(Br)-exiting London for Berlin

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Der Brexit droht die notwendige Bewegungsfreiheit im internationalen Raum für britische Künstler/innen, Autor/innen und Kulturschaffende zu beschränken. Deshalb zieht es viele nun nach Berlin.

(Br)-exiting London for Berlin - Bild: Kunstausstellung im Tate Modern Museum

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache, 96 Prozent des kreativen Sektors in Großbritannien stimmten 2016 für „Remain“[1]. Keine andere Branche sprach sich beim Referendum so eindeutig gegen das Austreten aus der Europäischen Union aus. Dies scheint wenig überraschend, ist auch kaum eine andere Branche den Werten der Brexit-Befürworter/innen so diametral gegenübergestellt. Ob Bildende Künstler/innen, Autor/innen, Musiker/innen und Kulturschaffende jeder Couleur, ihr Arbeiten basiert auf einem ständigen Austausch von Ideen, Informationen, Inspirationen, und das über nationale Grenzen hinweg. Sie sind abhängig von der Bewegungsfreiheit im internationalen Raum und sie sind auch als erstes betroffen, wenn öffentliche Gelder für Kulturprojekte gekürzt oder EU-Fördermittel eingefroren werden.


Seit dem Brexit–Votum 2016 hat sich die Situation für viele Kreative in London erheblich verschärft. Vor allem die seitdem andauernde Ungewissheit darüber, wann, wie und mit welchem Deal die Brit/innen aus der EU austreten, hat dazu geführt, dass Projekte auf Eis gelegt oder sogar komplett gecancelt werden und britische Kulturschaffende so um ihre Existenz fürchten müssen. Dass diese Ungewissheit konkrete Konsequenzen hat, ist auf dem Londoner Kunstmarkt bereits bitter zu spüren. So titelten Guardian[2] und New York Times[3] erst im Oktober, London drohe seine hervorgehobene Stellung auf dem Weltmarkt an Paris zu verlieren. Bedeutende Kunsthändler wie David Zwirner und die Gallery White Cube öffneten bereits Dependancen in der französischen Hauptstadt und ziehen so weitere internationale Galerien aus den USA und Asien nach Paris an. Galerist Zwirner begründete den Umzug damit, dass es zentral wäre, die europäische Identität seiner Galerien zu bewahren, etwas, was in London nun nicht mehr gegeben sei.


Doch britische Kulturschaffende zieht es neben Paris seit einigen Jahren auch immer stärker nach Berlin. Der Zulauf britischer Bürger/innen ist nicht erst seit dem Referendum 2016 zu spüren, doch stellt der Brexit einen erheblichen Push-Faktor dar, der die Zahlen der Einwanderung und Einbürgerung verzwölffacht hat[4]. Ließen sich 2015 gerade 109 Briten in Berlin einbürgern, so stieg die Zahl in den darauffolgenden zwei Jahren auf 1.272, darunter auch viele Kreative und Künstler/innen.


Simon Walton, Dirigent, Sänger und Gesangslehrer, der seit mehr als 20 Jahren in London und Berlin in verschiedenen Orchestern tätig ist, unterstreicht, dass der Job des Künstlers, per definitionem bereits durch sehr viele Unsicherheiten geprägt ist: „Man weiß nie, ob man das nächste Mal noch engagiert wird oder einen Auftrag erhält, viele arbeiten als Freiberufler/innen. Der Brexit hat diese Ungewissheit noch verstärkt. Aber wir wissen, dass man in Deutschland besser sozial abgesichert ist, als in anderen Ländern. Auch das macht die große Anziehungskraft von Berlin oder Deutschland insgesamt aus.“ Darüber hinaus, gibt Walton an, sind die Mieten und Lebenshaltungskosten im Vergleich zu London für viele in Berlin bezahlbar(er).


Doch nicht nur die Unsicherheit, wohin der Brexit führen wird und ob Engagement und Projekte dann überhaupt noch zustande kommen, sind Grund für die Abwanderung. Auch der Ton des öffentlichen Diskurses hat sich in Großbritannien seit Jahren erheblich verschärft und ist für einige unerträglich geworden. ‚Hate speech’ und ‚hate crime’ haben seit dem Brexit zugenommen, rassistische und antisemitische Anfeindungen von Minderheiten im öffentlichen Raum  haben eine neue Zuspitzung erfahren. Die Spaltung zwischen „Remain“ und „Leave“ zieht sich durch Freundeskreise, Kollegien und Familien.


