Das „Progressive“ in den aktuellen politischen Diskursen

Analyse

Wie übersetzen sich die ideengeschichtlichen Linien des „Progressiven“ und des „Konservativen“ auf die zentralen gesellschaftlichen Debatten am Ende der Merkel-Jahre?

schwarz/weiß Bild: Treppe eines Gebäudes, Richtung Himmel

Die Sinnkrise des „Konservativen“ hat jüngst einige Aufmerksamkeit erregt. Aber geht es seinem Gegenpart, dem „Fortschritt“, besser? Manche sprechen derzeit von einer möglichen oder auch wünschenswerten „progressiven Regierung“. Gibt es noch klare, kohärente Fortschrittsvorstellungen, die dem Sinn verleihen könnten? Wie so viele der aus dem 19. und 20. Jahrhundert überlieferten Ordnungsbegriffe des Politischen hat auch das Begriffspaar konservativ/progressiv irgendwie überlebt, zuletzt auch die Phase des „post-ideologischen“ Abgesangs, in der es vom Siegeszug des „Pragmatischen“ auf den Müllhaufen der Vergangenheit geschleudert schien. Doch oft erscheint es heute inhaltsleer, unpräzise, eher folkloristisch. Beide Begriffe gewinnen ihren Sinn nur in Bezug aufeinander und auf bestimmte Vorstellungen der Entwicklung von Welt, Wirtschaft, Gesellschaft oder Menschheit. Der „Pragmatismus“ nimmt den Wandel hin, ruft ihm höchstens noch den schüchternen Ruf nach „Gestaltung“ nach. Konservative und Progressive nehmen entschiedener Partei, sie wollen ihn treiben, verhindern oder rückgängig machen.

Vorwärts immer

Der Fortschritt des späten 18. und des 19. Jahrhunderts – als Kind der Aufklärung und des „Zeitalters der Vernunft“ – strebte nach Befreiung von Herrschaft und Unterdrückung, wollte den Sturz der Throne, die Ermächtigung der Menschen durch Wissenschaft und Technik, Erziehung und Bildung, die Emanzipation rechtloser oder stark benachteiligter Gruppen mit dem Ziel einer erst rechtlichen, dann ökonomischen Gleichheit. Diese Zielvorstellung gab den Kämpfen eine Richtung und der Entwicklung einen „Vorwärts“-Pfeil. Wenn realer historischer Fortschritt zur „Erledigung“ des ein oder anderen Anliegens führt, fragt sich irgendwann: Wie gehen progressive Geschichtsnarrative mit Verbesserungen um? Verlautbarungen eines „Endes der Geschichte“ haben selten überzeugt. Das Selbstverständnis der emanzipatorisch-progressiven Generalerzählung sagt: Es bleibt immer noch viel zu tun!

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde der Fortschrittsbegriff enger technisch-wissenschaftlich verstanden, mitsamt der angekoppelten „Fortschrittsskepsis“ gegenüber bestimmten Technologien und ihren echten oder befürchteten negativen Folgen. Noch bis heute wirkt gleichzeitig ein politisch relativ neutraler Fortschrittsbegriff der Indikatoren, vom Bruttosozialprodukt über Lebenserwartung, medizinischem Fortschritt, Kindersterblichkeit oder Bildungsniveaus bis hin zu Quality-of-Life-Indizes. Politische Auseinandersetzungen drehen sich oft um den richtigen Weg zur Verbesserung dieser selbst relativ unumstrittenen Kriterien.

Gleichursprünglich mit der progressiven modernen Geschichtsvorstellung kam der Konservatismus zur Welt. Geboren als Re-Aktion auf die Französische Revolution trug er nach- und nebeneinander die Banner der Monarchie, der (dominierenden) Religion, der „Ordnung“, des „Eigentums“, der „Familie“, später auch der – zunächst fortschrittlich gestarteten – „Nation“. Sie wurden jeweils gegen Revolution, Demokratie, Gleichheit oder Veränderungen der Eigentumsverhältnisse in Stellung gebracht. Die Macht des Faktischen durch sukzessive historische Niederlagen hat den Konservatismus Schritt für Schritt zu einer Art Haltung verdünnt, ohne spezifische Inhalte, eher auf das Behutsame, Langsame, Vorsichtige des Wandels pochend ohne sich noch grundsätzlich gegen ihn zu wenden. Enttäuschung über diese Schrumpfform führte dann immer wieder zu Wellen eines wirklich re-aktionären Konservatismus, der eine Restituierung, ein Zurück zu einem – oftmals nur imaginierten, je nach Spielart Jahrzehnte oder Jahrhunderte zurückliegenden – historischen Zustand anstrebt, über „Wenden“ oder gar „konservative Revolutionen“.

