Nigeria: Eine doppelte Herausforderung

Hintergründe

Nigeria steht erst ganz am Anfang der eigenen COVID-19 Epidemie. Doch eine heftige Krise schüttelt das Land bereits seit Wochen: Der steile Absturz des Ölpreises provoziert in dem stark vom Ölexport abhängigen Land eine rabiate Kürzung öffentlicher Ausgaben und eine Rezession - mit Blick auf die bevorstehenden Pandemie-Herausforderungen zur Unzeit.   

Nigeria: Eine doppelte Herausforderung - Lagos

Die Ölindustrie steckt in einer historischen Krise  

Die internationale Ölindustrie ist von den Auswirkungen der weltweiten Corona-Krise besonders hart betroffen. Der Rohölpreis ist seit Beginn des Jahres von rund 60 Dollar kurzeitig gar auf unter 20 Dollar abgerutscht, der niedrigste in Jahrzehnten. Durch den Einbruch der Wirtschaft in China sowie die Vielzahl der weltweit verhängten Ausgangssperren und internationalen Einreiseverbote ist die Nachfrage für den fossilen Brennstoff massiv eingebrochen. Obendrein liefern sich Saudi-Arabien und Russland einen erbitterten Kampf um Marktanteile.

Kleinere und ärmere Ölstaaten wie Nigeria werden derweil in den finanziellen Ruin getrieben. Nach mehr als 60 Jahren Förderung ist Afrikas größter Ölproduzent und führende Volkswirtschaft immer noch rund zur Hälfte seines Einkommens von der endlichen Ressource abhängig. Knapp 90 Prozent seiner Devisen nimmt das Land durch den Ölexport ein. Der für 2020 verabschiedete Haushalt war von einem Ölpreis von 57 Dollar, einer Produktion von 2,18 Millionen Fässern pro Tag und einer Wechselkursrate von 305 Naira zum US Dollar ausgegangen. Alle drei Annahmen entsprechen heute nicht mehr als sehnsüchtigen Wunschvorstellungen.  

Bereits Anfang März sah sich Finanzministerin Zainab Ahmed deshalb dazu veranlasst, Haushaltskürzungen anzukündigen. So sollen etwa Kapitalinvestitionen um 20 Prozent und die Staatsausgaben insgesamt um 25 Prozent zusammengestrichen werden.

Es herrschen schlechte Ausgangsbedingungen für Haushaltskürzungen

Die gravierenden Einschnitte kommen zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt. Nigeria versucht seit Jahren vergeblich die Folgen einer Rezession aus dem Jahr 2016 abzuschütteln. Das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr erreichte gerade mal rund 2 Prozent während die Bevölkerung seit Jahrzehnten um ca. 2,6 Prozent pro Jahr wächst. Die Staatsverschuldung hat über die vergangenen Jahre stetig zugenommen und neue Höchststände erreicht, während die Devisenreserven bereits seit Mitte 2019 abnehmen.

Die nigerianische Zentralbank hat in der Zwischenzeit die offizielle Wechselkursrate um 15 Prozent auf 360 Naira per Dollar nach unten korrigiert. Es ist damit nur eine Frage der Zeit bis Lebensmittel, Medizinprodukte und andere Konsumgüter in dem stark von Importen abhängigen Land für die Bevölkerung zunehmend unerschwinglich werden.

Die ohnehin prekären sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse werden sich weiter verschärfen. Seit 2015 ist die Arbeitslosigkeit von rund 8 Prozent auf über 23 Prozent angestiegen. Von der hieraus resultierenden Armut sind insbesondere Frauen und junge Menschen betroffen. Rund 55 Prozent der Jugend des Landes sind entweder unterbeschäftigt oder arbeitslos.

Befeuert durch die sozialen Missstände haben sich zahlreiche gesellschaftliche Konflikte in den vergangenen Jahren weiter verschärft oder bleiben ungelöst. Wie etwa im Nordosten des Landes, wo islamische Extremisten seit zehn Jahren blutige Anschläge verüben und sich heftige Auseinandersetzungen mit dem Militär liefern.

