Ein Staat in Gefahr – Ungarn erlässt außerordentliche Rechtsordnung

Analyse

Das ungarische Parlament verabschiedete ein neues Gesetz, das einer bereits autoritären Regierung außerordentliche, gefährliche Befugnisse verleiht. Das Gesetz über den Schutz vor dem Coronavirus ("Ermächtigungsgesetz") erlaubt es Viktor Orbán praktisch, per Dekret auf unbestimmte Zeit zu regieren. 

Am 30. März 2020 verabschiedete das ungarische Parlament das Gesetz zum Schutz gegen das Coronavirus („Ermächtigungsgesetz“), das darauf abzielt, den am 11. März 2020 per Regierungsverordnung verhängten „Gefahrennotstand“ auszuweiten.

Der „Gefahrennotstand“ ist eine sogenannte besondere Rechtsordnung, die in der ungarischen Verfassung (Grundgesetz) definiert ist und es der Regierung erlaubt, über Verordnungen außerordentliche juristische Schritte zu setzen und gleichzeitig die Durchsetzung bestimmter Gesetze zu suspendieren. Das „Ermächtigungsgesetz“, welches die parlamentarische Zweidrittelmehrheit von Ministerpräsident Viktor Orbán verabschiedete, erlaubt es der Regierung praktisch, für eine unbefristete Zeit mit Verordnungen zu regieren.

Dass die ungarische Regierung derartige rechtliche Sonderregelungen von widerrechtlicher oder zumindest juristisch fragwürdiger Natur trifft, stellt keinen Blitz aus heiterem Himmel dar. Der sogenannte „Krisennotstand aufgrund von Massenmigration“, der es den Behörden unter anderem erlaubt, Straßen zu sperren, die Tätigkeit von öffentlichen Einrichtungen einzuschränken oder zu untersagen, Gebiete und Gebäude abzusperren und den Zugang zu diesen Orten oder ihr Verlassen einzuschränken oder gar zu verbieten, wird seit 2016 auf gesetzeswidrige Weise aufrechterhalten.

Im Lichte der anhaltenden außer-verfassungsmäßigen Situation und, allgemeiner gesagt, des gut dokumentierten Abbaus der Demokratie in Ungarn, lässt sich nicht mehr behaupten, dass das System der demokratischen Kontrollmechanismen noch funktioniert, dass es einen unabhängigen Verfassungsgerichtshof gibt oder dass irgendeine Versicherung existiert, die unsere Befürchtungen in Hinblick auf die wahren Absichten hinter besagtem „Gefahrennotstand“ und „Ermächtigungsgesetz“ entkräften würde.

Vor diesem Hintergrund legt dieser Beitrag dar, dass zwar effizientes Handeln im Falle eines Gesundheitsnotstands unabdingbar ist, dies aber kein Grund dafür sein kann, unbegrenzte und antidemokratische Ermächtigungen zu akzeptieren.

Der Notstand hat politische und soziale Implikationen zur Folge  

Die Probleme in Hinblick auf den „Gefahrennotstand“ und das „Ermächtigungsgesetz“ sind in erster Linie von verfassungsrechtlicher Natur, die entsprechenden Rechtsakte dürften aber auch politische und soziale Implikationen mit sich bringen.

Die ungarische Regierung argumentiert damit, dass die besondere Rechtsordnung, welche die Aufhebung eines breiten Spektrums von Grundrechten erlaubt, gerechtfertigt ist, weil dies der einzige Weg sei, um dringende Maßnahmen (Einstellung des Luftverkehrs oder des öffentlichen Nahverkehrs, Quarantäne-Anordnungen für bestimmte Gebiete, Einschränkung der Nutzung öffentlicher Räume usw.) zu treffen, die nötig sind, um einer unmittelbar bevorstehenden und ernsthaften Gefahr entgegenzutreten: dem Virus.

Dieses Argument wird aber durch das Faktum widerlegt, dass die bisherigen Maßnahmen der Regierung unter Berufung auf das Gesetz Nr. 154/1997 („Gesetz über das Gesundheitswesen“) und somit ohne Etablierung einer außerordentlichen Rechtsordnung angeordnet worden sind. Gestützt wird diese Evidenz durch das Faktum, dass Ungarns oberste Amtsärztin am 26. März 2020 einen normativen Erlass veröffentlichte, der Bestimmungen über Einreiseverbote, humanitäre Korridore für Transitreisende und Universitätsschließungen enthielt.

Dieses gesetzgeberische Instrument erwies sich als notwendig, weil außerordentliche Verordnungen, die während eines „Gefahrennotstands“ erlassen worden sind, gemäß der Verfassung nur 15 Tage gültig bleiben, wenn sie das Parlament nicht verlängert. Der normative Erlass dient dazu, verfallende Regierungsverordnungen zu ersetzen.

Die Rechtsordnung wird illiberal zugeschnitten

Ohne die Ernsthaftigkeit der durch das Virus verursachten Situation und die Notwendigkeit besonderer Maßnahmen in Abrede stellen zu wollen, ist dennoch festzustellen, dass die Ermächtigung der Exekutive zu einem Handeln ohne substanzielle gegenständliche Begrenzungen gefährlich ist und nicht gerechtfertigt werden kann.

Verschärft wird dies noch dadurch, dass die ungarische Regierung – wie zahlreiche internationale Institutionen bestätigen – die Rechtsordnung des Landes unter Ignorierung der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit auf ihre eigenen Bedürfnisse und Interessen zugeschnitten hat.