Spuren dieser Geschichte finden sich auch heute noch in der Verwendung dieser Begriffe, doch wie lebendig progressive und konservative Motive wirklich sind, muss an den derzeit breitenwirksamen, relevanten Diskursen – und den in ihnen wirksamen Vorstellungen des Wandels – abgelesen werden.[1]

Aktuelle Fortschritts- und Bewahrungsdiskurse

So gibt etwa der Schutz der Lebensgrundlagen des Menschen ein „historisch materielles“ Ziel vor. Fortschritt besteht im Umbau, in der ökologischen Transformation von Gesellschaft, Wirtschaft, Technik, Produktion, Konsum und Lebensweise hin zu einem neuen nachhaltigen Zielzustand, der die planetaren Belastungsgrenzen fortan beachtet. Die Arbeit an diesen Veränderungen definiert das progressive Projekt. Politisch umstritten sind oft eher Widersprüche, Nuancen, unterschiedliche Wege innerhalb dieses Projektes. Die konservative Reaktion darauf bestreitet seine Notwendigkeit, spielt die Gefahren herunter und verteidigt eingespielte und tief verankerte Wirtschafts-, Produktions-, Lebens- und Konsumweisen. "Konserviert" und verteidigt wird dabei nicht irgendetwas Uralt-Hergebrachtes, sondern ein im vergangenen Jahrhundert entstandenes sozio-technisches Regime.

Gelegentlich wird behauptet, der ökologische Diskurs selbst sei konservativ. Das aber trifft nur auf eine sehr marginale Position zu, die eine radikale Rückwendung zu prä-industrieller Lebensweise fordert. Im tonangebenden Narrativ wird nicht die Rückkehr zu einem Status Quo Ante angestrebt, sondern ein durch gesellschaftlichen und technologischen Fortschritt neu herzustellendes Gleichgewicht. Auch das christliche Motiv von der „Bewahrung der Schöpfung“ kann den konservativen Charakter nicht belegen, da die von Mensch und Zivilisation unberührte „Schöpfung“ eines Gottes im Anthropozän unwiederbringlich verloren ist. Das Motiv drückt im religiösen Idiom eine Art Kritik menschlicher Anmaßung und den Ruf nach Respekt vor der natürlichen (göttlichen) Welt aus, die dann zur Triebfeder einer fortschrittlichen ökologischen Einstellung werden kann.

Derzeit sehr präsent und umkämpft ist der „identitätspolitische“ Kampf um Anerkennung und Respekt für verschiedene Lebensformen, Kulturen oder Gruppen-Identitäten, gegen Diskriminierung und Repression. Ziel des Fortschritts ist hier ein angestrebter Zustand gleichberechtigten, „diversen“ und diskriminierungsfreien Zusammenlebens unterschiedlicher Lebensformen, in dem man „ohne Angst verschieden sein“ kann. Konservative Gegenwehr gegen diese progressive Agenda verteidigt kulturelle Homogenität und versucht entweder offen einen Zustand der Über- bzw. Unterordnung oder Ausgrenzung der um Anerkennung kämpfenden Gruppen zu verteidigen, entweder durch Herabwürdigung oder durch essentialistische Zuschreibung einer bestimmten - eben nicht „gleichen“ - Rolle im gesellschaftlichen Ganzen. Eine milder konservative Variante unterstützt Gleichberechtigung, lastet faktische Ungleichheit aber nicht der Diskriminierung, sondern dem Verhalten der betroffenen Gruppen selbst an.

Im Zeitverlauf schrittweise erfolgreicher Kämpfe um Anerkennung taucht die Frage auf, wie weit man denn gekommen ist. Darüber können dann auch innerhalb des progressiven Lagers Kontroversen ausbrechen, manch alte Streiter auf die konservative Seite wechseln. Auch das berühmte „Tocqueville-Paradox“ gehört in diesen Kontext, nach dem bei abnehmenden Privilegien der Ärger über die verbleibenden ansteigt. Darüber hinaus können Konflikte zwischen den emanzipatorischen Ansprüchen verschiedener Gruppen auftauchen, die in Frage stellen, ob man wirklich an einem gemeinsamen progressiven Projekt arbeitet. Diese Fragen plagen gerade die gesellschaftliche Linke.