Erst Ende März wurden 50 nigerianische Soldaten in einem Hinterhalt der Terrorgruppe Boko Haram getötet. Die Zahl der Binnenflüchtlinge liegt bei mehr als 2 Millionen Menschen. Anderenorts haben sich Banditentum und erpresserische Entführungen als Geschäftsmodell etabliert, weil für eine wachsende Zahl von Menschen der Lebensunterhalt auf legalem Wege kaum mehr zu bestreiten ist.    

Dabei werden die ohnehin schon knappen Ressourcen des Landes und seiner Bevölkerung in den kommenden Wochen noch deutlich stärker unter Druck geraten.

Die geringen Infektionszahlen sind lediglich die Ruhe vor dem Sturm

Mit gerade einmal rund 200 gemeldeten Coronavirus Infektionen steht Nigeria noch ganz am Anfang der Epidemie. Zwar sorgte der erste durch einen Italiener importierten Fall Anfang März kurz für Aufregung, doch schon bald beruhigte sich das Land mit dem Gedanken, dass das nigerianische Zentrum für Seuchenkontrolle die Situation im Griff hat. Schließlich hatte das entschlossene und schnelle Handeln der Regierung die Verbreitung von Ebola im Jahr 2014 verhindern können, nachdem ein erkrankter Mann aus Liberia in die Millionenstadt Lagos eingeflogen war. In der Tat waren auch im jetzigen Fall die Kontaktpersonen schnell ermittelt und isoliert worden. Der internationale Flugverkehr lief aber wie gewohnt weiter.     

In den darauffolgenden Wochen dürften unzählig viele mit dem Coronavirus infizierte Reisende in Nigeria eingetroffen sein. Wer keine Symptome zeigte, kam unentdeckt an den eingerichteten Kontrollen in den internationalen Flughäfen vorbei. Im Gegensatz zu mit Ebola Infizierten, waren sie alle jedoch bereits ansteckend. Die Mitte März ausgesprochene Empfehlung zur Selbstisolation für Reisende nach Ankunft aus Hochrisikoländern wurde zunächst keinerlei Überprüfungen unterzogen. Und schon gar nicht bei hochrangingen Regierungsmitgliedern. Einige von ihnen wurden in der Zwischenzeit positiv auf das Virus getestet; inklusive Abba Kyari, dem Stabschef von Präsident Buhari.

Gerade letztere Erkenntnis und die allgemein steigenden Fallzahlen haben die Regierung in der zweiten Märzhälfte zu zunehmend drastischeren Maßnahmen veranlasst. Einzelne Gouverneure waren etwa mit der Schließung der Land- und Seegrenzen ihrer Staaten vorgeprescht, ohne überhaupt die entsprechenden Befugnisse für solche Entscheidungen zu haben. Die Bundesregierung selbst erschien zeitweise führungslos. Präsident Buhari konnte sich erst Ende des Monats dazu durchringen, die Nation in einer Fernsehrede zu adressieren. Zu dem seit 23. März geltenden internationalen Flugstopp, gilt nun seit dem 30. März eine Ausgangssperre für Lagos und den benachbarten Staat Ogun sowie für die Hauptstadt Abuja. Das Zentrum für Seuchenkontrolle arbeitet mit Hochdruck daran, hunderten Kontakten aller positiv getesteten Fälle nachzugehen.

Das Gesundheitssystem ist den Herausforderungen nicht gewachsen

Ob diese Maßnahmen den nunmehr unaufhaltbaren COVID-19 Ausbruch entscheidend verringern werden, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass das Land und sein Gesundheitssystem in keiner Weise der Herausforderung gewachsen sind. Insgesamt stehen gerade einmal rund 350 Intensivbetten zur Verfügung. Die Frage nach der Anzahl von Beatmungsgeräten beantwortete der Gesundheitsminister vor kurzem damit, dass Nigeria vielleicht gar nicht allzu viele dieser brauchen werde. Bisher hätte man es hauptsächlich mit milden Verläufen der Krankheit zu tun gehabt. Eine Aussage, die mehr von Hoffnung als Vernunft getragen sein dürfte. Doch in der Tat könnte sich das niedrige Durchschnittsalter in Nigeria von knapp 18 Jahren als kleiner Vorteil entpuppen. Schwere Krankheitsverläufe sind bekanntlich vor allem in höheren Altersgruppen zu finden.

