Frauen am Wegrand des Krieges

Hintergrund

Der vorliegende Artikel erzählt die Geschichten von Frauen, die während des dritten Krieges in Artsakh (Bergkarabach) nach Armenien zogen und deren Männer auf dem Schlachtfeld blieben.

Ein kurzer historischer Abriss

Die Wurzeln des Konflikts um Bergkarabach reichen zurück bis ins 19. Jahrhundert. Gewalt brach das erste Mal in den Anfangsjahren der Sowjetunion aus und führte zum Streitfall Bergkarabach bzw. Artsakh, wie die Region auf Armenisch heißt.

In den 1960er Jahren flammte der Konflikt erneut auf und entwickelte sich 1988 zu einer pan-nationalen Bewegung in Armenien und Artsakh. Die Forderung lautete: Wiedervereinigung von Bergkarabach (NKAR) – zum damaligen Zeitpunkt ein autonomes Gebiet mit mehrheitlich armenischer Bevölkerung innerhalb der Azerbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik – mit der Armenischen Sozialistischen Sowjetrepublik gemäß dem in der sowjetischen Verfassung garantierten Grundsatz des Selbstbestimmungrechts der Völker.

Von Herbst 1991 bis zum Frühjahr 1992 entwickelte sich der Bergkarabachkonflikt zu einem großflächigen Krieg, der bis Mai 1994 dauerte und mit einem Waffenstillstand endete. Danach kontrollierte die nicht anerkannte Republik Artsakh (AR) sieben Regionen jenseits der ursprünglichen Grenzen. Der zweite Krieg begann am 1. April 2016 und endete vier Tage später mit einem Waffenstillstand. Der dritte Artsakh-Krieg begann am 27. September 2020 und dauerte 44 Tage. Er endete mit einer Vereinbarung, die am 10. November 2020 unterzeichnet wurde und dazu führte, dass Armenien sieben ursprünglich kontrollierte Regionen sowie die Regionen Hadrut und Shushi/a verlor, die de facto innerhalb des Gebiets von Bergkarabach lagen.

Phase 1: Explosion

Die folgenden Geschichten bezeugen, dass der Morgen des 27. September 2020 für die Bewohner*innen von Artsakh wie ein Blitz aus heiterem Himmel kam.

Anahit, 29, Mutter von drei Kindern aus Martakert, berichtet:

„Mein Kind ist am 26. September zwei Monate alt geworden. Wir hörten morgens einen Knall, nichts Ungewöhnliches für uns. Aber dann sah ich, dass das Nachbarhaus zerstört war; die Schwägerin unserer Nachbar*innen kam ums Leben. Wir stiegen dann alle ins Auto und flohen nach Vaghuhas. Erst nachdem wir bereits ungefähr vier Kilometer gefahren waren, fiel uns auf, dass unsere Schwäger und ihre Kinder ja noch in Martakert waren; so durcheinander waren wir. Wir fuhren also zurück und nahmen die Kinder von zwei Schwägern mit. Als wir in Drmbon ankamen, erfuhren wir, dass mein jüngster Schwager auch auf dem Weg nach Drmbon war. Er sagte, er wolle seine Brüder und deren Frauen herholen. Die Kinder meiner beiden Schwäger meinten, sie wollten ihren Onkel nicht allein fahren lassen. Also stiegen sie in das Auto meines jüngsten Schwagers und fuhren zurück, luden die anderen ein und machten sich auf den Weg zurück zu uns. Auf halber Strecke schlug eine Smertsch-Rakete neben ihnen ein und schleuderte ihr Auto in eine Schlucht…“.

