Auswirkungen der Covid-19-Epidemie auf LGBTI+ in der Türkei

Hintergrund

Für viele LGBTI+ birgt das Zuhausebleiben Risiken bis hin zu Gewalterfahrungen. Gleichzeitig gehören LGBTI+ zu den prekärsten sozialen Gruppen am Beschäftigungsmarkt. Viele sind mit Einkommensverlusten und Arbeitslosigkeit konfrontiert. Ein weiteres Risiko stellt Diskriminierung bei Zugängen zum Gesundheitssystem dar. Gleichzeitig ist ein Anstieg von Hate Speech gegen LGBTI+ zu verzeichnen, bei der Covid-19 als Vorwand herhalten muss.

Illustration LGBTI

Die Verbreitung eines neuartigen Corona-Virus als Erreger von Covid-19 hat zu einer Krise von globalem Ausmaß geführt. In der Türkei wurde der erste Fall von Covid-19 am 11. März 2020 bekannt gegeben. Seither wurden unter Federführung des türkischen Gesundheitsministeriums und Innenministeriums eine Reihe von Vorkehrungen und Maßnahmen getroffen, um einer Ausbreitung des Virus entgegenzutreten. So ist es bestimmten Altersgruppen verboten, die Wohnung zu verlassen. In der Öffentlichkeit besteht Maskenpflicht, Reisen über die Stadtgrenzen hinaus sind verboten und periodisch werden komplette Ausgangssperren verhängt. Während das Gesundheitsministerium die Bevölkerung dazu aufruft, durchgehend zuhause zu bleiben, sind Arbeiter*innen und Angestellte in vielen Bereichen gezwungen, weiterhin zur Arbeit zu gehen.

Die Narrative für den Umgang mit Covid-19 in der Türkei lässt sich vielleicht in dem Imperativ ausdrücken, dass jede*r Bürger*in einen je eigenen Ausnahmezustand verhängen soll, in einem Land, in dem der Ausnahmezustand eine brisante politische Geschichte hat. LGBTI+ zählen ohnehin zu den verwundbarsten sozialen Gruppen in der Türkei und erleben starke Einschränkung in der Wahrnehmung ihrer Rechte im Alltag. Zu den systematischen Menschenrechtsverletzungen gegen LGBTI+ gehören auch Angriffe auf das Recht zu Leben. Die Corona-Vorkehrungen treffen diese Gruppe ganz besonders. Zu nennen sind Zugänge zum Gesundheitssystem und Benachteiligung am Arbeitsmarkt ebenso wie die Zunahme häuslicher Gewalt seit Beginn der Selbstisolation. Darüber hinaus sind LGBTI+ aber auch zur Zielscheibe verschiedener Hate-Speech-Kampagnen im Zusammenhang mit Covid-19 geworden.

Zugänge zum Gesundheitssystem

“Immer, wenn ich mir psychologische Hilfe holen möchte, erlebe ich homophobe Diskriminierung. Daher habe ich meine Hoffnung verloren, meine Traumatisierungen bewältigen zu können. Mir kommt es so vor, als würde sich das nie ändern.”

Dieses Zitat stammt aus dem von Kaos GL veröffentlichten Bericht über Hassverbrechen auf Grundlage von Homophobie und Transphobie in der Türkei 2018. Der Bericht zeigt, dass der psychische Schaden, den Hassverbrechen bei LGBTI+ anrichten, höher ist als der durch andere Verbrechen verursachte. Die befragten Personen, die belastende Erfahrungen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Identität gemacht haben, zeigen mehr Anzeichen von Depression, traumatischer Belastung, Ängstlichkeit und Wut als die anderen befragten Personen. Psychologische Unterstützung für Betroffene ist jedoch meist entweder unzureichend verfügbar oder, wie durch obiges Zitat angesprochen, Ursache weiterer belastender Diskriminierungserfahrungen.

In der Türkei gibt es keine gesetzliche Regelung, die Gleichstellung für LGBTI+ und diskriminierungsfreie Zugänge zur Gesundheitsversorgung ermöglicht.

2018 teilte ein Arzt in diskriminierender Absicht vertrauliche Informationen über einen Patienten in den sozialen Medien und schrieb dazu: „Schwule kennen keine Grenzen“ und „Er macht wohl Werbung für sein Poloch“. 2020 kam es zu einem Verfahren gegen den Arzt. Es ist einer der wenigen Fälle, in denen die betroffenen Personen sich den Herausforderungen des Justizweges gewachsen fühlen und Diskriminierung erfolgreich zur Anzeige gebracht wird.

