Queerer Aktivismus in Kenia – “speak truth to power!”

Interview

Queerer Feminismus macht sichtbar, dass das Patriarchat allen Menschen schadet und nur ein intersektionaler Ansatz kollektive Befreiung und solidarisches Zusammenarbeiten ermöglicht. Dabei kann queerer Widerstand auch Spaß machen – und manchmal reicht schon ein Dandy Outfit, um das Patriarchat ins Wanken zu bringen.  Mit Yvee Oduor sprachen wir über Aktivismus und Mobilisierung Genderqueerer Menschen in Kenia.

Portrait/Grafik: Yvonne Oduor

Das Interview führte Claudia Simons, Referentin für Afrika in der Heinrich-Böll-Stiftung.

Was bedeutet queerer Feminismus für dich?

Yvee: Für mich bedeutet queerer Feminismus eine grundlegende Kampfansage an das Patriarchat, mit Fokus auf den Themen Queerness und queere Menschen, das heißt, wir setzen uns gezielt und aktiv gegen Transphobie, Homophobie, Bi-Phobie und Rassismus, auch innerhalb der feministischen Bewegung selbst ein. Queer Feminismus geht für mich über die Lehrbuchdefinition von Feminismus hinaus, weil wir begriffen haben, dass Geschlechtsidentität ein breites Spektrum aufweist, das weit mehr als nur Männer und Frauen umfasst. Indem wir dieser Tatsache Rechnung tragen, schließen wir gendervariante Personen mit ein -- Menschen, die sich nicht unbedingt innerhalb der binären Geschlechternorm wiederfinden – und stellen sie rigoros in den Mittelpunkt unseres Feminismus. Queerer Feminismus bringt meiner Ansicht nach auch die Erkenntnis mit sich, dass das Patriarchat uns allen schadet; wir sind alle miteinander davon betroffen. Und wenn wir an diese Themen mit einem intersektionalen Ansatz herangehen, nach kollektiver Befreiung streben und solidarisch zusammenarbeiten, können wir auf diese Weise das Patriarchat zerschlagen. Und queerer Feminismus ist für mich auch ein Feminismus, der sexuell positiv besetzt ist und danach strebt, Menschen aller Geschlechtsidentitäten zu befreien.

Es klingt ganz so, als wäre queerer Feminismus für dich keine Theorie, sondern etwas sehr Praktisches?

Auf jeden Fall! Er steht dafür, Menschen in Machtpositionen mit der Wahrheit zu konfrontieren, indem er Unterdrückungsmechanismen aufdeckt -  speak truth to power! Für mich persönlich begann alles damit, dass ich mir sagte: „Ich habe etwas Besseres verdient.“ Ich verdiene etwas Besseres als das, was ich gerade in meinem Land, in meiner Umwelt, in meinem Arbeitsumfeld, in meinen familiären Strukturen und meiner Gesellschaft erlebe. Ich habe etwas Besseres verdient und tue etwas dafür. Es geht darum, etwas zu verändern und den Mut aufzubringen, da raus zu gehen und eigenhändig dafür zu sorgen. Für mich, für meine Art der Arbeit und so wie ich mein Leben gestalte, besteht Aktivismus darin, sich dem zu widersetzen, was man dir über dich selbst erzählt hat, Dinge offen zu legen und für eine bessere Welt einzustehen. Aber es geht nicht nur um ein besseres Dasein für mich selbst, sondern auch für andere wie mich – in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Ich möchte, dass kein queeres Neugeborenes in Kenia jemals das durchstehen muss, was mir widerfahren ist, nur um ein klein wenig Menschenwürde zu erlangen.

Welche Rolle spielen für dich Allianzen, Verbindungen über Identitätsgruppen, race, Länder, Kontinente hinweg beim queeren feministischen Aktivismus? Ist dir diese Form der gegenseitigen Unterstützung wichtig?