Gesa Stedman, Professorin für Britische Kultur und Literatur am Centre for British Studies an der Humboldt Universität in Berlin, bestätigt diese Entwicklungen und unterstreicht, dass die Verschärfung des politischen Diskurses vor allem durch die Rhetorik der politischen Eliten befördert wird. „Sie können statistisch nachvollziehen, dass Boris Johnson sich an einem Tag hinstellt und eine Rede hält und die Verschleierung von Frauen im Niqab angreift und am nächsten Tag, ‚hate speech’ und ‚hate crime’ gegen muslimische Frauen zunehmen. The facts are there.“[5] Die Enttabuisierung rassistischer und ausländerfeindlicher Rhetorik führt Stedman als bedeutenden Grund an, warum sich viele aus der Kulturszene entscheiden London für Berlin zu verlassen. „Die Atmosphäre ist einfach zu erstickend geworden. Man hält es dort nicht mehr aus.“


Auch für Emma Rothmann[6] wurde die Atmosphäre in London zu beengend. Die englische Mezzosopranistin, geboren und aufgewachsen in London, nahm noch vor dem 29. März 2019? die deutsche Staatsbürgerschaft an, um im Falle des Brexit weiter international als Opernsängerin engagiert zu werden. Der Entschluss vor einigen Jahren nach Berlin zu gehen, hatte für Rothmann dabei zwei bedeutende Gründe. Zunächst sind die Jobchancen in Deutschland für Opernsänger/innen sehr viel besser, die Fülle an Theatern und Opernhäusern bietet eine größere Aussicht auf eine gutbezahlte Anstellung. Gleichzeitig hatte Rothmann aber auch einen besonders persönlichen Grund, nach Berlin zu gehen. „Ich identifiziere mich seit Jahren als queere Frau und ich habe mich deshalb immer etwas abseits von meiner britischen Kultur gefühlt, gerade weil es dort noch sehr starre Gender-und Geschlechterrollen für Frauen und Männer gibt. Ich bin in London aufgewachsen, ich bin also kein Mädchen aus der Kleinstadt, und trotzdem, was man in Berlin spürt ist eine größere Freiheit. Ich werde für meine Identität hier weniger angeschaut. Berlin ist ein besonderer Ort, vielleicht auch weil man aus dem Ausland ist und sich hier neu definieren kann.“


Zumindest eine positive Entwicklung seit dem Referendum sieht Gesa Stedman darin, dass es für britische Künstler/innen jeden Fachs heute essentiell geworden ist, sich politisch zu äußern und durch ihre Kunst politisch Stellung zu beziehen. „Egal ob sie noch auf der Insel sind oder hier in Berlin, es macht einen großen Unterschied, einfach einen Roman zu schreiben, der nur unterhalten will, oder einen Roman, der die aktuellen Fragen um politische Identität, Nationalität und Europa offen verhandelt. Oder, als Beispiel, ob sie einfach ein nettes Kochbuch schreiben wollen oder hier in Berlin ein Kochbuch mit Rezepten von Menschen verschiedener Nationalitäten und Geflüchteter zusammenstellen. Das ist ein politisches Statement. Es gibt heute keine britische Künstler/in, die nicht ihre politische Meinung zum Brexit äußert. Das sehe ich auch als Aufgabe von Kunst an, in diesen turbulenten Zeiten.“


[1] https://www.gbz.hu-berlin.de/downloads/pdf/brexti_culture_druckversion_website.pdf

[2] https://www.theguardian.com/artanddesign/2019/oct/12/brexart-sees-london-galleries-move-to-paris

[3] https://www.nytimes.com/2019/10/18/arts/paris-brexit-fiac-david-zwirner.html

[4] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2019/05/berlin-brandenburg-einbuergerung-briten.html

[5] Zu diesem Ergebnis kam eine Analyse der Monitoring Group „Tell Mama“ in ihrem Annual Report 2019 https://www.theguardian.com/politics/2019/sep/02/boris-johnsons-burqa-comments-led-to-surge-in-anti-muslim-attacks

[6] Heute lebt Emma in Görlitz und ist dort festes Ensemblemitglied im Opernchor.