Angesichts der spezifischen Diskriminierung bzw. Einschränkungen bei Zugängen zur Gesundheitsversorgung können unzureichende öffentliche medizinische Angebote und Stigmatisierung besonders gefährliche Folgen mit sich bringen, wenn es um ein medizinisches Problem wie Covid-19 geht.

Für diesen Artikel haben wir Efruz Kaya vom Verein Pembe Hayat (Rosa Leben) gebeten, über die Auswirkungen der Epidemie auf trans Menschen im Angleichungsprozess (Transitioning) zu sprechen. Kaya berichtet, dass sie bei Beratungsgesprächen derzeit empfiehlt, Krankenhäuser zu meiden, da das Infektionsrisiko in Krankenhäusern besonders hoch ist. Das führt aber bei vielen trans Menschen zu der berechtigten Sorge, dass der Angleichungsprozess unterbrochen wird und ungewollte Folgen auftreten. „Es kommt tatsächlich zu Unwegsamkeiten beim Transitioning, weil im Prinzip alle Krankenhäuser derzeit Pandemie-Krankenhäuser sind. Selbst Routineuntersuchungen müssen verschoben werden.

Aber trans Mensch können ihr Transitioning nicht ‚aussetzen‘“. Da es aufgrund von Corona schwieriger geworden ist, Hormonpräparate zu bekommen, kann es bei der Einnahme zu empfindlichen Unterbrechungen kommen. „Die Verantwortlichen geben zu allerlei Themen beruhigende Statements ab“, so Kaya. „Wir brauchen auch beruhigende Statements zu Fragen, die für trans Menschen von existentieller Bedeutung sind. Denn Ungewissheiten können dazu führen, dass folgenschwere Fehler gemacht werden.“

Koray Başar vom Institut für Psychologie der Universität Hacettepe schreibt in einem Artikel für KaosGL: „Die Belastung von LGBTİ+ steigt im Zusammenhang mit Epidemien, Katastrophen oder Massentrauma wie diesem“. Aufgrund von kontinuierlich erfahrenem Stress sind LGBTI+ anfälliger für psychische und körperliche Erkrankungen als der Bevölkerungsdurschnitt. Başar geht davon aus, dass die bekannten Schwierigkeiten bei Zugängen zum Gesundheitssystem für LGBTI+ sich auch spezifisch auf Covid-19-Behandlungen auswirken können und Situationen wie Tests und Behandlung, ob stationär oder ambulant, ein verstärktes Risiko von Diskriminierungserfahrungen mit sich bringen.

Diese Gefahr potenziert sich bei LGBTI+, die HIV-positiv leben. Wir haben Yasin Erkaymaz vom Verein Pozitif-İz (Wir sind positiv) für diesen Artikel um seine Einschätzung gebeten. Wer bereits in Behandlung ist, so Erkaymaz, kann weiterhin in der Apotheke die notwendigen Medikamente bekommen. Bei der Messung der Virenlast kann es zu zeitlichen Komplikationen kommen. Daher rate der Verein, bevorstehende Messungen proaktiv zu verschieben. Allerdings komme es derzeit sogar bei den wichtigen HIV-Tests zu Verzögerungen.

Beschäftigungssituation für LGBTI+ in der Türkei

Gemeinsam mit der Kadir-Has-Universität hat KaosGL eine Studie durchgeführt, um die Beschäftigungssituation für LGBTI+ in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Bereich zu erfassen. Dieser Studie zufolge werden LGBTI+ sowohl in der Privatwirtschaft als auch im öffentlichen Bereich genötigt, sich zu verstecken. Die Diskriminierung beginnt bei den Einstellungsverfahren bzw. Bewerbungsgesprächen und reicht bis zu Hate Speech am Arbeitsplatz. Letzteres Phänomen ist insbesondere in öffentlichen Einrichtungen verbreitet.

Damit gehören LGBTI+ zu den prekären und ungesicherten Beschäftigten. Angesichts der Pandemie sind sie besonders stark von Einkommens- und Beschäftigungsverlusten betroffen. Die Studie hebt hervor, dass LGBTI+ ohnehin „vom Gefühl geprägt sind, härter arbeiten zu müssen als andere und sich keine Fehler erlauben zu können.“ Dieses Gefühl verstärkt sich durch die Epidemie und bringt die Gefahr mit sich, vertragswidrig ausgebeutet zu werden, wenn das Arbeitsverhältnis weitergeführt wird.