Lilit, Choreographin und Mutter von zwei Kindern aus Hadrut, erzählt:

„Am 27. gingen wir runter in den Keller. Ich dachte, es sei alles vorbei, als ich bemerkte, dass nicht alle nach unten gekommen waren. Später erfuhr ich, dass alle, die konnten, geflohen waren. Am nächsten Tag kam eine Nachbarin zu uns und fragte, ob wir mit ihnen das Gebiet verlassen wollten. Wir kamen bis nach Shushi. Aber die Panik hörte nicht auf. Die Frau hatte Angst, und wir wären um ein Haar in einen Unfall geraten. Und als der Angriff auf Shushi begann, weigerte sie sich weiterzufahren. Sie sagte, sie hätte Angst. Mein Mann rief einen Freund in Goris an und bat ihn, uns, also seine Familie, herauszuholen. Wir kamen in einen schrecklichen Stau in Lachin und wurden aufgefordert, unser Licht auszuschalten, damit man uns nicht sehen konnte. Der Mann fand unser Auto in einer fünf Kilometer langen Autoschlange. Das Schießen nahm kein Ende. Wir rannten fünf Kilometer mit den Kindern im Arm, um zum Auto des Mannes zu gelangen. In der Nacht erreichten wir Goris“.    

Und obgleich der letzte Krieg erst vor vier Jahren eingefroren wurde und dem dritten Krieg im Juli Zusammenstöße an der Grenze zur Region Tavusch im Nordosten von Bergkarabach vorausgegangen waren, traf der neue Krieg die Bevölkerung vollkommen unvorbereitet. Das Maß an Unvorbereitetsein zeigte sich einerseits darin, dass die Bevölkerung, die jahrzehntelang im Gebiet eines eingefrorenen und zeitweise aufgeheizten Krieges gelebt hatte, keinen Krieg erwartet hatte. Andererseits war es so, dass es weitestgehend an einer angemessenen Ausbildung in ziviler Mobilmachung fehlte und dass die Bevölkerung kein ernsthaftes Wissen darüber hatte, wie sie sich im Kriegsfall bzw. bei Wiederaufflammen der Feindseligkeiten zu verhalten habe.

„Zu Anfang, als die Männer noch bei uns waren, fühlten wir uns irgendwie sicher, denn sie hatten ja in der Vergangenheit bereits gekämpft und wussten, was zu erwarten war. Als wir aber später auf uns allein gestellt waren, stellten wir fest, dass wir keine Ahnung vom Krieg hatten; wir wussten nicht, welche Waffen eingesetzt wurden oder ob ich uns schnell Wasser holen konnte oder nicht“, schildert Lilit aus Hadrut. 

Das ist der Grund, warum die Frauen kurz nach den ersten aserbaidschanischen Angriffen auf die Grenzsiedlungen ihre Häuser ohne Habseligkeiten verließen, manche sogar ohne Dokumente. Die Frauen, die die nicht unmittelbar an oder entlang der Grenze gelegenen Siedlungen verließen, waren zudem davon überzeugt, dass der Krieg nur einige Tage dauern würde und dass sie bald in ihre Häuser zurückkehren könnten. Daher sahen sie keine Notwendigkeit darin, mehr mitzunehmen als das, was sie brauchten, um nach Armenien zu gelangen.   

Phase 2: Zuflucht

Diejenigen, die Artsakh nicht gleich am ersten Tag verließen, fanden Zuflucht in den Kellern, wo sie sich mit Bewohner*innen aus benachbarten Häusern zusammenfanden und versuchten, offizielle oder interne Nachrichten über die neuesten Entwicklungen des Krieges zu bekommen und ihr weiteres Vorgehen zu planen.

Das deprimierendste und größte Hindernis war die Unwissenheit und die Unfähigkeit, die eingesetzten Waffen an ihrem Geräusch zu erkennen, sowie das mangelnde Wissen darüber, wie gefährlich jede Art von Waffe war. Um die täglichen Aktivitäten besser organisieren zu können, wenn sie zwischen Keller und Wohnung hin- und herliefen, um Essen zu holen und sich um die kleinen Kinder zu kümmern, wäre ein derartiges Wissen äußerst hilfreich gewesen.

Doch die alltäglichen Schwierigkeiten brachen nicht ihren Mut, da die kritische Lage die Mobilisierung aller Kräfte und die Betreuung der Kinder erforderte.    

