Al-Nif: Eine algerische Kurzgeschichte über Gejammer und Würde

Algerien

Am 16.2.2019, sechs Tage nachdem Bouteflika seine fünfte Präsidentschaftskandidatur angekündigt hatte, brachen in Algerien Proteste aus: die Revolution des Lächelns. Die Protagonist/innen von Salah Badis' Kurzgeschichte treffen sich vor einem dysfunktionalen Geldautomaten im reichsten Viertel Algiers, wo sich ein Gespräch zwischen Fremden entspinnt.

Ilustation: Mehrere Nasen in Grau vor einem hellen Hintergrund mit blauen Punkten

Ich stehe in der Schlange vor einem Geldautomaten der Algerischen Post in Hydra, einem der teuersten Viertel der Hauptstadt. Gemeinsam mit den älteren Mitbürger/innen, die ebenfalls anstehen, starre ich auf einen Mann, dessen Karte gerade von der Maschine verschluckt wurde. „Gibt es ein Problem?“, fragt ihn jemand. „Ist der Automat vielleicht leer?“ Anstelle einer Antwort deutet der Mann auf seinen Vorgänger in der Schlange, dem das Gleiche passiert war. Dabei waren ihre Bankkarten noch gültig und die Geheimzahl hatten sie auch korrekt eingegeben.

„Na wunderbar! Der Automat ist tombé en panne“, ereifert sich einer der Wartenden. „Wir wundern uns so oft, dass wir uns sogar über unser Wundern wundern!“

Die Leute um mich herum beginnen zu tuscheln. Ich warte hier mit einem Freund, er will auch Geld abheben. Nach dem, was den beiden Männern vor uns passiert ist, wollen wir unser Glück nicht herausfordern. Wir bieten der Frau hinter uns an, sie vorzulassen. Sie scheint es eilig zu haben und wagt den Versuch. Die beiden Männer gehen derweil in die Postfiliale, um sich ihre Karten aus dem Eisenbauch der Maschine zurückzuholen.

Bei der Frau funktioniert der Geldautomat, so dass ich Mut fasse und meine Karte unter den skeptischen Blicken der Wartenden in die Maschine stecke. Mein Begleiter tut es mir nach, und kurze Zeit später laufen wir mit gefüllten Geldbörsen an der Schlange entlang zurück. Der Mann, der sich eben über den defekten Automaten geärgert hatte, scheint sich warm geredet zu haben:

„Wir wundern uns hier über gar nichts mehr. Vraiment, on le fait plus. Eigentlich sollte man doch einfach zum Automaten gehen und Geld abheben können. Ohne Angst zu haben, dass das Ding nicht funktioniert. Wie kann man von uns Algeriern erwarten, dass wir diesen Plastikkarten vertrauen? Vielleicht ist Algerien das einzige Land der Welt, wo dieses System nicht vernünftig funktioniert. Es heißt, wir würden das Geld gerne mit den Fingern berühren, mais c'est pas ça. Die Institutionen sind nicht vertrauenswürdig. C'est ça le problème. Warum sollten wir unser Geld zu einer Bank tragen, im Tausch gegen ein Stück Plastik, das ein kaputter Automat dann noch verschluckt?“

Der Mann nimmt mich wahr als ich neben ihm stehen bleibe. Auch wenn er weiter zu allen spricht, schaut er mich dabei an. Er ist hochgewachsen und elegant gekleidet. Seine Stimme klingt sanft während er fließend zwischen Arabisch und Französisch hin und her wechselt. Er tut das mit einer Leichtigkeit, die zweisprachigen Algerier/innen zu eigen ist, und dabei wird er von seinen eigenen Worten mitgerissen, dass man gar nicht anders kann, als sich ebenfalls mitreißen zu lassen. Wenn seine Stimme ein wenig zittert, möchte man ihn am liebsten umarmen und trösten. Aber er trägt einen Mundschutz und ich auch. Und niemand möchte den Eindruck erwecken, die Abstandsregeln auf die leichte Schulter zu nehmen. Wäre sein Haar nicht bis auf ein paar graue Strähnen ganz weiß, könnte man ihn für einen Doppelgänger von Amin Zaoui halten, dessen schwarze Haare sich noch immer wacker halten.

Bei Amin Zaoui, liebe/r Leser/in, handelt es sich um einen weinerlichen Schriftsteller aus Algerien, welcher hauptberuflich der Vergangenheit nachtrauert. Seit den Achtzigern schreibt Zaoui, mittlerweile dürfte er über sechzig sein. Zuerst verfasste er seine Werke auf Arabisch, um dann während des algerischen Bürgerkriegs, als er nach Frankreich ins Exil ging, auf Französisch weiterzuschreiben. Später kam er zurück nach Algerien und bis heute ist sein Schaffensdrang ungebrochen. Er schreibt wöchentliche Kolumnen, postet auf seiner Facebook-Seite Kommentare, die er stets mit einem Foto von sich illustriert, und bereichert kulturelle Ereignisse durch seine bloße Anwesenheit. Zudem veröffentlicht er seit mehr als zehn Jahren jährlich zwei Romane, einen auf Französisch und einen auf Arabisch.

