Green New State? Infrastrukturen, Nachhaltigkeit und langfristige Investitionen

Veranstaltungsbericht

Die Frage nach (staatlichen) Investitionen steht gegenwärtig auf der politischen Tagesordnung. Die gestiegene Erwartung an grüne Politik erfordert die Formulierung eines Profils für gerechte Teilhabe und ökologische Modernisierung. Diesen Fragen widmete sich die Grüne Akademie im Rahmen ihrer Neujahrstagung.

Neujahrstagung der Grünen Akademie 2020

Unter dem Motto „Green New State? Infrastrukturen, Nachhaltigkeit und langfristige Investitionen“ trafen sich die Mitglieder der Grünen Akademie, um zwei Tage über den drängenden Investitionsbedarf in der Gesellschaft und über die Bedeutung von Infrastruktur für eine nachhaltige, ökologisch-soziale Transformationspolitik zu diskutieren.

Investitionen aus ökonomischer und politischer Sicht: Zwischen fiskalischer Verantwortung und sozialem Anspruch

Michael Thöne (Universität Köln) eröffnete die Tagung mit einem Vortrag. Der Ausgangspunkt war eine politik- und wirtschaftswissenschaftliche Klärung des Investitionsbegriffes. Bei staatlichen Investitionen handele es sich um gemeinwohlorientierte, zukunftswirksame Ausgaben der öffentlichen Hand. Die Zukunftswirksamkeit sei hier zentral. Natürlich erwiesen sich nicht alle Investitionen als gut und erfolgreich.

Die berühmten nie an das Verkehrsnetz angebundenen „So-da-Brücken“ zeigten sehr eindrücklich, dass sich nicht jede Investition amortisiere. Dennoch sei es entscheidend, den langfristigen Nutzen von staatlichen Infrastrukturausgaben zu betonen. Infrastruktur stelle die Grundlage dar, auf der das gesellschaftliche Leben – der Gegenwart und der Zukunft – stattfinde.

Das fiskalpolitische Instrument der sogenannten Goldenen Regel, welches es dem Staat erlaube, Ausgaben, von denen auch zukünftige Generationen profitierten, durch Schulden zu finanzieren, habe hier in der Vergangenheit eine gute Orientierung geboten und könne auch in Zukunft einer verfehlten Sparpolitik vorbeugen.

Zugleich warnte Thöne vor einer vollständigen Revision der verfassungsrechtlichen Schuldenbremse, wie sie von vielen (teils grünen) Politiker/innen gefordert werde. Da inzwischen bereits von einer neuen Staatsschuldenblase gesprochen werden müsse, erscheine ihm eine übermäßige Neuverschuldung nicht ratsam.

Die Befürworter/innen einer lockeren Fiskalpolitik würden zudem ein tieferliegendes politisches Problem ignorieren. Die gegenwärtige Investitionskrise zeichne sich schon seit 2003 ab und habe ihren Ursprung deshalb nicht in der 2009 beschlossenen Schuldenbremse. Ein leicht zu übersehendes, strukturelles Problem sei, dass die Kosten für Zukunftsinvestitionen sofort anfielen, während ihr Nutzen zumeist erst über einen längeren Zeitraum sichtbar werde. Somit konkurrierten sie direkt mit politisch attraktiveren Sofortmaßnahmen und erschienen Entscheidungsträger/innen weniger opportun.

Deutschland als ein grundsätzlich sehr wohlhabendes Land erliege zu oft der Versuchung, gesellschaftliche Konflikte durch Geld zu lösen, anstatt sie auszuhalten oder politisch auszutragen. Es müsse also darum gehen, die Attraktivität von Zukunftsausgaben gegenüber Ausgaben für Gegenwarts- und Vergangenheitszwecke zu steigern. Ein Weg sei hier ohne Zweifel, die Umsetzung von Infrastrukturprojekten zu beschleunigen und damit die (fast) unmittelbare politische Fühlbarkeit zu erhöhen.

