Hongkong: Zugang zu Abtreibungen hängt vom Status ab

Interview

In Hongkong hängt der Zugang zu sicherer medizinischer Versorgung von der sozialen Schicht und der ethnischen Zugehörigkeit ab. Interview mit Ruby Lai.

Online Information zu Schwangerschaftsabrüchen in Hong Kong

Dr. Ruby Lai ist wissenschaftliche Assistenzprofessorin in der Abteilung für Soziologie und Sozialpolitik an der Lingnan Universität in Hongkong. Ihre Forschungsinteressen umfassen Genderstudien, Familien- und Reproduktionspolitik und Ethnizität in Hongkong und China. Ihre jüngsten Arbeiten befassen sich mit dem Leben von Neueinwander*innen, Migrantinnen, die Mütter sind, ethnischen Minderheiten und Familien, die in Subdivided Flats[1] in Hongkong leben.

Dr. Ruby Lai, Lingnan Universität Hongkong
Dr. Ruby Lai, Lingnan Universität Hongkong

Die aktuelle Situation in Ostasien stellt ein differenziertes Spektrum an Rechtsansprüchen und -praktiken dar. In Japan, Taiwan und Südkorea müssen Frauen immer noch die Erlaubnis des Ehepartners einholen, bevor sie eine Abtreibung legal vornehmen lassen können. In Hongkong erlauben die Gesetze Frauen im Alter von 16-18 Jahren sexuelle Aktivitäten, aber sie benötigen die Zustimmung der Eltern für einen Schwangerschaftsabbruch. Der Zugang zu sicherer medizinischer Versorgung hängt von der sozialen Schicht und der ethnischen Zugehörigkeit ab. Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch benötigen, entscheiden sich manchmal lieber für eine Operation jenseits der Landesgrenze, was die Versorgung und Genesung nach dem Schwangerschaftsabbruch noch unsicherer macht. Dr. Ruby Lai, die das Thema ausgiebig erforscht hat, sprach mit uns über ihre Sichtweise der Situation in Hongkong im Vergleich zu Ostasien und ihre politischen Empfehlungen.

Lucia Siu: Wie reagieren die Gemeinschaften in Hongkong / den Nachbarregionen auf Frauen, die eine Abtreibung wünschen? 

Dr. Ruby Lai: Abtreibung in Hongkong ist ein Tabu. Unter dem starken Einfluss des Christentums und Buddhismus wird Abtreibung mit Töten gleichgesetzt, was eine sündige und unmoralische Tat ist. Die konservative Genderordnung legt immer noch einen hohen Wert auf das Sexualverhalten der Frau. Frauen, die abgetrieben haben, werden oft als unverantwortlich und moralisch unangemessen stigmatisiert oder sogar abfällig als "kaputte Schuhe" bezeichnet, die durch die Abtreibung beschädigt wurden. Angesichts des schweren Stigmas, das mit der Abtreibung verbunden ist, ist es üblich, dass Frauen mit Verurteilung und verurteilenden Haltungen konfrontiert werden, wenn sie Abtreibungsdienste aufsuchen. Die meisten Frauen, die eine Abtreibung hinter sich haben, verheimlichen ihre Erfahrungen, um Schuldzuweisungen aus ihrem sozialen Umfeld und der Gesellschaft zu vermeiden.

Wie lauten die aktuellen Gesetze zu reproduktiven Rechten in Hongkong? 

Der Schwangerschaftsabbruch wurde in Hongkong 1976 legalisiert. Gemäß Abschnitt 47A der Offences Against the Person Ordinance (Cap. 212) kann eine Frau, wenn die Schwangerschaft die körperliche oder geistige Gesundheit der Schwangeren bedroht, wie z.B. bei Vergewaltigung und Inzest, oder wenn sie zu einer Beeinträchtigung des Fötus führen kann, mit der Zustimmung von zwei registrierten Ärzt*innen in einem dafür vorgesehenen Krankenhaus oder einer Klinik einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Der Eingriff kann jedoch nicht nach der 24. Schwangerschaftswoche durchgeführt werden, es sei denn, es handelt sich um einen notwendigen Eingriff, um das Leben der Schwangeren zu retten. Für Frauen unter 18 Jahren ist die Zustimmung der Eltern erforderlich.

Das Abtreibungsgesetz in Hongkong ist im Vergleich zu einigen ostasiatischen Ländern relativ flexibel. Zum Beispiel ist die Zustimmung des Ehepartners in Hongkong nicht erforderlich, während sie in Japan, Taiwan und Südkorea obligatorisch ist. Unter den ostasiatischen Ländern haben China und Singapur die großzügigste Abtreibungspolitik, die einen Schwangerschaftsabbruch auf Antrag basierend auf verschiedenen Fristen erlaubt. In Singapur liegt die Grenze bei 24 Wochen.

Welche Faktoren beeinflussen den Zugang zur medizinischen Versorgung? 

Der erste Faktor ist der institutionelle Kontext, der sich auf den unterschiedlichen Zugang zu Abtreibungsdiensten bezieht. In Hongkong gibt es derzeit 19 öffentliche und private Krankenhäuser und Kliniken, die legale Schwangerschaftsabbrüche anbieten. Die Kliniken, die von dem Verband für Familienplanung (FPA) betrieben werden, bieten zwar Abtreibungsdienste an, aber nur für Schwangerschaften bis zu 10 Wochen. Abgesehen von den Kliniken der FPAHK bieten auch öffentliche Krankenhäuser Abtreibungen an, aber der Zugang ist extrem eingeschränkt und häufig mit einer Wartezeit von einigen Monaten verbunden. Im Gegensatz dazu bieten private Krankenhäuser zeitnahe Abtreibungen an, die aber für jüngere Frauen oder solche mit begrenzten finanziellen Mitteln unerschwinglich sind.