Sehr oft wird in den vergangenen Jahren eine „Spaltung der Gesellschaft“ beklagt, eine neue „Polarisierung“ der Bevölkerung in feindliche Gruppen und Lager. Demgegenüber steht der Appell an den „Zusammenhalt der Gesellschaft“, an meinungs- und gruppenübergreifende Gemeinschaft, an Einhegung des Streites. Implizit enthalten ist die Vorstellung eines verlorenen oder gefährdeten Zustandes, der vor den heute neu aufgerissenen Gräben geherrscht haben soll. Hier wird also eher konservativ, bewahrend, warnend gesprochen, möglicherweise auch in Verkennung der vergangenen Jahrzehnte und der Grundverfassung pluralistischer Gesellschaften.

Anders steht es, wenn von der „Spaltung in Arm und Reich“ gesprochen wird, der wachsenden materiellen Ungleichheit der Gesellschaft. Oft wird auch hier ein verlorener Zustand betrauert, etwa die erweiterte Wirtschaftswunderphase, in der so etwas wie eine „nivellierte Mittelschichtsgesellschaft“ bestanden haben soll. Auch diese Rede trägt dann retroaktiv konservative Züge. Eine progressive Note bekäme das nur, wenn es sich an ältere gesellschaftliche Entwicklungserzählungen der Arbeiterbewegung anschlösse, in denen sich die ökonomisch Benachteiligten durch schrittweise politische Reformen immer mehr in Richtung einer allgemeinen Gleichheit bewegen. Die derzeitige Ungleichheit markierte dann eine Art abgebrochene Egalisierungsdynamik.

Immer noch prägend ist das Diskursfeld der Globalisierung. Wer sie als Fortschritt sieht, erkennt Wohlstand durch Handel, Frieden durch verflochtene Interessen, Verständigung durch kulturellen Austausch. Stärker wird heute das eher konservative Motiv des Schutzes, der Rückkehr zur regional geschlossenen, kulturell homogeneren Lebensweise in kleineren Räumen des Austausches. Die früher von Teilen der kapitalismus- und konsumkritischen Linken getragene, heute vom Rechtspopulismus übernommene und verzerrte Verfallserzählung von der alles nivellierenden Gewalt des globalen Marktes, gesteuert durch eine „Elite“ von „Globalisten“ ist die Extremform. Das Motiv kann eigentlich nur retro-aktiv, also konservativ „revolutionär“ sein, ist doch das unberührt Lokale nach fünf Jahrhunderten Globalisierungsgeschichte nicht mehr als eine kitschige Illusion. Auf der Linken wird nicht der Verlust kultureller Homogenitätsgrade beklagt, sondern das Ende demokratischer Selbstbestimmung angesichts der Zwänge globaler Konkurrenz und der Macht des frei flottierenden Kapitals. Progressiv wird die Globalisierungskritik nur über die Hoffnung auf globale Regulierung des Marktes, ein Projekt dem angesichts der enormen Schwierigkeiten, der vielen Veto-Spieler und enormen Geschicklichkeit der Finanzmarktakteure immer die Regression in die national-konservative Rückzugsfantasie droht.

Am wirkmächtigsten aber ist das „pragmatische“ Globalisierungsnarrativ, in dem man sich dem letztlich darwinistischen Behauptungskampf auf den Weltmärkten schlicht zu stellen hat. Davon ist heute noch jede ökonomische Debatte bis hin zur Dekarbonisierung geprägt. Wir befinden uns in einem Wettlauf mit „den Chinesen/den Asiaten“, so das stets dominante Motiv. Hier geht es nicht um irgendein aufgeladenes humanistisches Fortschrittsmotiv, sondern um existentielle Konkurrenz. Vorne ist da, wo die anderen schon – oder „wir“ so gerade „noch“ – sind. Fast jedes politische Projekt versucht sich in dieses Narrativ einzufädeln, um sich von seiner enormen Kraft mitziehen zu lassen. Frauen in Vorständen, Diversität, Klimaschutz, Green Tech… Alles Wettbewerbsvorteile! Dagegen gibt es zwar Einspruch, aber keinen wirkmächtigen. Erhoben wird er im Namen der Abschottung von Märkten, der „Protektion“, der „Entflechtung“. Es gibt ihn in einer chauvinistisch-rechtspopulistischen, einer eher defensiv gewerkschaftlichen und einer regional-ökologischen Variante.

