilte auf sozialen Medien ein Bild von libanesischen Demonstrantinnen mit dem Kommentar: „Wenn solche Leute am 25. Januar hierhergekommen wären, wären Alaa und Gamal selbst auf den Platz gegangen und hätten gegen ihren Vater protestiert“. Diese sexistische Rhetorik wurde auch in den arabischsprachigen Medien verbreitet, so nannte eine saudische Zeitschrift die Demonstrantinnen zum Beispiel abwertend „heiße Babes“.

Angesichts all dessen sagt die feministische Aktivistin Maya Ammar: „Mit Revolutionen romantisieren und verzaubern sie fast alles, einschließlich Sexismus und patriarchale Formen von Wut, denn letztendlich bilden diese tatsächlich die Sprache der Straßen, die immer noch Männerdomäne sind. Einige sehen öffentlichen Raum immer noch nur in den Augen der Männer, aber niemals in den Augen der Mädchen, die diese Straßen mit ihnen teilen wollten.“

„Randthemen“ im Rampenlicht

Da diese Proteste verschiedene Glaubensgemeinschaften, Altersgruppen, Geschlechter und Lebensbereiche umfassen, kommen viele Themen, die bis jetzt nur unter der Oberfläche geköchelt haben, endgültig in den öffentlichen Diskurs. Dies ist eine gewaltige Herausforderung für die patriarchale Ordnung sowie für religiöse Machtstrukturen.

Zum Beispiel geht es um die Rechte der Frauen als Bürgerinnen. Sie können ihre Staatsbürgerschaft nicht an ihre Kinder weitergeben. Das bedeutet, dass Kinder von Frauen, die mit einem nicht-libanesischen Mann verheiratet sind, keine Staatsbürger werden können und somit nicht die gleichen Rechte haben. Vor diesem Hintergrund sammelte die Kampagne zum Recht der libanesischen Frauen auf Staatsangehörigkeit Schilder von Protesten innerhalb und außerhalb des Libanon. Auf einem der Schilder, das von einem Jungen in Washington DC gehalten wird, steht: "Um die Staatsbürgerschaft meiner Mutter gebracht, stehe ich trotzdem zum Libanon".

Ein weiteres wichtiges Thema betrifft die Ehe zwischen Glaubensgemeinschaften. Bis heute können Menschen verschiedenen Glaubens im Libanon nicht heiraten. Wenn sie trotzdem zusammenleben wollen, sind sie gezwungen eine bürgerliche Ehe außerhalb des Landes, zum Beispiel auf Zypern, zu schließen. Dieses Verbot hat vor allem bei der jüngeren Generation für viel Frustration gesorgt. Oft wird auf solche bürgerlichen Ehen herabgesehen und einige Familien weigern sich sogar gänzlich, Partner/innen eines anderen Glaubens zu akzeptieren. So schrieb ein Demonstrant auf sein Plakat: „In diesem Land kann ich dich nicht heiraten, aber ich kann dich lieben.“

Die Situation drohte kürzlich zu kippen, als es in der Nähe von Beirut zu Gewalt kam. In den ersten Tagen gab es den Versuch die Armee einzusetzen, um die Straßensperren auf der Autobahn zu beseitigen, die die Zivilbevölkerung errichtet hatte, um das Land zu lähmen und die Regierung so zum Handeln zu zwingen. Sobald bekannt wurde, dass die Armee den Befehl zur Gewaltanwendung hatte, überfluteten viele Menschen die Autobahn. Bemerkenswerterweise bestand die erste Reihe der Demonstration größtenteils aus Frauen, die ebenso entschlossen wie friedlich auftraten. Sie bildeten eine Linie zwischen den Soldaten und den männlichen Demonstranten, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhindern.

Was auch immer der nächste Schritt sein wird, eines ist im Zuge der aktuellen Proteste sicher: Viele soziale Tabus der Nachkriegszeit wurden gebrochen. Als Beweis dafür erklären viele Bilder, die in den sozialen Medien und auf WhatsApp kursieren, den Bürgerkrieg endgültig für beendet. Jetzt gilt es, die sozialen Errungenschaften der vergangenen Tage für die Zukunft zu festigen. Nichtsdestotrotz ist genau dies Neuland für den Libanon.


Der Artikel erschien zuerst in englischer Sprache auf disorient.de