Was bedeutet «konservativ»?

Die Frage nach der Bedeutung des Konservativen und wie es sich von seinem vermeintlichen Widerpart, dem Progressiven, abgrenzen lässt, treibt nicht nur die CDU-Basis und Winfried Kretschmann um.[1] Denn heute, in einer Zeit, die sich in den Augen vieler Beobachter/innen nicht zuletzt dadurch auszeichnet, dass über Jahrzehnte etablierte Ordnungsmuster des Politischen erodieren, steht grundsätzlicher in Frage, inwieweit altehrwürdige Begrifflichkeiten und Gegensätze, die den politischen Raum erkenn- und unterteilbar machten, überhaupt noch Orientierung zu bieten vermögen.

Was bedeutet es also, konservativ zu sein, und bedeutet es insbesondere und gerade, nicht progressiv zu sein?

Konservative aller Couleur sind sich weitgehend einig, dass es problematisch ist, vom Konservativen im Allgemeinen zu sprechen, da der Konservatismus wie kaum eine andere Ideologie von seinem jeweiligen Kontext geprägt ist. Obwohl dies in vielerlei Hinsicht zutrifft, soll hier dennoch das Wagnis unternommen werden, aus der Vielfalt der konservativen Erfahrungswelten bestimmte grundlegende Gemeinsamkeiten herauszudestillieren, ohne dem Konservatismus die Gewalt der Abstraktion anzutun, vor deren Folgen ja gerade Konservative immer wieder eindringlich warnen.

Pole des Konservativen I: die normative Natürlichkeit

Mein Vorschlag einer Begriffsklärung beruht auf der Unterscheidung zweier Pole, zwischen denen sich konservative Theorie und Praxis bewegen. Zum einen handelt es sich hier um einen substanziellen Pol, den ich als normative Natürlichkeit bezeichnen möchte; zum anderen um einen prozeduralen Pol, der sich als erfahrungsbasierter Inkrementalismus etikettieren ließe. Meine These lautet, dass sich alle noch so spezifischen Varianten des Konservatismus im ideologischen Koordinatenfeld zwischen diesen beiden Polen abtragen lassen, was auch impliziert, dass Konservativsein immer Elemente beider Pole beinhaltet, die nämlich systematisch aufeinander angewiesen sind.

Beginnen wir mit dem substanziellen Pol, der unmittelbar an den konventionellen oder gar klischeehaften Vorstellungen von Konservatismus ansetzen kann. Intuitiv verbindet sich das Konservative mit dem Willen zur Bewahrung, was sich schon allein aus der Etymologie des Begriffs ergibt. Die konservative Kernintuition besteht demnach im Versuch, den Status Quo aufrechtzuerhalten. Doch auch wenn es zunächst nach einer einfachen und klaren Position klingt, erweist sich dieses Unterfangen auf den zweiten Blick als ebenso voraussetzungsreich wie frustrierend. Denn selbst als Erzkonservativer geht es schließlich kaum ums Bewahren an sich was ja auch aus den Verteidigern des real existierenden Sozialismus Konservative machen würde. Vielmehr geht es darum, bestimmte Aspekte des Status quo zu erhalten, was sofort die für den substantiellen Konservatismus zentrale Frage aufwirft, worin diese Aspekte bestehen. Die verschiedenen Antwortmöglichkeiten lassen sich unter dem Begriff der normativen Natürlichkeit zusammenfassen: Konservativem Denken geht es letztlich um die Verteidigung einer guten Ordnung, die als natürliche verstanden wird, und zwar dahingehend, dass sie nicht menschgemacht ist und von menschlichen Akteuren allenfalls bedingt veränderbar ist. In den verschiedenen Ausprägungen des Konservatismus finden sich unterschiedliche theoretische Bezugspunkte für diese natürliche Ordnung, sei es die Religion, die Anthropologie, die Geschichte oder auch die Soziologie. Was jenen Ordnungsvorstellungen aber in all ihrer Vielfalt gemein ist, ist ein hierarchisches Strukturprinzip, aus dem sich ein ausdrücklich anti-egalitäres Bild des Sozialen ergibt, etwa was Familien- oder Geschlechterverhältnisse angeht.[2]