Ich war noch ein Kind, als ich das erste Mal von Amin Zaoui hörte, es war in einer Kultursendung morgens im Radio. Seit dieser Zeit jammert er über den Niedergang der urbanen Kultur und die Rückkehr des Beduinentums. Er zitiert dabei sehr gerne Ibn Khaldun, den Übervater der arabischen Geschichtswissenschaft aus dem 14. Jahrhundert, und macht lange, komplizierte Sätze auf Französisch. Er ist in die Irre gegangen, gemeinsam mit seinen von Inzest besessenen Romanfiguren, deren jüdisch-muslimische Familiengeschichte stets bis ins islamische Spanien zurückreicht, wovon alte Manuskripte in irgendwelchen Schreinen im Westen des Landes ein Zeugnis ablegen. Amin Zaoui geht es wie dem Mann, der auszog, um im Wüstensand nach bunten Kieseln zu suchen, und am Ende die Taschen voller Steine hatte: Weder kennt er den Weg nach Hause noch weiß er, was er mit seinen Fundstücken anfangen soll.

Das Handy meines Begleiters klingelt. Er geht einen Schritt zur Seite, um den Anruf anzunehmen, und lässt mich mit dem Doppelgänger von Amin Zaoui allein. „Sie könnten mein Sohn sein“, wendet er sich an mich. „Wir Älteren haben in diesem Land ja schon so einiges erlebt ...“ Er hält inne und tritt etwas näher an mich heran, aber nicht so nah, wie man es vor Corona getan hätte. Dann fährt er mit gesenkter Stimme fort: "Vor kurzem ist Khaled Nezzar[1] zurück gekommen und es würde mich nicht wundern, pas du tout, wenn sie ihn ein zweites Mal zum Helden erklären würden. Alle Anschuldigungen gegen ihn haben sie ja schon fallen gelassen."

Auch wenn der Mann wieder einen Schritt zurücktritt, redet er mit gesenkter Stimme weiter. Es ist nun ein Gespräch zwischen mir und ihm, und es geht nicht mehr um den Geldautomaten mit dem unbeständigen Gemüt.

„Ich wohne hier, in Hydra, wo die hohen Beamten und Millionäre wohnen. Ich kenne sie alle. Nicht nur aus dem Fernsehen, ich kenne sie aus dem täglichen Leben.“

Mein Freund beendet das Telefongespräch und tritt wieder zu uns, wovon sich der Mann nicht unterbrechen lässt:
„Wenn ich mir heute anschaue, was aus unseren Land geworden ist, kann ich nicht anders als laut seufzen. Was haben die entwickelten Länder, was wir nicht haben? Ich habe mein Leben hier verschwendet. Wenn ich mich zurückerinnere, an das Jahr 1994, das war vor ... äh ...“

„Vor 26 Jahren“, werfe ich ein.

„Exactement. Vielleicht waren Sie da noch ein Kind und haben keine Erinnerungen an dieses Jahr.“

„Ich erinnere mich an gar nichts – in dem Jahr bin ich geboren.“

„Na so was! Dann sind Sie sogar jünger als meine Kinder. Wobei das Alter natürlich nichts zu bedeuten hat.“

„Natürlich nicht.“

„In diesem Jahr habe ich vielleicht die Chance meines Lebens verpasst.“

Er schweigt kurz und fährt dann fort:

„Sie haben mir eine Stelle in Frankreich angeboten, à Poitiers. Kennen Sie Poitiers?“

Ich deute auf meinen Begleiter und sage:

„Er hat in Frankreich gelebt, ist aber zurückgekommen. Über Poitiers weiß ich nur, dass dort die Schlacht von Poitiers geschlagen wurde. Weiter nördlich sind die muslimischen Soldaten nicht gekommen ...“

Hier übernimmt mein Freund:

„In letzter Zeit eskaliert die Polizeigewalt in der Stadt. Aber nicht nur in Poitiers, überall in Frankreich. Im Parlament wird gerade ein Gesetz diskutiert, das Videoaufnahmen von Polizisten unter Strafe stellt.“

Dieser kurze Exkurs zur französischen Polizei scheint nicht zur Geschichte zu passen, die der Mann erzählen will, weswegen er meinem Begleiter das Wort abschneidet:

„Wie auch immer. In Poitiers haben sie mir eine Stelle mit Dienstwohnung und Dienstwagen angeboten, und meine Kinder waren noch klein genug, um sich dort einzugewöhnen. Wissen Sie, was ich denen gesagt habe?“

„Sie haben 'Nein' gesagt und sind hierher zurückgekommen“ antwortete ich.