Gayane, 37, Übersetzerin und Professorin und Mutter von drei Kindern aus Shushi, führt aus:

„Zwei Tage lang habe ich mein jüngstes Kind ausschließlich gestillt. Dann habe ich den Bürgermeister gebeten, Windeln und Essen für die Kinder bereitzustellen, weil alle Läden geschlossen waren. Am dritten oder vierten Tag begannen sie, uns mit diesen Dingen zu versorgen. Eine mir gänzlich unbekannte Frau rief eine Apotheke an und bat darum, diese zu öffnen. Sie kaufte Babynahrung und brachte sie mir. Wir ließen uns von diesen alltäglichen Herausforderungen nicht unterkriegen, weil wir davon überzeugt waren, dass wir gewinnen würden. Unsere Männer waren alle an der Front. Aber niemand quengelte“.

Phase 3: Evakuierung

Die Frauen trafen die Entscheidung, Artsakh zu verlassen und nach Armenien zu gehen, gemeinsam mit ihren Ehemännern. Die Männer drängten sie zu gehen, als sie merkten, dass es nicht mehr sicher war zu bleiben, da auch zivile Gebäude und zivile Infrastruktur bombardiert wurden.

Lilit, 34, aus Shushi, Universitätsdozentin und Mutter von zwei Kindern und erneut schwanger, erzählt:

„Meine Rückenschmerzen wurden immer schlimmer, aber ich verdrängte sie. Und dann sagte meine Schwester, dass wir nach Eriwan ziehen würden. Ich aber hatte meinem Mann gesagt, dass ich bleiben würde. Er sagte immer wieder: “Auch wenn alle anderen Shushi verlassen, Du solltest bleiben“. Meine Tochter, die ein wenig sensibel ist, sagte: „Mama, Du denkst nicht an uns, Du schützt uns nicht“. Die Kinder weinten ununterbrochen. Wir blieben bis zum 3. November. Und dann merkte ich am Verhalten meines Mannes, dass die Situation wirklich dramatisch war. Mein Vater kam aus dem Dorf zu uns und war wütend auf mich, dass ich so lange geblieben war. Mein Arzt rief an und sagte, ich müsse unbedingt zu einer Ultraschalluntersuchung. Ich fuhr nach Stepanakert, bekam eine Ultraschalluntersuchung, und man sagte mir, dass das Kind wegen der katastrophalen Situation eventuell früher kommen würde. Und am 4. November fuhr uns mein Vater nach Eriwan.“

Die Zivilbevölkerung verließ die Siedlungen, die vergleichsweise weit von der Frontlinie entfernt waren, in relativ geordneter Art und Weise, da man mehr Zeit zum Packen hatte. Außerdem stellten eine Reihe von Privatunternehmen Fahrzeuge für den Transport nach Armenien zur Verfügung.

Stepanakert förderte die Evakuierung der Bevölkerung nicht – außer in einigen Ausnahmefällen, wo eine Evakuierung offiziell für notwendig erklärt wurde –, um eine Entleerung der Siedlungen zu verhindern und Panik vorzubeugen.

Die Flucht der Frauen, Kinder und Alten, die in den ersten Tagen des Krieges unter Beschuss gerieten, war chaotischer und katastrophaler, denn sie mussten die Siedlungen innerhalb weniger Stunden oder manchmal sogar Minuten verlassen.

Hripsime, 28, Mutter von vier Kindern aus Nor Maragha, berichtet:

„Es war die erste Nacht in unserem neuen Haus. Die Kinder schliefen. Wir hatten nicht die leisteste Ahnung, dass ein Krieg ausbrechen würde. Unser Nachbar verkauft Holz und wir dachten, dass der Lärm vom Beladen seines Holzes kam. Wir wachten auf und sahen, dass Martakert in Rauch gehüllt war. Die Stadt wurde so stark getroffen, dass Staub in die Luft gewirbelt wurde. Meine Tochter fiel aufgrund von starken Menstruationsbeschwerden in Ohnmacht. Wir brachten sie wieder zur Besinnung. Mein Mann fuhr mich zur Kitchan-Kreuzung. Dort ließ er mich und die vier Kinder zurück; er selbst fuhr zurück an die Front. Unsere Flucht war wirklich unbeschreiblich: Ich fand auf dem Boden eine Hose und zog sie an. Meine Kinder hatten nichts an.”