Die Stärke dieser zentralen Begründungsfigur des substanziellen Konservatismus besteht in ihrer Verklammerung des Natürlichen mit dem Guten: Weil bestimmte Verhältnisse von Natur her so und nicht anders sind, sind sie normativ wünschenswert. Jeder Versuch, sie zu ändern, ist letztlich keine soziale Auseinandersetzung, z.B. zwischen Privilegierten und Entrechteten, sondern ein geradezu metaphysischer Kampf gegen die Natur der Dinge selbst und dementsprechend, wenn überhaupt, dann nur um den Preis zivilisierten Lebens zu gewinnen, das nämlich erst durch diese natürliche Ordnung ermöglicht wird. Hier geht es nicht um widerstreitende Wertvorstellungen, sondern um Einsicht in die natürliche Notwendigkeit. Ein Beispiel wäre die konservative Philosophische Anthropologie Arnold Gehlens, die 1940 den Menschen als Mängelwesen bestimmt. Aus dessen Instinktungebundenheit ergeben sich zwar einerseits eine Fülle von Handlungsmöglichkeiten, die aber andererseits drohen, den einzelnen in eine lähmende Überforderung zu stürzen. Deshalb bedarf es aus Gehlens Perspektive starker und stabiler Institutionen, allen voran der Staat, die den einzelnen vom übermächtigen Handlungsdruck entlasten und dem Individuum bis zu einem gewissen Punkt die Entscheidungen abnehmen. Nur dementsprechend durch eine stabile institutionelle Ordnung entmächtigt ist der einzelne lebensfähig, und nur so können auch Zivilisationen entstehen, die aber laut Gehlen durch Forderungen nach individueller Autonomie und Egalitarismus aufs Spiel gesetzt werden.[3]

Die Schwäche dieser konservativen Begründungsfigur wiederum besteht darin, dass natürliche Ordnungen zunächst einmal hochabstrakte Vorstellungen sind, aus denen sich nicht ohne weiteres konkrete politische Positionen und Handlungs-Maximen ableiten lassen. Dies ist der Grund, warum der Konservatismus mehr noch als die anderen großen ideengeschichtlichen Grundströmungen des Liberalismus und des Sozialismus reaktiv ausgelegt ist, und daraus speist sich auch seine eingangs erwähnte ausgeprägte Kontextabhängigkeit. Das konservative Denken wird, zugespitzt formuliert, erst durch die konkreten Herausforderungen des Status quo durch Radikalreformen oder Revolutionen aktiviert. Die genauen Konturen der zu verteidigenden natürlichen Ordnung werden nämlich erst in dem Moment für die Konservative erkennbar, wenn sie in Frage gestellt werden. Es ist von daher bezeichnend, dass am Beginn der Formation im eigentlichen Sinn konservativer Diskurse Edmund Burkes kritische Reaktion auf die Französische Revolution steht. Der irischstämmige Intellektuelle Burke, der später auch als Politiker im britischen Unterhaus mit rhetorisch brillianten Reden für Furore sorgte, war in seinen inhaltlichen Positionen schillernd, und es ist bis heute umstritten, ob er als unzweideutiger Ahnherr des Konservatismus gelten kann. Unumstritten ist aber, dass seine Kritik der Revolution stilbildend für den Konservatismus weit über den britischen Kontext hinaus wirkte.[4]

Zu spät  … Die Tragik des Konservativen

Doch die konservative Reaktivität birgt ein schwerwiegendes Problem: Da der Konservatismus typischerweise erst aktiviert wird, wenn bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge in Frage gestellt werden, sind seine Bemühungen oftmals vergeblich, da sie schlichtweg zu spät kommen. Die in Zweifel gezogenen Verhältnisse sind dann nämlich oftmals bereits nicht mehr Teil des Bestehenden, sondern des bereits Vergehenden, das dann nur noch künstlich aufrechterhalten werden kann. Damit ist es aber nicht mehr im eigentlichen Sinn Teil der natürlichen Ordnung, deren normative Pointe ja gerade in ihrer Nicht-Künstlichkeit bestand.