Hartnäckig und effektiv war und ist die Erzählung von der „Entfesselung“ der technologischen und innovativen Kräfte. Kreativität, beschleunigte Verbesserung des Lebens und Vermehrung des Wohlstandes durch den Wettbewerb um Spitzenleistungen auf einem möglichst wenig regulierten Marktplatz sind das beste Rezept für Alle. Dieser Diskurs schließt an den technischen Fortschrittsoptimismus des 20. Jahrhunderts an, in dem die Menschheit mittels stetig verbesserter technischer Hilfsmittel die Herrschaft über Raum, Zeit, Körper und Tod gewinnt. Das techno-progressive Narrativ ist dabei oft mit einem marktliberalen Credo verflochten. Fortschritt wird dann durch einen überregulierenden bürokratischen Apparat, durch Mittelmaß, Bedenken und Risikoscheu be- oder verhindert. Dieses marktliberal-techno-progressive Narrativ huldigt der kreativen Zerstörung des Alten und hat mit Konservatismus nichts zu tun. Denn kapitalistische Entfesselung lässt alles Stehende und Ständische verdampfen wie eh und je. Das hält viele Marktliberale nicht davon ab, sich als „konservativ“ zu etikettieren und dann an der „Spitze des Fortschritts“ zu marschieren.

Es gibt die technokratische Fortschrittserzählung auch in einer interventionistischen Version. Darin werden die wettlaufenden Produktivkräfte durch mehr Regulierung und die progressive Industriepolitik eines aktiven Staates entfesselt. Der Staat und seine Regulierungspalette erleben derzeit einen progressiven Frühling und erobern im Kampf gegen die Klimakrise eine Legitimität zurück, die sie in den letzten Jahrzehnten verloren hatten. An der Rolle des Staates akzentuiert sich die technische Fortschrittserzählung, also eher marktliberal oder eher interventionistisch.

Auch die „Digitalisierung“, derzeit zentrales Spielfeld der techno-progressiven Narrative, gibt es in zwei Versionen. Digitale technologische Neuerungen werden oft unterschiedslos und unreflektiert begrüßt, der Begriff selbst transportiert bereits eine Art imperativer Dringlichkeit. Eine wirkliche gesellschaftliche Steuerung der neuen digitalen Werkzeuge findet dann kaum statt, die ungebremste Entfesselung der Technik geschieht als Naturgewalt, der Wettbewerbsvorsprung anderer Staaten ist ausreichende Zielmarke. Konservative in der Traditionslinie einer Maschinenstürmerei oder wirkmächtige Verweigerungshaltungen etwa von Konsumentenseite gibt es kaum. Das Neue legitimiert sich selbst.

Ein etwas breiter angelegter Fortschrittsbegriff wird spürbar, wenn nach den Zielen und Auswirkungen der neuen Technologien gefragt wird und nach gesellschaftlichen oder ethischen Kriterien für deren „Fortschrittlichkeit“ jenseits der technischen Leistungsfähigkeit. So kam etwa jüngst Nervosität auf angesichts der Veränderungen demokratischer Öffentlichkeit durch digitale Kommunikation. Auch die Frage der Regulierung von Mensch-Maschine-Interaktion und der Einhegung Künstlicher Intelligenz wird Thema. Progressivität muss sich dann messen lassen an einer prinzipiellen Skepsis, was das 4.0-Zeitalter mit dem Menschen und der Gesellschaft anstellen kann oder wird. Die Rezeptsuche nach der richtigen „Ethik“ der Digitalisierung ist ein offener Prozess, der die Fronten teilt und das jeweilige Menschenbild transportiert. Ob der Mensch mehr oder weniger Subjekt bleibt oder zum Objekt „der Maschine“ wird, entscheidet sich nicht nur am Kontrollgrad der Technik, sondern auch an der (bildungspolitischen) „Readiness“ des Menschen.