Phase 4: Zuflucht in Armenien

Für Familien aus Artsakh, die entweder Familie in Armenien hatten oder selbst aus Armenien stammten, war es vergleichsweise einfach, einen Zufluchtsort zu finden.

Für Familien, die keine Verwandten oder Freunde hatten oder die sich keine Wohnung leisten konnten, organisierte der Staat die Vermittlung von Unterkünften.

Die Erfassung derer, die aus Artsakh kamen, sowie die Erstellung einer Datenbank von Familien, die bereit waren, andere aufzunehmen, übernahm eine kleine Gruppe Freiwilliger. In Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Arbeit und Soziales richteten sie innerhalb einer Woche eine organisierte Zentrale – eine Hotline – ein. Man suchte die Unterkünfte nach den Bedürfnissen der jeweiligen Familie aus. Im Laufe der Zeit kristallisierten sich folgende Grundsätze für eine Ansiedlung in Eriwan heraus: 

  • Es gab in der Familie einen verwundeten Soldaten in einem Krankenhaus in Eriwan;
  • Man brauchte medizinische Versorgung oder Betreuung (beispielsweise Schwangere; Frauen, die gerade entbunden hatten; Personen, die gerade frisch operiert worden waren oder Personen mit besonderen Bedürfnissen).

Phase 5: Unterkunft und Versorgung

Nach ihrer Ankunft in Armenien standen die Frauen vor dem Problem, sich eine Unterkunft zu organisieren, was einige Besonderheiten mit sich brachte. Familien, die in Hostels und anderen kostenfreien Unterkünften untergebracht wurden, galten als gefährdeter, da sie weder Zugang zu Lebensmitteln noch eine eigene Einkommensquelle hatten. Ehrenamtliche Helfer*innen taten sich zusammen, um flexible Lösungswege zu finden und Zugang zu Lebensmitteln, Sanitär- und Hygieneartikeln und anderen Bedarfsgütern zu bekommen, insbesondere in den Fällen, in denen die Ankommenden in staatlich finanzierten Hostels untergebracht wurden.

Privatunternehmen ergriffen ebenfalls zahlreiche Inititativen und nahmen Menschen in ihren Gästehäusern und Hotels auf. Am Anfang kümmerten sie sich selbst um die Unterbringung und tägliche Versorgung der Menschen aus Artsakh. Auch private Gastronomieunternehmen beteiligten sich aktiv an der Versorgung der Hostels und anderer Unterkünfte mit überwiegend Artsakhischer Bevölkerung.

Im Laufe der Zeit entstand eine Zusammenarbeit zwischen Freiwilligeninitiativen, Privatunternehmen und den lokalen Selbstverwaltungen; diese Zusammenarbeit half dem Staat dabei, die Bereitstellung humanitärer Hilfe innerhalb der lokalen Selbstverwaltungen besser zu verwalten und zu konsolidieren. Dabei informierte der Staat die lokalen Selbstverwaltungen über die Hilfsangebote oder lieferte die Hilfsgüter direkt an sie.

Am 1. Oktober verabschiedete die Regierung einen Erlass, nach dem medizinische Hilfe und Gesundheitsversorgung für die Opfer militärischer und terroristischer Aktivitäten in der Republik Armenien und der Republik Artsakh kostenlos sein sollten. Dieser Erlass wurde jedoch nicht ausreichend publik gemacht und war nicht allen zuständigen und betroffenen Stellen bekannt. Somit profitierten Frauen, die von Sozialarbeiter*innen unterstützt wurden, denen dieser Erlass bekannt war, stärker davon. 