Absolut! Und danke, dass du das angesprochen hast. Als queere Feministinnen und Aktivistinnen haben wir nicht immer einen Zugang zu den Stellen, an denen wir etwas erreichen könnten. Solidarität bedeutet für mich, Verbündete an Orten zu haben, zu denen wir selbst keinen Zutritt haben, Menschen, die so denken wie wir und versuchen, uns Türen zu öffnen, zu Ebenen, die uns sonst verwehrt wären. Solidarität besteht für mich darin, dass jemand zuhört und unser/e Fürsprecher/in wird, vor allem wenn wir selbst dazu nicht in der Lage sind.

Es ist eine Menge Arbeit. Das können wir nicht alleine bewerkstelligen. Als ich mit Anfang dreißig völlig überfordert war von all der Arbeit, die anstand, wurde mir klar, dass ich ja gar nicht alles alleine machen muss. Wenn wir uns alle zusammenschließen, wenn die verschiedenen Identitäten sich untereinander solidarisch zeigen, insbesondere zwischen Schwarzen und weißen Menschen, dann können andere, die privilegierter sind und einen breiteren Zugang haben, zu unserem Sprachrohr werden. Das ist meine Utopie, das ist für mich die ideale Form von Aktivismus. So kann man seine Arbeit wirklich erledigen! (lacht)

Die Black Lives Matter-Bewegung und der Widerstand gegen die Polizeigewalt in den USA und auf der gesamten Welt verbreiten sich derzeit durch alle Medien und beflügeln eine Art „weißes Erwachen“ in Hinsicht auf Rassismus. Aber ist das schon so etwas wie Solidarität oder ist es nur ein oberflächliches Zurkenntnisnehmen ohne weitere Folgen? Wo liegen für dich hinsichtlich des queeren feministischen Aktivismus sowohl die Herausforderungen als auch die Chancen in der aktuellen Situation?

Von dem Zeitpunkt an, wo wir damals angefangen haben, bis dahin, wo wir uns heute befinden, hat es schon viele Verbesserungen gegeben und unsere Verbündeten, unsere Unterstützer*innen und unsere Partner*innen haben eine Menge Arbeit geleistet. Aber es muss definitiv noch mehr getan werden. Ich bin schon froh, wenn die Weißen im Jahr 2020 allmählich erkennen, dass Rassismus ein real existierendes Problem ist, auch wenn wir das bereits seit Jahrzehnten deutlich machen. Es liegt vielmehr daran, dass die Leute endlich besser zuhören, was an und für sich ja schon gut ist. Ich bin sehr froh, dass dies geschieht und hoffe, dass es sich nicht nur um eine vorübergehende Phase handelt.

Ich hoffe auch, dass die Leute erkennen werden, dass alle Formen von Unterdrückung miteinander verknüpft sind. Menschen, die sich rassistisch verhalten, tendieren auch dazu, homophob, sexistisch und so weiter zu sein. So etwas hat vielschichtige Ausprägungen. Wenn uns Inklusion im Bereich race wirklich gelingt, könnte das auch in Bezug auf Geschlecht, Queerness und Klasse möglich werden. Bei den Diskussionen zu dem Black Lives Matter-Thema, bei denen ein Erwachen in Bezug auf Rassismus stattgefunden hat, war zeitgleich zu beobachten, dass Frauen genauso katastrophal misshandelt werden wie eh und je. Innerhalb derselben Wochen starben Frauen an den Folgen von Gewalt, von daher kann es sich nicht nur um eine einzige Auseinandersetzung drehen. Es geht um einen vielfältigen Diskurs über Unterdrückung im Allgemeinen. Und wenn wir unser Vorgehen darauf ausrichten, wenn wir uns dem generellen Abbau von Unterdrückungssystemen widmen, dann denke ich, dass die Befreiung aller möglich ist.

Wer inspiriert dich oder dient dir als Vorbild bei deinem tagtäglichen Aktivismus? Was motiviert dich jeden Morgen von Neuem aufzustehen?