„Genau, j'ai dit non et je suis retourné. Trotz des blutigen Bürgerkriegs zu der Zeit. Auf keinen Fall werde ich in Frankreich leben, habe ich denen gesagt. Al-Nif erlaubt es mir nicht.“

Während er den letzten Satz ausspricht, zeigt er auf seine unter der Maske versteckte Nase.

„Aber heute bereue ich das. Wie konnte ich dieses Leben aufgeben und zurückkommen? Ich bereue …“

Ich unterbreche ihn:

„Was genau bereuen Sie? Al-Nif?“

Die Frage bringt ihn aus dem Konzept. Er verneint:

„Non c'est pas ça. Ich meine, ich bedauere meine Naivität und meinen Patriotismus, der …“

„Nein, Sie haben nicht Patriotismus gesagt.“ unterbreche ich ihn. „Sie haben al-Nif gesagt. Und das ist ein Unterschied.“

Der Mann lächelt, was ich trotz der Maske an seinen Augen erkennen kann. Ich fahre fort:

„Al-Nif ist eine Sache, und Patriotismus eine andere. Ich glaube nicht an Patriotismus und Sie haben auch nicht davon gesprochen. Sie haben gesagt, Sie würden al-Nif bereuen.“

In die Defensive gedrängt antwortet er:

„Ich war jung und wusste vielleicht nicht, was ich da tat.“

„Aber warum hat al-Nif Sie daran gehindert, dort zu leben? Hat Frankreich Ihnen oder Ihrer Familie etwas angetan, wofür Sie sich rächen möchten? Oder geht es nur allgemein darum, dass sie uns kolonisiert haben?“

„Ich meine ... oui, dass sie uns kolonisiert haben.“

„Und hat sich an der Geschichte der französischen Kolonisierung in letzter Zeit etwas geändert, dass Sie Ihre Entscheidung nun bereuen? Ich habe kein Problem damit, wenn Algerier in Frankreich leben. Aber ich kann auch verstehen, wenn Sie sich dagegen entscheiden. Solange Sie Ihre Entscheidung logisch begründen. Das Argument, sie hätten uns kolonisiert, finde ich unlogisch. Und Sie scheinen selbst nicht so recht daran zu glauben."

Liebe/r Leser/in, hier möchte ich eine kurze Pause einlegen, um die Bedeutung von al-Nif im algerischen Dialekt zu erläutern. Alle kennen das Wort, so dass niemand eine Erklärung für nötig hält, und wenn es einmal erklärt wird, bleibt die Bedeutung doch schwammig.

Natürlich ist mit al-Nif die Nase gemeint. Man sagt „jemand hat al-Nif“ und meint damit „jemand ist stolz“. Wenn man in einem arabischen Wörterbuch den Eintrag für Nase, al-Anf, aufschlägt, so findet man dort das abgeleitete Wort al-Unfa, welches Stolz bedeutet. Man sagt "Menschen mit stolzen Nasen" und meint damit "eigenwillige Leute". Vielleicht haben sich diese Wendungen so entwickelt, weil die Nase das herausragendste Körperteil des Menschen ist. Steigt der Wasserspiegel über Nasenhöhe, ertrinkt der Mensch. Und wenn er auf den Boden fällt, versucht er sein Gesicht, insbesondere seine Nase, zu schützen. Deswegen sagt man "jemanden mit der Nase in den Staub drücken" für „jemanden erniedrigen“.

Darum habe ich meinen Gesprächspartner mit der Frage, ob er al-Nif bedauere, so aus dem Konzept gebracht. Natürlich will er nicht die Rückgratlosigkeit zur Tugend erheben. Aber anstatt einfach zuzugeben, dass ihm da etwas Unbedachtes herausgerutscht ist, verbiegt er seine Aussage und behauptet, es ginge ihm nicht um al-Nif sondern um seinen naiven Patriotismus.

„Damals bin ich viel gereist“, versucht der Mann dem Gespräch eine andere Richtung zu geben. „Ich ging davon aus, dass die Dinge sich zum Besseren verändern.“

Mein Begleiter fragt ihn: „Was haben Sie denn damals gemacht? Viel reisen und da wohnen, wo die hohen Beamten und Generäle wohnen ... Haben Sie etwa für die Regierung gearbeitet?“

Nach kurzem Zögern antwortet er: „Ja, könnte man so sagen. Aber ich war kein Beamter, ich war Ingenieur.“

„Vielleicht haben Sie darum die Hoffnung verloren“, vermutet mein Begleiter. „Es ist schwer, von all dieser negativen Energie umgeben zu sein, ohne daran zugrunde zu gehen.“

Der Mann blickt ihn erstaunt an während mein Begleiter seinen Gedanken weiterführt:

„Wie heißt es noch in diesem bekannten Gedicht?