Daraus ergibt sich die charakteristische Tragik des Konservatismus, der bei allem Willen zur Bewahrung des Natürlichen doch nur Künstliches produziert. Noch schwerwiegender ist die Tatsache, dass sich der Konservatismus immer wieder mit der Situation konfrontiert sieht, dass bestimmte als Teil der guten Ordnung verstandene Aspekte des Status quo irgendwann trotz aller Rettungsversuche verschwinden. Umgekehrt werden bestimmte Elemente Teil des Status quo, von denen man immer wieder zumindest behauptet hatte, dass sie mit der natürlichen Ordnung unvereinbar seien. Damit sieht sich die Konservative immer wieder genötigt, einen neuen Status quo verteidigen zu müssen, obwohl er bestimmte Aspekte beinhaltet, gegen die man womöglich jahrelang angekämpft hat. Ein markantes Beispiel im deutschen Kontext ist die Neupositionierung des Nachkriegskonservatismus, der die altkonservative Kritik der liberalen Demokratie entschlossen hinter sich lässt und letztere kurzum zur neuen Geschäftsgrundlage erklärt. Die hierfür erforderlichen schmerzhaften Anpassungsprozesse der eigenen Position und die damit verbundenen erheblichen kognitiven Dissonanzen machen den Konservatismus zu einer Weltanschauung, die ihren Anhängern regelmäßig ein beträchtliches Maß an Frustrationsbewältigung abverlangt, deren Strategien von der elegischen Kontemplation auf der einen Seite bis zum aktivistischen Umschlag in die Militanz des Reaktionärs auf der anderen Seite reicht, der damit aber eben auch das Reich des genuin Konservativen hinter sich lässt. Denn diese Militanz, der es gemäß dem Diktum des «Konservativen Revolutionärs» Arthur Moeller van den Bruck darum geht, erst «Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt»,[5] hat den bewahrenden Grundimpuls der Konservativen zumindest suspendiert: Wo jene im Zweifelsfall für eine staatstragende Duldsamkeit votiert und sich mit dem veränderten Status quo abfindet, schwelgt die Neue Rechte, die sich ja bisweilen auch das Label des Bürgerlich-Konservativen anheften möchte, in Umsturzfantasien, in denen das morsche Gebäude der liberalen Demokratie eingerissen werden muss, um das «Volk» vom Joch der «Altparteien» und dem Milieu des dekadenten Gutmenschentums zu befreien. Dies unterscheidet das genuin Konservative von der Neuen Rechten beziehungsweise dem, was heute mit dem Begriff Rechtspopulismus bezeichnet wird. Mit andere Worten: Die AfD ist nicht konservativ.

Wohl nicht zuletzt aufgrund dieser Schwierigkeiten, die sich aus der Leitidee einer Verteidigung normativer Natürlichkeit ergeben, neigen manche Variationen des Konservatismus stärker dem anderen, prozeduralen Pol zu.

Pole des Konservativen II: der erfahrungsbasierte Inkrementalismus

Ausgangspunkt eines eher prozedural orientierten Konservatismus ist die ausdrückliche Anerkennung des Faktums gesellschaftlichen Wandels. Muss der substanzielle Pol zwangsläufig den Eindruck erwecken, den Status Quo in manchen seiner Aspekte schlichtweg zementieren zu wollen, um sich dann regelmäßig in tragischen weil erfolglosen Rettungsaktionen wiederzufinden, lässt sich der prozedurale Pol auf das ewige Werden ein und verlagert die Aufgabe der Konservativen auf die Gestaltung der Modalitäten von als unausweichlich angesehenen Wandlungsprozessen. Daraus ergibt sich als Kernfrage dieses Pols des konservativen Denkens die nach dem angemessenen Leitbild für Veränderungen. Es kann dem Begriff des erfahrungsbasierten Inkrementalismus auf den Punkt gebracht werden. Das Bekenntnis zum inkrementellen, also schrittweisen Wandel lässt sich zunächst als pragmatisches Zugeständnis an die schwer zu bestreitende fundamentale Dynamik der Welt verstehen: Wenn deren Läufe schon nicht angehalten werden können, dann sollen sie wenigstens weitest möglich gebremst werden.

Doch damit erschöpfen sich die Vorzüge des Inkrementalismus aus konservativer Perspektive noch nicht. Denn wenn sich der Blick der Konservativen auf gesellschaftliche Zusammenhänge richtet, dann sieht sie eine verwinkelte Architektur des Sozialen, deren Statik schon durch kleinste Verschiebungen gefährdet werden kann. Umso angemessener erscheint vor diesem Hintergrund das schrittweise Reformieren, da zumindest im Idealfall nach jedem Schritt empirisch geklärt werden kann, ob die gewollten Ziele erreicht wurden, und vor allem, inwiefern ungewollte Auswirkungen eingetreten sind, mit denen man nicht gerechnet hatte. Und gerade im Hinblick auf letztere verbindet sich mit der immer nur schrittweisen Reform als konservative Idealpraxis die Hoffnung, dass diese aufgrund ihrer Kleinteiligkeit immer auch ein Stück weit reversibel bleibt. Die inkrementelle Gestaltung gesellschaftlichen Wandels wäre dann im besten Fall auch zu Selbstkorrekturen fähig und in der Lage, aus Fehlern zu lernen. Man denke zum einen etwa an die sehr langsame, aber doch kontinuierliche Weiterentwicklung familienpolitischer Positionen in der Union, die den gesellschaftlichen Entwicklungen immer ein wenig hinterherhinkt, diese letztlich aber doch nachvollzieht. Zum anderen könnten man an Angela Merkels Reaktion auf das Atomunglück von Fukushima denken, als sie in der ersten Stellungnahme festhielt: «Die Ereignisse in Japan lehren uns, das alles, was nach wissenschaftlichen Maßstäben für unmöglich gehalten wurde, doch möglich werden könnte», woraus sie folgerte, dass nun ein Umlenken in der Atompolitik erforderlich sei obwohl die Laufzeiten gerade erst von der schwarz-gelben Regierung verlängert worden waren.