“Unsere Freund*innen haben keinerlei soziale Absicherung und keine geregelten Beschäftigungsverhältnisse. Sie müssen mit einer monatelangen Ungewissheit klarkommen, deren Ende noch nicht abzusehen ist. Sie haben keine Arbeitgeber, die ihnen Vorschüsse zahlen würden. Sie sind daher auf unsere Unterstützung angewiesen.”

“Die derzeitige Situation sollte weltweite Warnsignale aussenden, denn die Zwangspause für die Musik- und Unterhaltungsbranche produziert für die Menschen, die in diesen Branchen tätig sind, wirtschaftliche Zwangslagen.“

“Seit mehr als zwei Jahren konnten wir dank der Einnahmen aus unseren Shows und Spendeneinnahmen unseren Unterhalt bestreiten. Dieses Geschäftsmodell ist jetzt zusammengebrochen. Wer noch studiert, arbeitslos ist und keine Unterstützung von der Herkunftsfamilie bekommt, lebt jetzt noch unsicherer als zuvor. Die meisten von uns haben weder soziale Sicherheit, noch Rücklagen oder andere Einkommensquellen. Es ist für viele von uns schwer geworden, Grundbedürfnisse wie Gesundheit und Unterkunft decken zu können.”

Diese Zitate stammen aus drei verschiedenen Kampagnen zur Unterstützung von Menschen, die im queeren Nachtleben tätig sind. Seit Ausbruch von COVID 19 sind Veranstaltungsorte geschlossen und die meisten Menschen, die im Dienstleistungs- oder Unterhaltungsbereich tätig waren, sind arbeitslos. Dabei hatte sich in den letzten Jahren ein queeres Nachtleben als neues Beschäftigungsfeld herausgebildet. Doch für Mitarbeiter*innen der Locations und dort auftretende Künstler*innen ist es komplett weggebrochen. Die Solidaritätskampagnen für diese vom Einkommensverlust betroffenen Personengruppen wollen auch nach außen hin darstellen, wie sich die Arbeitslosigkeit für LGBTI+ auswirkt.

LGBTI+ mit Tätigkeit im Bereich der Sexarbeit haben ausschließlich zwei Optionen: Entweder einen vollkommenen Einkommensverlust hinzunehmen oder unter höchster Gefährdung der eigenen Gesundheit weiterzuarbeiten. Sexarbeiter*innen gehen undokumentierten Arbeitsverhältnissen nach und zählen zu den besonders gefährdeten Personengruppen. Efruz Kaya von Pembe Hayat betont:

„Sexarbeiter*innen sind aufgrund des nahen körperlichen Kontaktes zu Kund*innen einem Infektionsrisiko höchster Stufe ausgesetzt. Wir versuchen dahingehend zu beraten, virtuelle Shows oder Online-Dienstleistungen anzubieten. Die meisten Sexarbeiter*innen haben aufgehört zu arbeiten, aber es ist schwer für sie ohne Absicherung oder staatliche Unterstützung. Viele werden in absehbarer Zukunft gezwungen sein, wieder Kund*innen anzunehmen.“

Ist es zuhause wirklich sicher?

LGBTI+ gehören in der Türkei zu den am Stärksten von Hate Speech betroffenen Gruppen. Der Bericht zu Hassverbrechen zeigt, dass sie ihr ganzes Leben über aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Genderidentität Angriffen und Gewalt ausgesetzt sind und diese An- und Übergriffe überall einschließlich der eigenen Wohnung stattfinden. Die meisten Hassverbrechen geschehen an Schulen und Hochschulen, zuhause oder im Wohnumfeld, im öffentlichen Personennahverkehr und an Haltestellen, in Cafés und Bars und im öffentlichen Raum.