In dieser kritischen Situation versäumte es das staatliche System oftmals, flexible Lösungen bereitzustellen. Weder wurden etablierte Verfahren vereinfacht oder ergänzt, noch wurden die Besonderheiten der Situation berücksichtigt (allem voran die Tatsache, dass die Menschen aus Artsakh keine Dokumente bei sich hatten), was zu zusätzlichen Scherereien für die Frauen führte oder auch dazu, dass manche Probleme gänzlich ungelöst blieben. 

„Seitdem der Ehemann von den militärischen Verteidigungsstellungen zurückgekehrt ist, liegt er in der psychiatrischen Klinik Avan. Er kam zurück und schlug seine Frau. Sie hatten früher eine Nachbarin, die gestorben war. Und er sagte: „Die Seele der Nachbarin hat sich in meiner Frau eingenistet, deshalb schlage ich sie“.
Der Krankenwagen nahm ihn mit, aber im Krankenhaus sagte man ihm, man könne ihn nicht dabehalten, da er keinen Ausweis habe. Daraufhin drehte er durch und zerstörte alles. Ich wandte mich an die Sozialversicherungsträger und andere offizielle Stellen. Diese nahmen ihn dann ohne Dokumente mit, während wir weiter auf seinen Ausweis warteten.
Es gibt eine Frau, die an einer Erkrankung des Bewegungsapparates leidet; sie bat um eine Ellenbogenstütze. Ich stellte eine Anfrage, und mir wurde ein kompliziertes System erklärt: An wen ich mich wenden sollte, wo ich die Frau hinbringen sollte, wie lange ich auf bestimmte Papiere warten müsste, die ich für die Ellenbogenstütze brauchte. Ich merkte, dass ich weder die Zeit hatte, noch konnte ich die Frau mit zu all diesen Stellen nehmen. Dann verbreitete ich die Nachricht unter meinen Freund*innen und eine/r von ihnen überwies das nötigte Geld und ich kaufte die Stütze einfach. Die Frau war auf Wolke sieben“, erzählt Anna Grigoryan, eine Freiwillige.    

Phase 6: Stress

Nach der Ankunft in Armenien ging es darum, die täglichen Probleme in den Griff zu bekommen – beispielsweise halbgeklärte Gesundheitsprobleme von Familienmitgliedern zu lösen, Schwangerschaftskontrollen zu organisieren und Informationen zu den vorbenannten Themen zu finden. Die größte Belastung für die Frauen war jedoch die Sorge um die Situation auf dem Schlachtfeld und das Warten auf einen Anruf der Ehemänner oder Verwandten.

Der Krieg wirkte sich auch auf die Psyche der Kinder aus. Alle Frauen bezeugen und alle Freiwilligen und Expert*innen bestätigen, dass der Ausbruch des Krieges und die Flucht sowie die Abwesenheit der Väter und ihr Kampf an der Front traumatische Folgen für die Kinder haben. Die Frauen berichteten, dass sie zunächst die zuständigen Stellen und Freiwilligen, die mit ihnen wegen der Traumata, unter denen sie selbst und ihre Kinder litten, in Kontakt getreten waren, informiert und ihnen von den verstörenden Phänomenen berichtet hätten.  

„Einmal stand mein siebenjähriger Sohn mitten in der Nacht auf und begann zu weinen. Er hatte sich vorgestellt, dass sein Vater tot sei. Ich rief nachts den Sozialarbeiter an. Ein Psychologe rief zurück, sprach mit dem Kind und beruhigte es. Am Morgen kam Hayk, ein ehrenamtlicher Psychologe, der Menschen aus Artsakh hilft, zu uns. Er arbeitet nach wie vor mit meinem Sohn. Und er sagte, dass er auch nach unserer Rückkehr nach Artsakh weiter mit ihm online sprechen würde“, berichtet Hripsime aus Nor Maragha.

Nicht alle machten jedoch entsprechend positive Erfahrungen.