Aus Fehlern zu lernen heißt, die empirische Realität anzuerkennen, und so kommt nun die zweite Komponente des konservativen Leitbilds ins Spiel, der es um eine realitäts- bzw. erfahrungsbasierte Reformpraxis geht. Dies bedeutet zum einen, dass der konservative Wandel immer die Erfahrungen der Vergangenheit mit in seine Betrachtungen einbeziehen muss: Auch wenn das Bewährte womöglich umgestaltet werden muss, so sollen doch diese Reformen auf dem Bewährten aufbauen. Zum anderen glaubt die Konservative eben an das Faktische und ist überzeugt, dass die Beurteilung des Bestehenden, aber auch der Auswirkungen von Reformen auf der Grundlage von empirischen Evidenzen vorgenommen werden sollte. Am Beispiel der Corona-Krise lässt sich deutlich erkennen, wer sich noch zu den Konservativen zählen lässt, und wer, wie ein beträchtlicher Teil der Republikaner in den USA zynischem Opportunismus, Verschwörungstheorien und politischem Wunschdenken den Vorzug gibt und sich damit aus dem genuin konservativen Lager verabschiedet hat.

Abrupt: der Albtraum des Konservativen

Im Umkehrschluss ist das Bekenntnis zum erfahrungsbasierten Inkrementalismus eine dezidierte Absage an alle Transformationsprozesse, die in ihrer abrupten Drastik, aber auch ihrer Reichweite revolutionären Charakter haben. Großflächige Veränderungen, die von heute auf morgen ins Werk gesetzt werden, sind der Albtraum des Konservativen, der sich sicher ist, dass auch die positivsten Resultate radikalen Wandels letztlich von den nicht vorhergesehenen negativen Auswirkungen in den Schatten gestellt werden: Jeder Segen verwandelt sich unweigerlich in einen Fluch.

Schlimmer kann es aus konservativer Sicht dann nur noch kommen, wenn es sich bei den anvisierten Radikalreformen auch noch um die Reißbrettentwürfe von Leuten handelt, denen es an Erfahrung und Praxis aus erster Hand mangelt. Diese machen sich des antiken Lasters der Hybris schuldig, indem sie die Lehren der Vergangenheit missachten und das kollektive Wissen, das in Sitten und Institutionen über Jahre oder gar Jahrhunderte hinweg gespeichert wurde, in den Wind schlagen und stattdessen auf die Kraft ihrer eigenen Vernunft vertrauen und diese damit aus konservativer Sicht auf fatale Weise überschätzen: Während die Robbespierres aller Parteien und Zeiten fest von der unbegrenzten Gestaltbarkeit der Welt ausgehen und damit immer auch eine Macht- und Kontrollphantasie ausleben, klagt die Konservative die erforderliche Demut gegenüber der Unverfügbarkeit und Widerständigkeit jener Welt ein, die sich der revolutionären Ingenieurskunst immer wieder verschließt und entzieht oder auf völlig unerwartete Weise zurückschlägt und so die Pläne der Brachialgestalter immer wieder in ihr Gegenteil verkehrt. Mit anderen Worten: Die Konservative weiß, dass es nicht nur die bekannten Unbekannten in der Gleichung der gesellschaftlichen Veränderung gibt, die man vermeintlich immer noch kontrollieren oder zumindest einkalkulieren kann, sondern auch das, was der bisweilen philosophisch disponierte Donald Rumsfeld einst als «unknown unknowns» bezeichnete.[6]

Aber selbst wenn man konzediert, dass der revolutionäre Reformeifer mitunter seine eigenen Potentiale zum Besseren überschätzt, inklusive der Leistungs- und Einsichtsfähigkeit der individuellen und kollektiven Vernunft, so steht dem auf konservativer Seite eine nicht minder problematische Vernunftskepsis gegenüber, die sich bei aller prosaischen Faktenorientierung sogar bisweilen zu einer ausdrücklichen Bereitschaft zum Irrationalismus auswachsen kann: Dem kalten Intellekt des Rationalismus werden dann Gefühle, Intuitionen und Werte gegenübergestellt, die man auf nicht näher bezeichnete Art und Weise aus dem eigenen Bauchgefühl ableitet.