Diesem Plädoyer schloss sich Mona Neubaur (Landesvorsitzende von Bündnis 90/Grüne NRW) an. Die Politik müsse den Beweis antreten, dass sie in der Lage sei, Planungsbeschleunigungen zu erreichen. Allerdings seien eine erfolgreiche Zukunftspolitik und Infrastrukturinvestitionen nur dann möglich, wenn es zugleich gelänge, Bilder eines guten zukünftigen Lebens zu entwerfen und diese an notwendige Zukunftsinvestitionen zu knüpfen. In Nordrhein-Westfalen, mit seiner langen, stolzen Industriegeschichte, ließe sich etwa der Begriff des Wirtschaftswunders im Rahmen der Energie- und Industriewende positiv besetzen.

Investieren in soziale Räume: Ansätze und Strategien

Im abendlichen Salongespräch sprach Ellen Ueberschär (Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung) mit Jens-Holger Kirchner (Beauftragter der Berliner Senatskanzlei für die Koordinierung größerer Stadtentwicklungsprojekte) über Ansätze und Strategien für Investitionen in kommunale Räume. Mit Blick auf Berlin betonte Kirchner zunächst, dass sich die heutigen Herausforderungen nicht verstehen ließen, ohne die wechselhafte Geschichte der Stadt – besonders die lange Teilung und den Verfall des Ostens – zu berücksichtigen.

Zwar mangele es Berlin nicht länger an den finanziellen Mitteln, dafür befände es sich nun durch den langjährigen Modernisierungsstau in einer Investitionsfalle. Jedes Sanierungs- oder Neubauprojekt, gerade im Bereich der Mobilitätsinfrastruktur, sei mit erheblichen Einschränkungen des Stadtlebens verbunden und laufe im schlimmsten Fall Gefahr, Teile der Stadt lahmzulegen.

Unter diesen Voraussetzungen sei es Aufgabe der Politik, die Bürger/innen vor Ort wie auch die Stadtgesellschaft als Ganzes mitzunehmen und bei größeren Projekten ausreichend Mittel für eine effektive Kommunikation einzuplanen. Zu einer solchen Kommunikation gehöre es, die Bürger/innen über die Unterschiede zwischen verschiedenen Formen der Beteiligung aufzuklären und so Missverständnissen und späteren Enttäuschungen vorzubeugen.

In diesem Sinne gelte es, ebenfalls einen offenen Dialog darüber zu führen, wie eine gelungene Balance zwischen Individualinteressen und dem Gemeinwohl in einer rapide wachsenden Stadt wie Berlin aussehen könne. Eine weitere Herausforderung sei es ohne Zweifel, in der Vergangenheit rückgebaute Planungskapazitäten wiederaufzubauen. Berlin konkurriere hier mit anderen Metropolregionen und der Privatwirtschaft um qualifizierte Arbeitskräfte, denn ohne ausreichend Brückeningenieur/innen oder Schulplaner/innen ließen sich auch unter finanziell guten Voraussetzungen keine ambitionierten Projekte umsetzen.

Infrastruktur als Grundlage moderner Gesellschaften: Perspektiven der Gestaltung

Mit einem politiktheoretisch fundierten Aufschlag eröffnete Peter Siller (Leiter der Abteilung Inland der Heinrich-Böll-Stiftung) den zweiten Tag. Verstehe man Infrastruktur als den Boden oder Rahmen gesellschaftlichen Handelns und Zusammenlebens, erfordere dies die Formulierung einer positiven Gesellschaftsvision. Eine grüne Vision von Gesellschaft zeichne sich durch die Betonung sozialer, demokratischer und ökologischer Teilhabe aus.

Ein solcher Ansatz von Teilhabe sei dem historisch belasteten Begriff der Daseinsfürsorge vorzuziehen und verhindere zugleich die Verengung des Infrastrukturdiskurses auf finanz- und planungspolitische Fragen. Eine Krise oder Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit, wie sie zuletzt oft in Literatur und Medien konstatiert worden sei, könne nicht zuletzt als das Herausfallen vieler Menschen aus öffentlichen Infrastrukturen, also als ein Mangel an Teilhabemöglichkeiten, begriffen werden.