Andere wiederum waren besorgt, dass die Gastgeber*innen oder die ältere Generation den Besuch eines Psychologen nicht positiv aufnehmen könnten und lehnten ab.

“Um die Wahrheit zu sagen, hat Armine zwar vorgeschlagen, einen Psychologen für mich zu organisieren; ich befürchtete aber, dass meine Schwiergermutter oder der Gastgeber das falsch verstehen könnten. Daher lehnte ich das Angebot ab. Mein Sohn aber war schwer verängstigt durch die Explosionen. Er wurde ein wenig aggressiv in dieser Zeit. Unsere Kultur erkennt psychologische Unterstützung nicht entsprechend an. Die Menschen bei uns denken, dass wenn man sich an einen Psychologen wendet, man zu einem Psychiater geht; sie kennen den Unterschied nicht. Lange Zeit schreckten meine Kinder zusammen, wenn die Tür oder Pforte aufging…regelmäßig hörten wir Flugzeuge und jedes Mal erstarrten sie und schauten, was vor sich ging“. 

Zwischenzeitlich berichteten diejenigen, die an der Lösung der Probleme der Frauen mitwirkten, dass sie bei den Frauen meist ein erstaunliches mentales Durchhaltevermögen beobachteten, die Fähigkeit, die richtige Lösung in einer kritischen Situation zu finden und ein hohes Maß an Besonnenheit an den Tag zu legen, wenn es um materielle und menschliche Verluste ging.

„Manchmal war ich wirklich überrascht, wenn sie mir ganz ruhig erzählten, dass ihr Mann im Kampf gefallen war. Und ich hatte nicht den Eindruck, dass es ihnen egal war; es war eher so, dass sie sehr ruhig und besonnen zu sein schienen: „Ja, wir haben dort gelebt und er könnte sterben“. Überraschend war auch zu sehen, dass selbst schwangere Frauen in dieser stressigen Situation überaus widerstandsfähig waren und nicht vorzeitig entbanden“, sagt Kristine Asatryan, Freiwillige und Mitarbeiterin der Hotline.

Phase 7: Integration und Leben

Obgleich man den Frauen versicherte, dass ihre Gastfamilien, die Anwohner*innen und Ehrenamtlichen alles tun würden, um ihr Leben wieder so normal wie möglich zu gestalten, Unterhaltungs- und Freizeitaktivitäten für die Kinder zu schaffen und ihren mentalen Zustand zu verbessern, gab es eine Reihe unangenehmer Vorfälle, in denen einzelne Personen nicht wohlwollend mit ihnen umgingen.

Die meisten Erzählungen zeigen jedoch, dass insgesamt eine freundliche und fürsorgliche Atmosphäre herrschte.

„Nur mein Mann fehlte uns wirklich sehr; er war sonst immer bei uns und es hat uns nie an etwas gemangelt. Aber dank der Menschen, die in unserer Nähe waren und die uns nicht allein ließen, kann man sagen, dass uns nur äußerst selten wirklich etwas fehlte,“ sagt Hripsime aus Nor Maragha. 

Ungeachtet aller Schwierigkeiten lässt sich festhalten, dass die Frauen darauf bedacht waren, ihren Kindern ein geregeltes Leben zu ermöglichen und versuchten, für sie stabiler und besser organisiert zu sein.

“Meine Kinder gingen nicht zur Schule, aber ich habe sie jeden Tag unterrichtet. Ich stand in Kontakt mit der Klassenkoordinatorin in Martakert; sie gab den Kindern Aufgaben, die sie hier erledigten. Andernfalls würden die Kinder Analphabet*innen bleiben,“ meint Anahit aus Martakert.

Die Frauen, die ihre schulpflichtigen Kinder zur Schule schickten, bekundeten, dass sich die Kinder damit besser fühlten, und es tat ihnen leid, dass in einigen Fällen die Kinder aufgrund der Coronapandemie nicht mehr zur Schule gehen durften.

Diejenigen aber, denen es nicht gelang, ihre Kinder wegen der Pandemie zur Schule zu schicken, waren davon überzeugt, dass das die Psyche der Kinder positiv beeinflussen würde.