Motiviert durch Diagnosen der „Politik-“ oder „Parteienverdrossenheit“ und Phänomene der Wahlenthaltung gibt es derzeit auch eine handfeste Demokratiedebatte. Nachdem die Fortschritts-Geschichte gegenüber den autoritären Herrschaftsformen der Vergangenheit Schritt für Schritt mehr demokratische Rechte, mehr Selbst- und Mitbestimmung, mehr demokratische Beteiligung in immer mehr Bereichen des Lebens durchgesetzt hat, wird der aktuelle Zustand weiterhin als unbefriedigend empfunden. Laut ist die Kritik an der Repräsentation, allgegenwärtig der Ruf nach mehr (Bürger-)„Beteiligung“. Progressiv erscheint dann eine stetige Ausdehnung von demokratischer, möglicherweise plebiszitärer Beteiligung, eine Ausdehnung des Grades der kollektiven, deliberativen Selbstbestimmung des Demos. Hier sind die Verteidiger der „bewährten“ Formen repräsentativer Demokratie die Konservativen.

Ein weiteres diskursives Feld bilden die diffusen Debatten zur Zukunft der Arbeit. Einer breiteren Öffentlichkeit gerät das progressive Anliegen der „Humanisierung der Arbeit“ derzeit vor allem durch die neu entstehenden, prekären und schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs, die neue Tagelöhnerei, durch Praktiken in der Landwirtschaft und in Teilbereichen des Gesundheits- und Pflegesektors in den Fokus. Progressive Politik knüpft hierbei an dem an, was sie in anderen Bereichen der Arbeitswelt schon einmal durchgesetzt hat. Die parallel geführte Debatte um die Veränderung der Arbeit durch Prozesse des Strukturwandels in der Industrie wird von den Betroffenen selten als Fortschritt wahrgenommen, eher als Herausforderung oder gar Bedrohung. Die Industriegewerkschaften versuchen neben ihrer bremsenden und warnenden Rolle auch, diese bedrohlichen Aspekte für Wohlstand und Beschäftigung ihrer Mitglieder in betroffenen Branchen in eine optimistischere Vision des Wandels einzubetten. Vorstellungen einer „Just Transition“ oder eines „Fairen Wandels“ lehnen Strukturwandel nicht ab, sondern fordern politische Gestaltung mit den Zielen der Beschäftigungssicherung, des Aufbaus neuer, nachhaltiger Industriearbeitsplätze, der entsprechenden Weiterbildung der Beschäftigten und der Abfederung von biografischen Risiken. Sie nähern sich damit der Haltung eines pragmatischen Konservatismus an. Der Wandel wird im Grundsatz als notwendig anerkannt – mal eher wegen internationaler Konkurrenz, mal wegen echter Besorgnis um Klima und Umwelt – allerdings in stark abgebremster Geschwindigkeit.

Rationalisierung, neue Technologien und ökologische Frage münden schließlich auch in neue Versionen eines alten Fortschrittsnarrativs von der Abschaffung der Arbeit, der Überwindung des „Reiches der Notwendigkeit“ durch das „Reich der Freiheit“. Schritt für Schritt verschwindet in dieser Erzählung die schädliche, stumpfe, entfremdete und unkreative Arbeit durch technischen und sozialen Fortschritt zugunsten einer Gesellschaft selbstbestimmter und sozial kooperativer Tätigkeit jenseits der Arbeit. Eine abgeschwächte Version erzählt die historische Entwicklung als positiv bewertete Sektorenverschiebung weg von landwirtschaftlichen und industriellen hin zu kreativen, kommunikativen und sorgenden Tätigkeiten. Die Stufenleiter des Fortschritts führt in dieser Optik Schritt für Schritt zu höherwertigen Tätigkeiten. Dieser Diskurs wird allerdings weniger von den Arbeitenden selbst geführt, sondern in Milieus, die hier selbst nicht wirklich betroffen wären.

Fortschrittsdiskurse im Parteienspektrum

Konservatismus und Fortschrittsdrang sind also auch in den heute bewegenden politischen Diskursen lebendig, wenngleich jeweils ganz unterschiedliche Motive und unterschiedliche Vorstellungen des Wandels wirksam sind. Sie bilden weder eine kohärente konservative noch eine kohärente progressive Agenda. Das zeigt sich auch in der widersprüchlichen Verteilung dieser Motive in der Parteienlandschaft.