Das hat sich im Laufe der Zeit sehr verändert. Wenn du mir diese Frage vor zwei oder fünf Jahren gestellt hättest, hättest du bestimmt völlig verschiedene Antworten darauf erhalten. Als ich mit dem Aktivismus anfing, habe ich mich natürlich an Schwarzen Frauen orientiert, die den Status Quo in Frage gestellt und mich stark inspiriert haben. Wenn ich einen Namen nennen sollte, wäre das definitiv Angela Davis. Ich kann nur immer wieder danach streben, ihr nachzueifern, so radikal wie sie gelebt hat.

Aber Inspiration beziehe ich nicht nur von Menschen, sondern auch von der Utopie, die ich mir ausmale. Meine derzeitige Lebensphase ist vor allem von dem Wunsch nach einem besseren Leben motiviert. Ich bin an einem Punkt angekommen, wo ich meinen Wert kenne und weiß, was mir als Mensch zusteht. Wenn ich also Menschen wie mich betrachte, weiß ich, wer wir sind, was wir wert sind und was uns zusteht. Und das motiviert mich, meinen Teil dazu beizutragen, es Realität werden zu lassen, nicht nur zu meinem eigenen Vorteil, sondern auch für den kollektiven Zugewinn queerer Schwarzer auf diesem Kontinent und auf der ganzen Welt. Das lässt mich weitermachen, auch an Tagen des Stillstands, an denen das Leben hart wird, wir auf großen Widerstand und Hindernisse stoßen oder etwas wirklich Demoralisierendes passiert. Wenn ich an diese Utopie-Welt denke, in der Queerness nichts weiter als Teil des alltäglichen Lebens ist und in der Kinder nicht von zu Hause fortgeschickt werden und all diese schrecklichen Erfahrungen machen müssen, gibt mir das die Energie, an die Arbeit zu gehen und weiterhin Druck aufzubauen. Wenn ich zum Beispiel an meinen Neffen denke, möchte ich nicht, dass er irgendetwas von dem durchmachen muss, was ich erleiden musste. Wenn ich ein Kind sehe, das ein bisschen anders ist und ich schon weiß, was auf es zukommen wird, reicht mir das als Motivation und Inspiration, um die Welt besser machen zu wollen.

Als queere Eltern Kinder großzuziehen und für queere Kinder und Jugendliche einzustehen und sie zu unterstützen, ist an sich schon subversive Politik.

Yvee (lachend): Genau ...

Erzähl mir etwas über den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kontext, der deinen Aktivismus prägt, und über die Strategien, die du in diesem Kontext verfolgst.

Ich lebe in einem Land und in einem Kontext -  der im Prinzip ganz Ostafrika umfasst -  in dem Rechtsstaatlichkeit von den politischen Klassen und Eliten missachtet wird. In Kenia und Südafrika haben wir zum Beispiel wirklich gute Verfassungen -- sie sollten ausreichen, um mich als Minderheit zu schützen. Doch es interessiert hier niemanden, was in der Verfassung steht. Deshalb ziehen wir als Minderheiten ständig vor Gericht. Wir werden deswegen als streitsüchtig abgestempelt, aber das liegt daran, dass wir wirklich das Gefühl haben: uns bleibt kaum eine andere Wahl.

Eine andere Sache ist die Religion. Es ist ein Überbleibsel der Kolonialisierung, das wir aktuell zu spüren bekommen. Ehrlichgesagt weiß ich auch nicht, wie wir die große Hürde der Religion überwinden sollen, weil sie insbesondere über die Älteren tief in der Struktur unserer Gesellschaft verankert ist.

Wir haben also eine Situation, in der die Religion stark verankert ist -- in diesem Fall Christentum und Islam -- und bei der zugleich Rechtsstaatlichkeit missachtet wird. All dies wird vom Patriarchat noch zementiert, ein wirklich schwieriger Kontext. Und was dabei herauskommt, ist massive Armut, Gewalt und Verstöße gegen die Menschenrechte.