Um die Schwierigkeiten ihres Lebens zu vergessen und sich nützlich zu machen, beteiligten sich einige Frauen an Initiativen zur Entlastung anderer und unterstützten ehrenamtlich Gruppen von Personen, die besonders schutzbedürftig waren.

“Ich bin bereits ehrenamtlich tätig. Es kamen neue, verwundete Männer herein; der Wachmann gab mir die Schlüssel, damit ich mich um sie kümmerte. Ich brachte sie hierher und wies ihnen ihre Plätze zu. Jetzt gehe ich runter und hole ihnen Abendbrot,“ berichtet Anahit aus Martakert mit großer Begeisterung.   

Verlust und Trauer

Was den erlittenen Verlust angeht, verloren die Frauen, die in den von Artsakh kontrollierten Regionen lebten, je nach Grad der Bombardierung entweder Teile ihres Besitzes oder ihr gesamtes Hab und Gut, das sie im Laufe der Jahre angesammelt hatten. Einige von ihnen zahlen nach wie vor die Kredite und Schulden ab, die sie aufgenommen haben, um materielle Dinge (Haus, Gerätschaften, Möbel usw.) anzuschaffen, die sie letztlich nie genutzt haben. 

Die Frauen, die aus den Regionen stammten, die unter der Kontrolle Aserbaidschans verblieben, verloren ebenfalls ihre Häuser und ihren Besitz. Obendrein verloren sie die Möglichkeit, in ihre Heimat zurückzukehren.

Dessen ungeachtet, erwähnen sie den materiellen Verlust nur am Rande und sind überzeugt, dass sich alles wiederherstellen lässt und dass sie um der Kinder willen die nötige Kraft finden werden, ein neues Leben zu beginnen. Der wahre Verlust ist jedoch der Verlust ihrer Erinnerungsstücke: Fotos aus ihrer Kindheit, Fotos ihrer Kinder, Handarbeiten, Zeugnisse, Medallien – also all das, was unwiederbringlich ist und Teil ihres spirituellen Lebens war.

„Ein Zuhause besteht nicht nur aus vier Wänden, ein Zuhause ist die Erinnerung an die entsprechenden Lebensjahre. Egal, wohin ich ging, ich habe meine Erinnerungsstücke immer mitgenommen…Mein Vater lebt nicht mehr, und ich habe nun keine Fotos mehr von ihm. Ich hatte einige Bücher, die ich für meine jüngste Tochter geschrieben hatte, mit Fakten aus ihrem Leben, mit Fotos von ihr. Besitz ist mir egal, ich möchte meine Erinnerungsgegenstände zurück; Dinge, die ich für kein Geld der Welt kaufen kann. Mein Herz schmerzt bei dem Gedanken an die Handarbeiten und Kunstgegenstände, die in unserem Kulturzentrum geblieben waren. Ich habe gesehen, dass alles komplett niedergebrannt wurde. Sie haben vielleicht die Bilder der Jungfrau Maria und armenische Stoffmuster gesehen… und haben alles verbrannt. Aber das ist genau das, wofür und womit diese Menschen gelebt haben,“ berichtet Lilit aus Hadrut mit tränenerstickter Stimme.   

Nach Aufzählung sämtlicher unwiederbringlicher Verluste vergleichen sich die Frauen jedoch mit denjenigen, die noch mehr verloren haben als sie selbst. Dabei stellen sie fest, dass es ihnen noch viel schlechter gehen könnte oder dass sie bereits tot sein könnten, und finden darin einen gewissen Trost. Verglichen mit dem Verlust eines Verwandten, eines Ehemannes oder eines eigenen Kindes scheinen sämtliche andere Verluste – der materielle Verlust, der Verlust der Erinnerungen und des Heimatlandes – erträglich.  