Siller berichtete weiter, dass sich die Heinrich-Böll-Stiftung in den vergangenen Jahren intensiv mit der Frage der Teilhabe beschäftigt habe und mit der Publikation „Teilhabe ernst nehmen! Konturen einer Politik der öffentlichen Netze und Räume“ einen ambitionierten Debattenbeitrag vorgelegt habe. Für den Begriff der Infrastruktur empfehle er zwischen Räumen und Netzen zu unterscheiden, wobei es sich bei Ersteren um geografisch oder auch virtuell eingegrenzte Orte (Schulen, Kultureinrichtungen etc.) und bei Letzteren um Verbindungen zwischen Orten (Mobilitätsinfrastrukturen, Strom- und Internetversorgung etc.) handele.

Messen lassen müsse sich Politik daran, ob es ihr gelänge, innovative und effektive Organisationsformen für öffentliche Infrastrukturen zu entwerfen, die möglichst vielen Menschen Zugang und Gelegenheit zur Begegnung böten, ohne dabei ihre Qualität einzubüßen. Ein so definiertes Leitbild der „inklusiven Qualität“ trage der Tatsache Rechnung, dass die unüberlegte Abschaffung aller Zugangsbeschränkungen und der damit einhergehende Qualitätsverlust von Infrastruktur durch Überlastung genauso wenig Ziel grüner Politik sein könne wie qualitativ herausragende, aber exklusive Angebote.

Mit Blick auf die Diskussionen des Vortages merkte Siller an, dass der Investitionsbegriff Leitbilder brauche, die sich nicht in der Verwaltung des Status quo erschöpfen dürften. Nichtsdestotrotz sei gerade grüne Politik mit ihrem Einsatz für Generationengerechtigkeit gefordert, die positiven Effekte von Infrastrukturinvestitionen im Hier und Jetzt nicht zu unterschätzen. Qualitativ gute und inklusive Schulen etwa versprächen nicht nur volkswirtschaftliche Vorteile in der Zukunft, sondern generierten mit den Lern- und Teilhabeerfahrungen von Kindern auch in der Gegenwart gesellschaftliche Güter von unschätzbarem Wert.

Infrastrukturpolitik sei, so schloss Siller seinen Vortrag, weder Sprint noch Marathon und gleiche vielmehr einem 800-Meterlauf, der Ausdauer und Planung genauso wie Mut zum schnellen Handeln erfordere.

Infrastruktur als grünes Schlüsselprojekt? Über grüne Prioritäten des Regierens und die Schwierigkeit, damit Wahlen zu gewinnen

Eine funktionstüchtige und nachhaltige Infrastruktur erscheint von zentraler Bedeutung für viele grüne Anliegen. Ist Infrastruktur jedoch auch ein Thema, mit dem sich politische Erfolge erringen lassen? Ramona Pop (Senatorin für Wirtschaft, Energie und Betriebe sowie Bürgermeisterin des Landes Berlin) und Rudi Hoogvliet (Regierungssprecher, Staatsministerium Baden-Württemberg) bejahten diese Frage.

Trotz der nicht nur flächenmäßigen Unterschiede zwischen ihren Bundesländern zeigten sich viele Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen. Infrastruktur sei gerade für die grüne Bewegung mit ihrer langen Geschichte von Protest und Graswurzelbewegungen ein zutiefst politisches Thema. In Regierungsverantwortung sähe man sich nun mit der doppelten Herausforderung konfrontiert, notwendige Modernisierung und den Ausbau bestehender Infrastrukturen zu gewährleisten sowie gleichzeitig die ökologische Wende voranzutreiben.