Die vorliegenden Daten über Hassverbrechen gegen LGBTI+ im häuslichen Umfeld zeigen, dass die Selbstisolation zuhause für viele LGBTI+ hohe Sicherheitsrisiken mit sich bringt. Darüber hinaus zeigen nicht nur die im Bericht erfassten Fälle, sondern auch die Morde an Roşin Çiçek und Ahmet Yıldız, dass Familienangehörige Täter von Hassverbrechen und sogar Hassmorden sind. Wer keine eigene Wohnung hat oder nach der Schließung der Studierendenwohnheime beziehungsweise aufgrund von Einkommensverlust zu den Eltern zurückkehren musste, setzt sich als LGBTI+ dem Risiko häuslicher Gewalt aus.

Der Bericht stellt auch dar, dass von Hassverbrechen betroffene LGBTI+ sich nicht nur vor ihrer Familie fürchten, sondern auch vor den Sicherheitskräften. Viele LGBTI+ haben aufgrund von gemachten Diskriminierungserfahrungen kein Vertrauen in die Justiz und die staatlichen Behörden und sehen entsprechend davon ab, erfahrene Gewalt zur Anzeige zu bringen. Da die Möglichkeiten, die Wohnung zu verlassen, derzeit aufgrund der Seuchenpräventionsmaßnahmen stark eingeschränkt sind, ist davon auszugehen, dass LGBTI+ im Falle häuslicher Gewalt davor zurückschrecken werden, diese Fälle öffentlich zu machen bzw. den Behörden anzuzeigen.

Gleichzeitig sind die bestehenden zivilgesellschaftlichen Organisationen der LGBTI+-Communities aktuell gezwungen, im Homeoffice ihre Beratungsangebote auf Online-Arbeit zu beschränken und haben derzeit kaum Handhabe, um im Falle von Gewalttaten zu intervenieren.

Eine weitere Folge der Selbstisolation ist ein wachsendes Gefühl der Vereinsamug bei LGBTI+, die ohnehin keine gleichberechtigte Teilhabe an vielen sozialen Aktivitäten haben. Für soziale Kontakte in den Communities spielen die vorhandenen LGBTI+-Organisationen mit ihren Räumlichkeiten und ihrem Veranstaltungsangebot eine tragende Rolle. Während dieses Angebot in digitale Räume übertragen wird und die Locations des Nachtlebens geschlossen bleiben, ist der Vereinsamung kaum noch entgegenzuarbeiten.

Der Verein Pembe Hayat bietet von seinem Instagram-Account aus tägliche Live-Videos, SpoD bietet kostenfreie psychologische Beratung für LGBTI+, während Performance-Kollektive wie Queerwaves Online-Parties anbieten und die Online-Zeitung von KaosGL.org erscheint täglich. Das Magazin Kaos GL hat eine Sonderausgabe zu Corona produziert. All diese Angebote ermöglichen Schritte aus der Vereinsamung, sind aber weit davon entfernt, die bestehenden Bedarfe an sozialen Kontakten, Community-Unterstützung und Peer-Group-Solidarität zu decken.

LGBTİ+ Refugees 

Zu den brennenden Themen seit Bekanntwerden des ersten Covid-19-Falles in der Türkei am 11. März gehört zweifelsohne die menschenunwürdige Lage der Geflüchteten, die an der türkisch-griechischen Grenze festsitzen. Zuvor hatten türkische Behörden bekanntgegeben, einseitig ihre Grenze zur Ausreise zu öffnen und Geflüchtete ins Grenzgebiet befördert, wo diese unter schwersten Bedingungen tagelang ausharrten. Als die Pandemie die Türkei erreichte, befanden sich diese Menschen immer noch dort und wurden von der Polizei aufgelesen und in Quarantänezentren in verschiedenen Städten verfrachtet.

Im Zuge des ungewissen Wartens im Grenzgebiet hatten sich zahlreiche Menschenrechtsverletzungen ereignet. Laut Amnesty International wurden an der Landgrenze zwischen Griechenland und der Türkei zwischen dem 2. und 4. März mindestens zwei Menschen getötet. Unter den im Grenzgebiet gestrandeten Geflüchteten befanden sich auch LGBTI+, die ihre Erfahrungen gegenüber KaosGL.org schilderten und die Forderung erhoben: “Wir wollen auch ein normales Leben leben.” Demnach sind LGBTI+-Refugees von der Corona-Pandemie auf besonders schwere Weise betroffen.