Außerdem ist der Zugang zu qualitativ hochwertiger Abtreibungsversorgung oft entlang der Trennung von Klasse, ethnischer Zugehörigkeit und Alter bestimmt. Die soziale Stellung einer Person hat einen großen Einfluss auf ihren Zugang zu einer sicheren und rechtzeitigen Abtreibung. Wer finanziell in der Lage ist, kann sich zum Beispiel private Abtreibungsdienste leisten und lange Wartezeiten vermeiden, während andere Frauen bei öffentlichen Abtreibungsdiensten unter Umständen zwei bis drei Monate warten müssen. Sobald die Schwangerschaft die 14. Woche überschreitet, müssen Ärzte Wehen einleiten, um eine Schwangerschaft zu beenden, was die physische und psychische Belastung der Frauen erhöhen kann. Gegenwärtig kosten Abtreibungsdienste in privaten Krankenhäusern etwa HK$20.000-30.000 (USD 2.580K-3.870), was deutlich höher ist als in öffentlichen Krankenhäusern und FPA-Kliniken, die jeweils nur ein paar hundert Dollar (USD 100-500) kosten. Einige Frauen reisen auf das chinesische Festland, um eine billige und rechtzeitige Abtreibung zu bekommen. Das kann riskant sein, weil sie mit dem Gesundheitssystem auf dem Festland nicht vertraut sind.

Einige Teenager oder junge Menschen Anfang 20 sehen sich oft mit dem Urteil des Gesundheitspersonals konfrontiert, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen. Dieses Stigma erhöht oft den psychischen Druck auf die jungen Frauen.

Darüber hinaus können ethnische Minderheiten in Hongkong aufgrund von Sprachbarrieren, unzureichenden Informationen und mangelnder kultureller Sensibilität des Gesundheitspersonals auf mehr Hindernisse stoßen, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen wollen.

Wie beeinflusst die Covid-Situation in 2020-21 die oben genannten Szenarien?

Sie Zahl der Abtreibungen während der Covid-19-Pandemie hat zugenommen, weil viele Menschen ihre Arbeit verloren haben und sich Sorgen über zukünftige Ungewissheiten machen. Leider hat Covid-19 den Zugang zu erschwinglichen und rechtzeitigen Schwangerschaftsabbrüchen erheblich erschwert. Während der Pandemie hatte die Krankenhausbehörde die Dienste für nicht-Notfälle in den öffentlichen Krankenhäusern angepasst, um die Epidemie zu bekämpfen, und deshalb wurden die Abtreibungsdienste eingestellt. Schwangere Frauen waren gezwungen, Abtreibungen in privaten Krankenhäusern vorzunehmen, was ihre finanzielle Belastung deutlich erhöhte. Aufgrund der Quarantänebestimmungen und anderer Gesundheitsbestimmungen können Frauen auf dem chinesischen Festland keine Abtreibung mehr vornehmen lassen. Einige Frauen müssen auf Hinterhofdienste zurückgreifen oder eigenhändig einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen. 

Was ist Ihre Meinung zu den aktuellen Gesetzen und dem Zugang zu Dienstleistungen? Wie werden sie von der Zivilgesellschaft wahrgenommen?

Obwohl Schwangerschaftsabbrüche in Hongkong legal sind, ist der Zugang zu patientenorientierten Abtreibungsdiensten immer noch eingeschränkt. Die Regierung hat immer betont, dass Abtreibungsdienste in öffentlichen Krankenhäusern weithin verfügbar sind, aber einige Frauenrechtsgruppen haben dargelegt, dass in der Praxis nur zwei oder drei öffentliche Krankenhäuser tatsächlich Abtreibungsdienste anbieten. Diese NGOs haben die Regierung gebeten, die Wartezeiten für einen Schwangerschaftsabbruch zu verkürzen und mehr Unterstützung zu leisten, um den effektiven Zugang zu einem rechtzeitigen und bezahlbaren Schwangerschaftsabbruch zu erleichtern.

Welche Reform würden Sie empfehlen, um das oben Genannte inklusiver / progressiver zu machen?

Die Regierung sollte die Abtreibungsdienste während der Epidemie aufrechterhalten, da die Abtreibung zeitnah durchgeführt werden sollte. Der Zugang zu Abtreibungen in öffentlichen Krankenhäusern sollte erweitert werden, um die Wartezeit zu verkürzen. Die Gesundheitsbehörden sollten mehr Informationen über die verschiedenen Arten von Abtreibungsdiensten zur Verfügung stellen und diese in verschiedene Sprachen übersetzen, um den Bedürfnissen von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und ethnischen Hintergründen gerecht zu werden.

Deutsche Übersetzung von Caroline Bertram.

 

[1] Subdivided Flats sind eine typische Art von kleinen Mietwohnungen in Hongkong. Es handelt sich um Wohnungen, die in zwei oder mehr separate Einheiten unterteilt sind, um mehr Personen pro Quadratmeter unterzubringen. Vor allem untere Einkommensschichten wohnen in Subdivided Flats.