In der Region Ostafrika ahmt ein Machthaber die Unterdrückungsmechanismen des nächsten nach. Als vor Jahren das Gesetz gegen Homosexualität in Uganda verabschiedet wurde, haben sie in Kenia sofort versucht, es dort ebenso einzuführen. Deshalb leisten wir eine Menge solidarische Arbeit, auch außerhalb Kenias und Ostafrikas. Wir vernetzen uns mit den queeren Bewegungen in Südafrika und was Prozessstrategien angeht, richten wir unser Augenmerk auf Indien; wir schließen uns mit vielen verschiedenen queeren Gruppen in der gesamten Welt zusammen, um sicher zu sein, dass uns nichts entgeht. Dabei stellt sich oftmals heraus, dass der kulturelle und politische Kontext in vielerlei Hinsicht ähnlich ist. Wir schauen uns also auch was voneinander aus.

Das Arbeiten in einem solchen Kontext erfordert eine Menge Strategie, Planung und Konspiration hinter verschlossenen Türen. Es ist schon so weit, dass wir wie Spione operieren – nichts davon darf nach außen dringen, darf aufgezeichnet werden, bloß keine Fotos -- weil man nie wissen kann, ob man nicht infiltriert wurde.

Eure Strategien erfordern äußerste Geheimhaltung, aber sowohl ihr als auch viele andere queere ostafrikanische Aktivist*innen geht trotz des repressiven Umfelds sehr offen damit um, vor allem in den sozialen Medien. Diese Offenheit, die Präsenz in den sozialen Medien und eure Sichtbarkeit machen euch zugleich extrem angreifbar. Habt ihr diese Strategie bewusst gewählt?

Ja. Ich spreche jetzt speziell für Kenia. Als wir anfingen, unseren queeren Aktivismus zu organisieren, konzentrierten wir uns in erster Linie darauf, Richtlinien und Gesetze zu ändern. Im Laufe der Zeit kamen wir jedoch zu der Erkenntnis, dass uns kein Gesetz dieser Welt schützen wird, wenn die Menschen in ihren Herzen und Gedanken nicht bereit für einen Wandel, Inklusion und Gewaltlosigkeit sind. Deshalb haben wir einen vielschichtigen Ansatz zur Entkriminalisierung von Homosexualität gewählt. Wir haben uns gesagt: Es geht dabei nicht nur um Rechtsstreitigkeiten. Wir müssen uns auch mit all diesen anderen Dingen beschäftigen und ihnen Rechnung tragen.

Damals, als ich als junger Mensch der Bewegung beigetreten bin, fiel mir auf, dass die Bewegung nicht offen zu ihren Identitäten stand. Wenn ich mich in anderen Teilen der Welt und Afrikas umgesehen habe, gab es da Leute, die sich lautstark und stolz geoutet haben, nicht jedoch in Kenia. Dies führte auch hierzulande dazu, dass wir dieses Versteckspielen einfach leid wurden. Ich erinnere mich, wie wir irgendwo aufkreuzten, die Debatte mit Regierungsbeamten suchten und verkündeten: „Wir sind die Vertreter*innen einer Gruppe“, und sie fragten: „Wer sind diese schrägen Typen? Wieso haben wir bisher noch nie etwas von ihnen gehört?“ Das hat zum Teil dazu beigetragen, dass wir sichtbarer wurden, uns geoutet haben und riefen: „Wir sind queer und wir sind hier, und jetzt gebt uns unsere Menschenrechte!“ Das war kein kollektives Coming-Out, im Sinne von „lasst uns uns alle bei den Händen halten und uns zusammen outen Die Leute hatten diese Ignoranz einfach total satt. Es gab eine Zeit, in der sich ein politischer Führer erheben und voller Zuversicht behaupten konnte: „In Kenia wie in ganz Afrika gibt es keine queeren Menschen“. Diese Zeiten sind vorbei. Sie mögen uns immer noch nicht, aber sie können uns auch nicht mehr ignorieren.