Dem Sultan sollst Du kein Diener sein
und seine Nähe solltest Du meiden
vertraue auf Gott und was er dir gibt,
so wirst Du nie Mangel leiden.“

Dann herrscht Schweigen. Der Mann setz mehrere Male an, etwas zu sagen, gibt dann aber auf und entschuldigt sich für sein Geschwätz. Wir widersprechen ihm natürlich, danken ihm für das bereichernde Gespräch und wünschen ihm noch einen schönen Tag. Er ist ein guter Mensch, auch wenn er sein Klagelied ziemlich ausdauernd singt.

Auf den Nachhauseweg unterhalte ich mich mit meinem Freund über den Mann, sein Gejammer, und sein Bedauern, sich nicht in Frankreich niedergelassen zu haben. Er sagt mir, er habe ihm vor Augen führen wollen, dass wir, die junge Generation, unter viel prekäreren Umständen leben als er. Wir müssen mehr finanzielle und psychologische Unsicherheit aushalten und setzen trotzdem Hoffnung in unser Land. Schließlich habe er, mein Freund, Frankreich verlassen, weil er den Herzschlag des Lebens dort nicht spüren konnte.

Noch zu Hause beschäftige mich die Frage, wie sich die hocharabischen Wörter al-Anf (Nase) und al-Unfa (Stolz) zum algerischen al-Nif verhalten. Ich schlage online im al-Ma'ani unter der entsprechenden Wurzel nach und hangele mich von Ableitung zu Ableitung, bis ich beim Verb anifa ankomme. Dann stellt sich dieses Erstaunen ein, dass alle kennen, die sich schon einmal in einem Wörterbuch verloren haben. Das Verb bedeutet: Über etwas jammern.
 


Autor: Salah Badis ist ein algerischer Autor und Übersetzer. Er arbeitet als journalistischer Redakteur, schreibt Gedichte und Kurzgeschichten. Zuletzt ist von ihm erschienen „Hadhihi al-Ashiaa tahduth“ (Erzählungen; dt. „So etwas passiert eben“, al-Mutawassit Publishing, 2019).

Übersetzung aus dem Arabischen: Mirko Vogel, Jahrgang 1983, studierte Mathematik, Arabistik und Konferenzdolmetschen in Aleppo, Beirut, Berlin und Leipzig. Er arbeitet als freiberuflicher Übersetzer und Dolmetscher und lebt mit drei Kindern in Frankfurt. Außerdem ist er ist Mitbegründer von Mahara, einem Dolmetsch- und Übersetzungskollektiv.

Kuration: Sandra Hetzl (*1980 in München) übersetzt literarische Texte aus dem Arabischen, u.a. von Rasha Abbas, Mohammad Al Attar, Kadhem Khanjar, Bushra al-Maktari, Aref Hamza, Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Raif Badawi, und manchmal schreibt sie auch. Sie hat einen Master in Visual Culture Studies von der Universität der Künste in Berlin, ist Gründerin des Literaturkollektivs 10/11 für zeitgenössische arabische Literatur und des Mini-Literaturfestivals Downtown Spandau Medina.
 


Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie „Blick zurück nach vorn“ . Anlässlich von zehn Jahren Revolution in Nordafrika und Westasien schildern die Autor/innen dabei aus verschiedensten Kontexten, was sie hoffen, wovon sie träumen, was sie sich fragen und woran sie zweifeln. In ihren literarischen Essays wird deutlich, wie wichtig die persönlichen Auseinandersetzungen sind, um politische Alternativen zu entwickeln, und was jenseits der großen Ziele erreicht wurde.

Mit dem anhaltenden Kampf gegen autoritäre Regime, für Menschenwürde und politische Reformen beschäftigen wir uns darüber hinaus in multimedialen Projekten: In unserer digitalen scroll-story „Aufgeben hat keine Zukunft“ stellen wir drei Aktivist/innen aus Ägypten, Tunesien und Syrien vor, die zeigen, dass die Revolutionen weitergehen.

 

[1] Khaled Nezzar war während des Bürgerkriegs, von 1992 bis 1999, algerischer Verteidigungsminister. Als im Jahr 2019 im ganzen Land gegen eine fünfte Amtszeit von Präsident Bouteflika demonstriert wurde, erließ ein Militärgericht einen internationalen Haftbefehl gegen ihn, woraufhin er außer Landes flüchtete. Ende 2020 wurden alle Anschuldigen gegen ihn fallen gelassen und er konnte zurückkehren.