Pop unterstrich, dass es einer pragmatischen, an der Lebensqualität der Berliner/innen orientierten Politik – beispielsweise im Verkehrsbereich – nicht darum gehen könne, Mobilitätskonzepte gegeneinander auszuspielen. Einigkeit herrschte zwischen Pop und Hoogvliet auch darüber, dass grüne Politik gut daran täte, die von Vorgängerregierungen übernommenen Projekte gewissenhaft weiterzuführen.

Dies gelte auch für Projekte wie Stuttgart 21 und den Berliner Flughafen, welche kontrovers und mit erheblichen Problemen belastet seien. Pop betonte, dass man sich nun einmal nicht eine ganze Legislaturperiode mit Verweis auf das Versagen vergangener Regierungen entschuldigen könne. Die Bürger/innen erwarteten zurecht Lösungen. Zum Glück gelänge dies in Berlin inzwischen relativ gut. Als Großstadtpartei seien die Grünen in Berlin aufgeschlossen gegenüber der proaktiven Gestaltung ihrer wachsenden Metropole.

Auch die Mühen langer Planungsverfahren wurden als ein wichtiger Aspekt diskutiert. Der Wechsel von der Opposition in die Regierungsarbeit, erzählte Hoogvliet, habe bei ihm persönlich eine Reihe von Lerneffekten bewirkt. Wo er sich früher gefragt habe, weshalb Infrastrukturprojekte so häufig in Verzug gerieten, wisse er nun, dass „diese Dinge“ wirklich lange bräuchten. Gerade angesichts solcher Herausforderungen gelte es, die Menschen mitzunehmen. Wenn sich Unsicherheit und Misstrauen in der Gesellschaft ausbreiteten, sei es an der Politik, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen.

In Baden-Württemberg habe die Regierung gute Erfahrungen mit neuen Wegen der Bürgerbeteiligung wie Stadtgesprächen oder der Konsultation von Zufallsbürger/innen gemacht. Pop stimmte zu und ergänzte, dass neben der Bürgerbeteiligung vor allem die erfolgreiche Fertigstellung erster Infrastrukturprojekte die Akzeptanz weiterer Vorhaben deutlich verbessern könne. Solche Vorzeigeprojekte führten den Menschen vor Augen, warum es sich lohne, die mit öffentlichen Bauvorhaben verbundenen kurz- und mittelfristigen Unannehmlichkeiten zu tolerieren. Die greifbaren Ergebnisse einer erfolgreichen Infrastrukturpolitik, so schloss sie, hätten deshalb das Potenzial, selbst zum Motor weiterer Projekte zu werden und die Wähler/innen zu überzeugen.

Debattenräume: Infrastrukturen vs. Individualtransfers & (Groß-)Projekte vs. (Bürger-)Beteiligung

In Ergänzung zu den Plenarrunden diskutierten die Mitglieder der Grünen Akademie in zwei Debattenräumen über die Prioritäten grüner Sozialpolitik im Spannungsverhältnis zwischen Infrastrukturinvestitionen und Individualtransfers sowie die Widersprüche zwischen der schnellen Umsetzung von Großprojekten und Bürgerbeteiligung. Je zwei pointiert vorgetragene Plädoyers gaben den Anstoß zur kontroversen Diskussion und zum Austausch über die Widersprüche grüner Politikvorstellungen.

Sibylle Knapp (Wissenschaftliche Koordinatorin, AK 5 der bündnisgrünen Bundestagsfraktion) und Adrienne Goehler (Publizistin & Kuratorin) stritten mit Akademie-Mitgliedern über die Frage, welche Prioritäten sich aus der gemeinsamen Orientierung an gerechter Teilhabe ableiten ließen. Das Streitgespräch zwischen Silke Krebs (Staatsrätin im Finanzresort, Bremer Senat) und Bettina Reimann (Deutsches Institut für Urbanistik) sowie die anschließenden Diskussionsbeiträge warfen ein Schlaglicht auf den Konflikt zwischen dem Wunsch nach der schnellen Um- und Durchsetzung zahlreicher Infrastrukturprojekte auf der einen und dem grünen Bekenntnis zur direkten Beteiligung auf der anderen Seite.