In den USA und in vielen europäischen Ländern wird ‚queer‘ oft mit sichtbar sein, feiern, konsumieren in Zusammenhang gebracht. Denken wir zum Beispiel an den Christopher Street Day: Er entsprang dem Widerstand Schwarzer trans*-Personen gegen Polizeigewalt, ein Kampf einer Community, die immer noch gefährdet ist und für die sichtbar sein häufig mit Gewalterfahrung einhergeht. In vielen westlichen Ländern ist der CSD jedoch zu einer einzigen Marketing-Veranstaltung geworden. Sich  öffentlich zu zeigen ist sicherlich politisch wichtig, doch daneben gibt es so viele, die vor allem um ihr Überleben kämpfen.

Genau. Wenn ich mit jüngeren Queers spreche, empfehle ich ihnen immer, es langsam angehen zu lassen: Such dir einen geeigneten Zeitpunkt für dein Coming-Out, wenn du dich sicher fühlst, wenn es ringsum passt. Mach es nicht nur, weil ich es getan habe. Es ist ein sensibler Balanceakt und die Debatte über Sichtbarkeit und Sicherheit ist auch bei uns ein umstrittenes Thema.

Ich stehe eindeutig auf der Seite der Sichtbarkeit und des Coming-Out, aber ich sage das wohlwissend um meine privilegierte Stellung und mache all das deutlich, was mir das erlaubt hat. Ich verfüge über bestimmte Privilegien, die es mir ermöglichen, extrem sichtbar zu sein, mich zu outen und stolz darauf zu sein, ohne jede Minute meines Lebens unmittelbar in Gefahr zu schweben. Das ist nicht für alle queeren Menschen so selbstverständlich.

Hast du ein bevorzugtes Forum zur Mobilisierung und für Aktivismus?

Dazu fallen mir zwei Sachen ein. Die erste: Ich glaube, das Internet war und ist auch immer das beste Mittel, was wir jemals zur Verfügung hatten -- die Art und Weise wie man buchstäblich Menschen aus aller Welt zusammenbringen kann, ohne sie zu gefährden, insbesondere in Zeiten von Covid-19.

Abgesehen davon war das, was mich komplett radikalisiert hat und worauf sich meine feministische Arbeit in erster Linie begründet, die Frauen*- und genderqueeren Räume, die wir zur Verfügung hatten. Auch innerhalb der Bewegung der queeren Minderheiten führten wir in diesen sicheren Bereichen, zu denen Männer keinen Zutritt haben, den radikalsten Austausch. Dort fanden Gespräche statt, die mein Glaubenssystem verändert haben, die mir geholfen haben, Dinge zu verlernen, die man mir beigebracht hat; dort konnte ich neu lernen und mein Feminismus wachsen. Diese Orte ausschließlich für Frauen* und Genderqueere Menschen sind ein ganz wesentliches Element, damit wir den Diskurs und die Strategien zur Zerschlagung  des Patriarchats ohne große Einmischung von außen weiterführen können.

Du bist nicht nur eine ausgesprochen überzeugte Aktivistin, sondern auch eine elegante Stilikone. Ist das lediglich dein persönlicher Ausdruck oder spielen Stil und Mode auch im queeren feministischen Aktivismus insgesamt eine Rolle?

Yvee: Beides ist der Fall. Was mich betrifft, ich sehe generell gerne gut aus. Es hat schon immer zu meiner Identität gehört, sehr mode- und trendbewusst zu sein. Aber als ich mich als nicht-binär outete und ein bisschen mit Gender-Dysphorie zu kämpfen hatte, gab mir das Anzugtragen ein sicheres Gefühl. Das Selbstvertrauen, wenn ich in den Spiegel schaute... Ich sah die Person, die ich in meinem Innersten wirklich war, die andere nicht wahrgenommen haben oder nicht wahrnehmen wollten. Das Tragen eines dreiteiligen Anzugs ist also nur eine Möglichkeit, mich in meiner Geschlechtsidentität zu bestärken.