In Ungarn erfuhr das System der demokratischen Kontrollmechanismen seit 2010 eine zunehmende Aushöhlung. Die unabhängigen staatlichen Institutionen (wie z.B. der Verfassungsgerichtshof) wurden von den Regierungsparteien usurpiert, infolgedessen die verfassungsmäßige Eingrenzung der Regierungsmacht nicht mehr funktioniert.

Das „Ermächtigungsgesetz“ gibt der Regierung ein parlamentarisches Mandat, auf dem Verordnungswege zu regieren, ohne dass es eine Frist oder andere Bestimmungen enthält, die dem Parlament eine wirksame Kontrollfunktion garantieren würden.

Faktisch bedeutet das, dass der Regierung ein zeitlich unbefristetes Mandat zur Aufrechterhaltung des „Gefahrennotstands“ gewährt wurde. Das ist insbesondere deshalb besorgniserregend, weil der „Gefahrennotstand“ eigentlich so angelegt ist, dass er beendet wird, sobald die Umstände, die zu seiner Verhängung führten (das heißt die Pandemie), nicht mehr gegeben sind.

Wie viele juristische Expert/innen unterstrichen, kann er, weil er ja in periodischen Zeitabständen überprüft werden muss, durch ein parlamentarisches Mandat nicht für unbegrenzte Zeit gewährt werden.

Das „Ermächtigungsgesetz“ beinhaltet auch eine Novelle zum Strafgesetzbuch. Es ist nicht das erste Mal, dass die Orbán-Verwaltung das Werkzeug der strafrechtlichen Androhung geltend macht, um ihr unliebsame Meinungen zu unterdrücken.

Das „Ermächtigungsgesetz“ weitet den Straftatbestand der Angstmache (Paragraph 337 des ungarischen StGB) aus, um eine neue Grundlage für Anklagen zu schaffen. So heißt es im novellierten Gesetz: „Wer zur Zeit eines Notstands unwahre Tatsachen oder wahre Tatsachen in einer verzerrten Form behauptet oder verbreitet, sodass dies dazu angetan ist, den Erfolg der Schutzmaßnahmen zu behindern oder zu vereiteln, ist für diese Straftat mit einem Freiheitsentzug von ein bis fünf Jahren zu bestrafen.“

Die Definition des Straftatbestandes mit dem dehnbaren Begriff des „Erfolgs der Schutzmaßnahmen“ nährt beträchtliche Zweifel daran, wie die Kriterien für die Feststellung einer „Behinderung“ oder „Vereitelung“ von Schutzmaßnahmen formuliert werden sollen.

Gewiss: Aufgrund vorangegangener Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs ist klar, dass das Verbreiten objektiver Informationen und wahrer Fakten nicht bestraft werden kann, selbst wenn der öffentliche Frieden dadurch gestört wird.

Dennoch: Ein Strafgesetz wie dieses erfüllt nicht das Erfordernis der normativen Klarheit und präzisiert auch nicht die Kriterien – nicht einmal für den Gesetzgeber –, aufgrund derer jeder Einzelfall fachlich wohlbegründet beurteilt werden kann. An und für sich ist das Gesetz allerdings dazu geeignet, Journalist/innen die Berichterstattung über das Coronavirus und Zivilorganisationen das Beobachten des staatlichen Handelns während der Pandemie zu erschweren und diese Akteure einzuschüchtern.

Ungarn bewegt sich bedrohlich auf eine Autokratie zu

Die neue Bestimmung stellt außerdem eine Bedrohung für die Redefreiheit von gesetzestreuen Bürger/innen dar, die in den sozialen Medien aktiv sind. Selbst wenn ein Richter, der sich des normativen Gehalts des Verfassungs- und Strafrechts bewusst ist, dazu imstande sein dürfte, die Faktenlage im gegebenen Fall in Übereinstimmung mit dem Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit auszulegen, so stellt bereits die Drohung damit, dass ein strafrechtliches Verfahren eingeleitet werden könnte, eine ernsthafte Bedrohung für die Tätigkeit von Medien und Organisationen dar, die der freien Meinungsbildung dienen.

Nachdem die zusätzliche, neu eingeführte Grundlage für den Straftatbestand der Angstmache kein Verbrechen mit sichtlicher Auswirkung ist, ist es außerordentlich schwierig, beispielsweise die Frage zu beantworten, worin denn die genaue Charakteristik des „Verzerrens von Fakten“ bestünde. Die Beurteilung dessen, wann eine Handlung als Verbreiten eines Gerüchts bezeichnet werden kann, das dazu angetan wäre, „den Erfolg der Schutzmaßnahmen zu behindern oder zu vereiteln“, ist auch deshalb ungewiss, weil es dafür kein objektives Maß gibt.

Im Lichte des hier Dargelegten ist es keine Übertreibung zu sagen, dass der „Gefahrennotstand“ und das dazu in Beziehung stehende „Ermächtigungsgesetz“ Anzeichen dafür sind, dass sich die Ausübung der exekutiven Macht in Ungarn in die Richtung eines noch bedrohlicheren Typs der Autokratie bewegt.

Nichtsdestotrotz ist es ermutigend, dass mehr als 100.000 Ungar/innen eine Petition gegen das Ermächtigungsgesetz unterschrieben haben und dass auch einige Abgeordnete des Europäischen Parlaments mit dem Sammeln von Unterschriften für ihre Petition begonnen haben, in der es heißt: „Es besteht die ernsthafte Gefahr, dass Notstandsentscheidungen die liberalen Demokratien in autokratische Systeme verwandeln.“ Darüber hinaus hat die Europäische Kommission erklärt, dass sie das ungarische Gesetz zum Schutz gegen das Coronavirus einer Prüfung unterziehen wird.


Aus dem Englischen von Gregor Mayer