Die Zukunft

Der Ausgang des Krieges lässt die Zukunftsvorstellungen der Frauen im Ungewissen und hat zu vielen offenen Fragen geführt, von denen mögliche Zukunftsszenarien abhängen. Nicht einmal die verlorenen Gebiete haben den Wunsch der großen Mehrheit gebrochen, in die von Artsakh kontrollierten Regionen zurückzukehren und sich dort an einem anderen Ort niederzulassen. Ob sich dieser Wunsch realisieren lässt, hängt von materiellen und Sicherheitsgarantien ab. Für den Fall, dass Unterkunft, Entschädigung für entstandenen materiellen Schaden, staatliche (und nicht staatliche) Programme zur Finanz- und Vermögensstabilität und -entwicklung bereitgestellt werden, beabsichtigt die Mehrheit der Frauen zweifelsohne, nach Artsakh zurückzukehren.

„Mein Vater ist im Aprilkrieg gefallen. Mein Bruder hat sein Haus in Hovtashen verloren. Mein Mann stammt ursprünglich aus Maragha. Dann zogen sie nach Nor Madagha. Nun verliert er sein Zuhause zum zweiten Mal…Nor Maragha gibt es nicht mehr. Aber mein Mann ist Soldat, ich muss zurückkehren. Ich habe kein Haus, aber ich nehme an, dass man uns eine Unterkunft bereitstellen wird. Die Bedingungen sind nicht luxoriös, aber sie bauen in Turnhallen Betten auf. Dort findet man solange Unterschlupf, bis man anderswo untergebracht wird. Ich danke Gott, dass mein Mann am Leben ist, dass meine Brüder verschont wurden und dass meine Kinder bei mir sind. Ich bitte lediglich um Unterstützung, damit wir uns ein kleines Zuhause bauen können,“ sagt Hripsime.

Ungeachtet möglicher Pläne und Überzeugungen, die sich langsam herausbilden, ist es zweifelsohne so, dass der Ausgang des Krieges die Menschen in eine größere psychische Belastung und Unsicherheit getrieben hat als die Schwierigkeiten, mit denen sie es während des Krieges zu tun hatten. Demzufolge ist der Bedarf nach umfassender psychologischer Betreuung in der Nachkriegszeit offenkundig, um den Verlust, die Traumata, die Panik und Ungewissheiten sowie auch die Angst um die Familie und die Zukunft der Kinder zu bewältigen.  

Schlussfolgerung

Während des Krieges wurden die durch die bürokratische Last des Staatsapparats entstandenen Lücken durch schnelle und effektive öffentliche und zivile Mobilmachung gefüllt. Dadurch war der Staatsapparat in der Lage, die Krisenreaktionskräfte in irgendeiner Form zu organisieren oder ihnen ein neues Profil zu geben. In dieser Hinsicht war ein hohes Maß an öffentlicher Solidarität basierend auf gemeinsamen Werten zu beobachten. So konnte man auf die verschiedenen Probleme, die der Krieg mit sich brachte, effektiv reagieren - sogar auf individueller Ebene.

Nach dem Ende des Krieges gibt es nun Bedarf nach klaren staatlichen Entscheidungen und Programmen, um die Kriegsfolgen wirksam abzufedern, die Verluste zu kompensieren und sicherzustellen, dass sich das Leben der Menschen wieder normalisiert. Diese Programme werden größtenteils darüber entscheiden, wie die Familien aus Artsakh mit ihrer ungewissen Zukunft und dem Verlust umgehen, wie nachhaltig sie ihre psychische Gesundheit wiederherstellen und ob sie es schaffen, sich ein neues Leben aufzubauen.


Verantwortlich für den Inhalt ist die Autorin. Die Entscheidung, den armenischen Begriff „Artsakh“ anstelle der international anerkannten Bezeichnung „Bergkarabach“ zu nutzen, ist eine Entscheidung der Autorin. Die HBS respektiert die Rechte der Autorin an dem vorliegenden Beitrag, was jedoch nicht bedeutet, dass die Stiftung mit dem gesamten Inhalt und allen Formulierungen des Textes einverstanden ist.