Die FDP und Teile der Union sind nach wie vor stark vom marktliberalen Techno-Progressismus und einer Globalisierungserzählung vom Wettbewerb der Nationen geprägt. Auch das derzeit von der CDU proklamierte „Modernisierungsjahrzehnt“ fügt sich hier ein. Die CDU der Merkel-Jahre ist darüber hinaus sicher der Bilderbuchfall eines pragmatischen Konservatismus, der den Wandel zwar nicht aktiv betreibt, aber teils widerwillig, teils einsichtig, oft bremsend und unter dem Druck von Ereignissen auch überfallartig mitvollzieht. Versuche, eine eher reaktionär konservative Agenda in der Union wieder zu stärken, etwa durch eine hastig ausgerufene – und rückhaltlos verpuffte – „konservative Revolution“ (Alexander Dobrindt) oder die im Graubereich der Partei bleibende „Werte-Union“ waren bisher erfolglos. Reaktionär Konservatives liegt heute, bei fehlender Abgrenzung zu rechtsextremen Positionen, bei der AfD.

Links der parteipolitischen Mitte sind es vor allem die ökologischen und die identitätspolitischen Themen, die sich progressiv deuten lassen. Auf den Feldern der Verteilungspolitik, der Zukunft der Arbeit und der Globalisierung stehen neben den klassischen egalitär orientierten Fortschrittsnarrativen durchaus auch Elemente, die eher konservativ anmuten, orientiert an positiv gedeuteten Balancezuständen der zumeist jüngeren Vergangenheit. Letzteres ist bei der LINKEN sicher am stärksten verbreitet. Zur ökologischen Agenda gibt es da mitunter Reibungspunkte. Die techno-progressive Haltung ist in Teilen der SPD durchaus präsent und bei den Grünen gemessen an der Fortschrittsskepsis der Gründungsjahre deutlich stärker geworden. Sie ist bei beiden Parteien allerdings erheblich weniger mit dem Entfesselungsmotiv und der Staatskritik verflochten. Auch zwischen der umfassenden Demokratisierungs- und Beteiligungsagenda, die links der Mitte derzeit stark ist, und der Dringlichkeit ökologischer und technologischer Transformationsbedarfe gibt es Spannungspunkte.

An der Rolle des Staates für den jeweils gewünschten Fortschritt scheiden sich die parteipolitischen Geister nach wie vor, hier auch relativ klassisch entlang der Rechts-Links-Achse. Rechts der Mitte dominiert die Skepsis gegenüber staatlich-politischer Intervention. Die Mach- und Steuerbarkeit des Wandels durch Politik wird bezweifelt. Der konservative Reflex, den Staat vor allem dann (abwehrend) zu aktivieren, wenn ein akuter Notfall ansteht, steht im Kontrast zum gestaltenden Staatsverständnis der Parteien links der Mitte. In der nicht konservativen, eher marktliberalen Akzentuierung wird staatliche Aktivität dann sogar als Behinderung des Fortschritts gesehen. 

Sollte eine künftige Bundesregierung darauf Wert legen, sich als „progressiv“ darzustellen, die vielfältige Dynamik des Wandels unserer Zeit also offensiver und optimistischer anzugehen als bisherige Regierungen, dann sollten sich die jeweiligen Partner über die unterschiedlichen aktuellen Fortschrittsdiskurse klar verständigen.  Es spricht dann viel dafür, „Entfesselung“ nicht als Selbstzweck, sondern mit sozial-ökologisch progressiver Orientierung zu betreiben, die ökologischen und die techno-progressiven Stränge der heutigen Fortschrittserzählung also zusammenzudenken.

 


Die Autoren

Dr. Christian Kellermann ist Politikwissenschaftler und Ökonom, er ist Senior Researcher am Deutschen Institut für Künstliche Intelligenz, lehrt an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin und war zuvor tätig beim Parteivorstand der SPD.

Ralph Obermauer ist promovierter Philosoph, arbeitet als Referent beim Vorstand der IG Metall und war zuvor tätig beim Vorstand der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beide sind gemeinsam Geschäftsführer des Denkwerk Demokratie e.V., das sich für eine soziale, ökologische und demokratische Zukunftsgestaltung einsetzt und von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, IG Metall und IG BCE getragen wird.

 

[1] Dieser Beitrag analysiert aktuelle politische Diskurse dabei auch mit Hilfe der begrifflichen Analysen von Thomas Biebricher und Franziska Meifort, siehe Heinrich-Böll-Stiftung „Das Progressiv-Konservativ-Paradox. Vier Beiträge über Verändern und Bewahren“ (Schriften zur Demokratie Band 58).