“Wir haben ohnehin schon kaum Arbeit gefunden, aber wir waren auch die Ersten, auf die verzichtet wurde, als die Epidemie kam. Wir verloren unsere Arbeit vor allen anderen.“

Diese Sätze stammen von LGBTI+-Geflüchteten, die mit KaosGL über ihre Situation sprachen.  Defne Işık ist Fachkraft für soziale Arbeit beim KaosGL-Programm für Geflüchtetenrechte und hat für diesen Artikel Fakten zusammengetragen. Für LGBTI+-Geflüchtete ist es besonders schwer, an Nahrungsmittel und Hygiene- sowie Schutzartikel heranzukommen. Die meisten geflüchteten LGBTI+ haben mit Beginn der Krise ihre prekären Beschäftigungsverhältisse verloren und stehen vor einem nicht abgefederten Einkommensverlust. Manche von ihnen können sich nur eine Mahlzeit pro Tag leisten. Einige können ihre laufenden Rechnungen nicht mehr bezahlen. Die meisten Hilfseinrichtungen in der Türkei bevorzugen türkische Staatsbürger*innen.

Gleichzeitig haben Geflüchtete, die unter internationalem Schutz stehen, in der Türkei kein Recht auf eine Krankenversicherung. Nur im Falle von Schwangerschaft oder „schweren chronischen Erkrankungen“ werden Behandlungskosten übernommen. Diese Regelung betrifft alle Geflüchteten unter internationalem Schutz in der Türkei, doch die dadurch verursachten Probleme potenzieren sich für LGBTI+-Geflüchtete, weil sie auch innerhalb der schwächsten, ausgegrenzten und vernachlässigten Gruppe der Geflüchteten in der Türkei die schwächste und oft stark ausgegrenzte Untergruppe bilden.

5. Hass unter dem Vorwand von Corona

“Unsere Kinder sollen nicht zum Opfer dieses groß angelegten Plans werden. Keine Unterstützung für perverse LGBT!”

Diese Sätze stammen aus einer Nachricht, die zu Beginn der Corona-Epidemie in einer WhatsApp-Gruppe für Schulleiter*innen geteilt wurde. Auslöser war eine internationale Initiative, an Fensterscheiben Regenbögen anzubringen, damit Kinder sich nicht allein fühlen, wenn sie die elterlichen Wohnungen nicht verlassen dürfen. Die Idee richtete sich an alle Kinder, doch die Verwendung des Regenbogens führte dazu, dass in der Türkei die islamistische Tageszeitung Yeni Akit hasserfüllte Hetzartikel veröffentlichte, bis ihre Inhalte auch die WhatsApp-Gruppen erreichte, die auf Provinzebene vom Bildungsministerium eingerichtet worden waren, um unter Schulleiter*innen den Austausch über Online-Unterricht zu ermöglichen. Aus dem Nichts heraus wurden LGBTI+ zur Zielscheibe von Hass.

Die Corona-Epidemie ist als medizinische und gesellschaftliche Frage für alle Menschen von gleicher Relevanz. Doch im Umgang mit der Epidemie zeigt sich, dass Hass gegen LGBTI+ nicht etwa abnimmt, sondern im Gegenteil stark zunimmt. Es gibt auch in der Türkei Hashtags, mit denen Menschen einander auffordern, Zuhause zu bleiben, und die Regierung hat Bürger*innen der Altersgruppe ab 65 Jahren verboten, auf die Straße zu gehen.

Gleichzeitig verbreitet sich in den sozialen Medien eine homophobe Hasskampagne unter dem Hashtag “YallahHollandaya”(Ab nach Holland!). Die unmissverständliche Aufforderung richtet sich an alle LGBTI+-freundlichen Menschen, die Türkei zu verlassen und nach Holland zu emigrieren. Eine zweite Hasskampagne firmiert unter den Hashtags #netflixadamol und #adamolnetflix. Das heißt wörtlich: „Netflix, sei ein Mann!“ beziehungsweise im übertragenen Sinne: Netflix, benimm dich. Sie bezieht sich auf die Ankündigung, dass in der türkischen Produktion Love 101, die während des Ramadan auf Netflix ausgestrahlt werden soll, während die Bevölkerung Zuhause bleibt, eine schwule Figur eingeführt wird. Die Proteste gegen Netflix eskalieren bis hin zu Morddrohungen.

Der Chef der türkischen Rundfunkkontrollbehörde RTÜK, Ebubekir Şahin, schloss sich der Hasskampagne an und drohte: „Wir haben sie gewarnt. Wir behalten sie im Auge. Unsere No-Go‘s sind ganz klar. Wir weigern uns, den Weg für Morallosigkeiten freizumachen.“ Damit sind LGBTI+ zum Abschuss freigegeben.