Aber zugleich geht es auch darum, unsere Männlichkeit zurückzuerobern. Wer hat denn entschieden, dass Männlichkeit ausschließlich ein Privileg von Cis-Männern ist? Interessanterweise fühlen sich viele bedroht, wenn sie jemandem begegnen, der ihrer Meinung nach nichts am Männertisch zu suchen hat. Es bringt mich zum Lachen! Was ist denn so Bedrohliches daran, wenn ich einen dreiteiligen Anzug trage? Von daher ist das Anzugtragen auch eine Provokation des bestehenden Systems, auf die das Patriarchat immer wieder wütend reagiert. Und wenn man das damit erreichen kann und dabei noch gut aussehen und sich gut fühlen, haben meines Erachtens alle etwas davon.

Schon komisch, wie stark das patriarchalische System zu sein scheint, aber wie leicht es durch so banale Dinge zu erschüttern ist.

Yvee: (lacht) Es ist so zerbrechlich.
Ich glaube, du hattest mal gefragt, was ich tun würde, wenn ich keine Aktivistin wäre. Unter diesen Umständen würde ich ehrlich gesagt einfach ein Modelabel für Genderqueere und androgyne Menschen gründen, allein schon um Widerstand zu leisten und zu provozieren, was es wirklich bedeutet, Kleidung zu tragen, die zu einem passt und unter Umständen nicht unbedingt dem entspricht, was die Gesellschaft vorschreibt.

Was würdest du jungen queeren Feminist*innen, anderen Aktivist*innen und ganz allgemein jungen Menschen in Kenia, in Afrika, oder anderswo auf der Welt mit auf den Weg geben wollen?

Yvee: Ich wünschte mir eines, nämlich dass mir mit 19 Jahren, als ich meinen Weg begann, jemand erzählt hätte, ich solle gut für mich selbst sorgen. Diese Arbeit kann dich auffressen… Dass es in Ordnung ist, eine Pause einzulegen. Dass es in Ordnung ist, einen Schritt zurückzutreten. Dass es in Ordnung ist, gut für sich selbst zu sorgen und sich manchmal einfach abzumelden und das zu tun, was man gern macht, nur für sich. In dem Umfeld, aus dem ich stamme, wird Rastlosigkeit und Leiden ganz besonders glorifiziert: Diejenigen, die unermüdlich im Einsatz sind, werden als produktiv und erachtet, selbst wenn es der körperlichen und seelischen Gesundheit schadet. Tatsächlich entspringt dieses Gedankengut dem kapitalistischen System und es hat lange Zeit die Kultur beherrscht. Als ich mit dieser Arbeit anfing, habe ich ihr mein gesamtes Leben , mein ganzes Ich gewidmet und es hat mich fast aufgefressen.

Den jungen Aktivist*innen möchte ich also Folgendes mitgeben: Ja, lass uns diese Arbeit machen, sie muss getan werden. Wir sind hier, um zu versuchen, aus diesem Ort einen besseren zu machen, und das ist für sich genommen wirklich bewundernswert. Vergesst darüber jedoch nicht, gut für euch zu sorgen, euch Auszeiten zu nehmen und euch ein Unterstützungssystem aufzubauen. Kümmert euch um eure geistige Gesundheit, um euren Körper und kümmert euch umeinander. Auf diese Weise könnt ihr für lange Zeit starke und gefährliche Kämpferinnen an vorderster Front bleiben.

Genau wie Audre Lorde uns daran erinnert hat, dass Selbstfürsorge politische Kriegsführung ist.

Yvee: Ganz genau. So ist es in der Tat. Und ich bin froh, dass diese Art von Diskurs jetzt auch im queeren Bereich stattfindet. Vor einigen Jahren war das allerdings noch nicht der Fall. Wir wollten nur Druck ausüben und nonstop voranpreschen. Deshalb, -  auch wenn ich jetzt vielleicht wie eine Schallplatte klinge, die einen Sprung hat - , sorgt bitte gut für euch, ganz besonders in Zeiten wie diesen, in denen das gesamte Dasein ein bisschen ungewiss und die Zukunft ein bisschen vage ist und wir bereits so viel Isolation erlebt haben. Es hat sich tatsächlich schon eine ganze Menge getan in unserem Dasein. Es ist gut, sich die Zeit zu nehmen, um mal tief durchzuatmen.