Allerdings ist Nigeria nicht nur eines der jüngsten Länder der Welt, sondern auch das Land mit den meisten Armen. Der enorme Ressourcenreichtum hat Nigeria in eine Rentenökonomie verwandelt, in der die Elite nicht durch Eigenleistung und produktiven Faktoreneinsatz zu Wohlstand kam, sondern durch Korruption und die Ausbeutung von Staatsressourcen. Das Gemeinwohl blieb in diesem extraktiven System weitgehend auf der Strecke.  Rund 90 Millionen Menschen – fast die Hälfe von Nigerias Bevölkerung – leben in extremer Armut.

Doch selbst wer nicht in extremer Armut lebt, hat kein festes Einkommen, sondern muss sich oft täglich den eigenen Lebensunterhalt erwirtschaften - Taxifahrer, Marktfrauen, Straßenhändler, Friseurinnen, Tagelöhner auf den Baustellen und viele mehr. Einschränkungen des öffentlichen Lebens sind natürlich sinnvoll, um die Verbreitung des Coronavirus zu verlangsamen. Sie sind in Nigeria, wie in vielen anderen Entwicklungsländern, jedoch kaum realistisch über einen längeren Zeitraum umsetzbar.

Die Ministerin für humanitäre Angelegenheiten, Sadia Umar-Farouq, wurde vor kurzem dabei abgebildet, wie sie 20,000 Naira (rund 50 Euro) als Haushaltsgeld für die nächsten vier Monate an bedürftige Familien in Abuja verteilte.  Zudem hat die Regierung bereits verschiedene Interventionen angekündigt, die die Bevölkerung finanziell entlasten sollen. Dennoch werden diese Programme den Bedürfnissen der breiten Bevölkerung kaum gerecht werden. Bereits wenige Tage nach dem Beginn der Ausgangssperre machen im Internet Videos aus Lagos die Runde, in denen junge Männer lautstark zum baldigen Protest aufrufen und überforderte Ordnungsbeamte mit der Frage konfrontieren: „Kein Strom. Kein Essen. Wie wollen die von uns verlangen, dass wir zu Hause bleiben?!“.

Szenen wie diese werden sich in den kommenden Tagen und Wochen wiederholen. Die Reaktion der Regierung ist absehbar. Nach einem in die Öffentlichkeit geratenen Memorandum bereitet sich das Militär bereits darauf vor, Ausgangsperren durchzusetzen, Nahrungsmittel zu sichern, und mögliche Massenbestattungen durchzuführen. Das Militär dementierte die angeblichen Inhalte des Memos. Bilder von Sicherheitskräften, die einem Händler in Lagos die Waren zusammenschlagen, bieten aber bereits einen Vorgeschmack dessen, wie der Staatsapparat auf „unkooperative“ Bürger/innen reagieren wird.

Es gibt Hoffnungsschimmer

Angesichts der enormen Herausforderungen, vor denen das Land in den kommenden Wochen und Monaten steht, fällt es schwer, Mut zu machen. Die zwei Stadtstaaten Lagos und Abuja, in denen sich die bisherigen Fallzahlen konzentrieren, besitzen immerhin deutlich bessere finanzielle und personelle Kapazitäten, dem Coronavirus-Ausbruch zu entgegnen als der Rest des Landes. Das nigerianische Zentrum für Seuchenkontrolle unter der Leitung von Dr. Chikwe Ihekweazu arbeitet trotz der denkbar knappen Ressourcen professionell daran, das Land so gut es geht auf die kommende Infektionswelle vorzubereiten, indem etwa Test- und Quarantänekapazitäten ausgebaut werden. Viele der großen Banken und Unternehmen des Landes haben dem Zentrum bereits finanzielle Unterstützung zugesagt. Milliardäre wie Aliko Dangote und Tony Elumelu sowie zahlreiche Politiker tragen finanzielle Hilfe etwa für den Kauf von Labortests und Beatmungsgeräten bei.

Die größte Hoffnung liegt jedoch darin, dass es inmitten der Öl- und Corona-Krise der Elite Nigerias dämmern könnte, dass auch sie von einem Staat profitieren würde, der die Fähigkeit besitzt, öffentliche Güter wie ein funktionierendes Gesundheitssystem bereitzustellen. Der Ölreichtum entpuppt sich als wertlos, die Grenzen der Welt sind dicht. Nigerias Elite sitzt in der eigens kreierten Misere fest und hält den Atem an.