Diese drei, hier nur kurz umrissenen Hasskampagnen zeigen, dass für LGBTI+ der Hass eines Teils der Medien, der Bevölkerung und der Behörden mindestens ebenso gefährlich ist wie das Corona-Virus. Auch in der Türkei herrscht die Überzeugung, dass das Thema Corona sämtliche anderen Belange überwiegt.

Doch wenn es darum geht, Hass gegen LGBTI+ zu mobilisieren und zu organisieren, tritt selbst die Seuchenprävention in den Hintergrund. Insbesondere die toxischen Nachrichten in den WhatsApp-Gruppen der Schulleiter*innen und der blanke Hass in den sozialen Medien führen zu einer weiteren Isolation und Vereinsamung von LGBTI+, die sich derzeit oft in Hausgemeinschaften befinden, die für sie kein sicherer Ort sind. Draußen brauen sich unterdessen regelrechte Lynchkampagnen zusammen.

Fazit

Aufrufe, Zuhause zu bleiben und in Quarantäne zu gehen, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern, sind zweifelsohne richtig und wichtig. Wer allerdings kein Zuhause hat oder dem Risiko ausgesetzt ist, zuhause Gewalt durch Familienangehörige zu erfahren, ist durch die gesellschaftliche Situation neuen Problemen und Risiken ausgesetzt. Das gilt insbesondere für LGBTI+. Ministerien und Regierung haben keinerlei Pläne, um diese Probleme anzugehen. Neben dem erhöhten Risiko, Gewalt zu erfahren, ist die bestehende Diskriminierung bei Zugängen zum Gesundheitssystem angesichts der Pandemie eine existentielle Bedrohung.

Im Transitions- oder Angleichungsprozess befindliche trans Personen können derzeit häufig ihre Behandlung in Krankenhäusern nicht fortsetzen und müssen wichtige therapeutische Maßnahmen aussetzen. LGBTI+ mit HIV können derzeit in vielen Fällen keine Kontrolluntersuchungen in Krankenhäusern durchführen lassen. LGBTI+-Refugees leiden darunter, dass sie keine Krankenversicherung haben und meist nicht einmal die Möglichkeit, in Quarantäne zu gehen.

Angst vor Arbeitslosigkeit oder akute Einkommensverluste plagen die gesamten LGBTI+-Communities, wobei Sexarbeiter*innen ohne jegliche soziale Absicherung dastehen und am Stärksten von Einkommensverlusten betroffen sind. Sie navigieren zwischen der Skylla einer Virusinfektion und der Charybdis einer kompletten Verarmung. Durch die fast komplette Stilllegung des Dienstleistungs- und Unterhaltungssektors sind LGBTI+ besonders betroffen, da sie sich in diesen Bereichen in den letzten Jahren wichtige Nischen aufgebaut haben. Während all diese Probleme grassieren, verbreiten sich Hasskampagnen gegen LGBTI+ wie Lauffeuer.

Im Rahmen der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie erleben LGBTI+ erhebliche Probleme dabei, ihre Rechte wahrzunehmen. Es ist an der Zeit, diese gesellschaftliche Gruppe mit einzubeziehen und einer weiteren Vertiefung der Menschenrechtsverletzungen vorzubeugen. Leider ist dazu bei keinem der zuständigen Ministerien ein Ansatz zu erkennen. LGBTI+ sind derzeit zwischen der Gefahr einer Corona-Infektion und gesellschaftlicher Ausgrenzung regelrecht eingeklemmt. Sie erleben Vereinsamung und Stigmatisierung.

Die bestehenden LGBTI+-Organisationen und Kollektive bilden Solidaritätsnetzwerke, die primär auf Online-Aktivitäten beruhen. Diese Angebote sind zweifelsohne wichtig. Leider fehlt es aufseiten der staatlichen Institutionen an erkennbarem Willen, Verantwortung gegenüber LGBTI+ wahrzunehmen. Vielmehr sind öffentliche Institutionen in der Türkei in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart immer wieder als Verursacher von Menschenrechtsverletzungen gegen LGBTI+ hervorgetreten. Die aktuelle Situation zeigt, dass wir eben nicht alle im gleichen Boot sitzen.