Gärtnerkonservatismus

Und so ist es letztlich konsequent, wenn das Leitbild konservativer Wandlungsprozesse uns abermals auf das Reich einer gerade nicht von der Vernunft angekränkelten Natur verweist. Denn das entsprechende Ideal ist das organischer Wachstumsprozesse, die nicht nur auf das Bestehende aufbauen, sondern auch in ihrer Langsamkeit das Gebot des Inkrementalismus erfüllen. Die archetypische Figur, die solche organischen Wachstumsprozesse begleitet, ist eben nicht der Sozialingenieur, sondern jemand, der sich auf die Kunst der Kultivierung versteht; der lenkt, ohne dass das hierfür erforderliche Biegen der Sprösslinge letztlich zum Bruch führt; es ist, mit einem Wort, die Gärtnerin. Wenn vor diesem Hintergrund der deutsche Nachkriegskonservatismus aus der rechten Ecke bisweilen als «Gärtnerkonservatismus» geschmäht wurde, dann war dies zwar polemisch gemeint, in der Sache aber gar durchaus zutreffend.[7]

Doch der prozedurale Konservatismus des Gärtnerns kann auch eine aktivistische Wendung nehmen, wenn man nämlich die Logik der Gestaltung des Wandels bis zum prophylaktischen Ende denkt, womit wir uns langsam in jene paradoxale Zone bewegen, in denen entgegen dem bisherigen Anschein, konservativ und progressiv keine kategorialen Gegensätze mehr darstellen. Auf den Punkt gebracht wird dieser Konservatismus der prophylaktischen Anpassung im Roman Der Leopard von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Der adlige Titelheld formuliert sein persönliches konservatives Credo inmitten der Umbrüche im Italien des 19. Jahrhunderts in den Worten: Es muss sich alles ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Die Geschichte des Konservatismus bekräftigt die Bedeutung dieser Dimension des prozeduralen Pols, der in vermeintlich stärkstem Gegensatz zu den Zementierungsversuchen seines substantiellen Pendants immerzu bewusst und kontrolliert die Dinge verändert damit sie im Großen und Ganzen dann doch gleichbleiben können. Für den Mitbegründer der deutschsprachigen Soziologie, Max Weber, war Politik das heroische Bohren dicker Bretter, wie es in seinem berühmten Vortrag Politik als Beruf aus dem Jahr 1919 heißt. Für die Konservative ist es das beständige Drehen an kleinen Schrauben. Erst vor diesem Hintergrund werden die vermeintlich paradoxen Spielarten etwa des deutschen Konservatismus nachvollziehbar, deren Bandbreite ja interessanterweise von Erhard Eppler bis Franz-Josef Strauß reicht. Der ökologisch orientierte SPD-Vordenker Eppler, führte in den 1970er-Jahren die Unterscheidung von Struktur- und Wertkonservatismus ein, der gemäß sich letzterer zum Ziele der Realisierung bestimmter Werte sogar mit revolutionärem Elan verbinden können soll. Strauß wiederum verkündete als erzkonservativer CSU-Politiker auf einem Parteitag im Jahre 1968 im Brustton der Überzeugung: «Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.»

Probleme des prozeduralen Konservatismus I: der Neokonservatismus

Aber auch der prozedurale Konservatismus bringt gewisse Schwierigkeiten mit sich, von denen hier nur die wichtigsten zwei behandelt werden. Da ist zunächst die Problematik, die vor allem den Neokonservatismus betrifft, der sich etwa in Deutschland, USA und Großbritannien ab den frühen 1970er-Jahren nicht zuletzt in Reaktion auf die Turbulenzen von 1968 formiert: Denn der von Strauß formulierte Anspruch war weitaus selektiver gemeint, als er zunächst klingt. Fortschritt wurde hier nämlich ausschließlich auf die Sphären von Kapitalismus, Wissenschaft und Technik bezogen. In dieser Hinsicht hat sich etwa der deutsche Neokonservatismus (aber keineswegs nur dieser) einer bedingungslosen Modernität verschrieben, was weitreichende Implikationen hat: Nicht nur ging so den etablierten Kräften des Konservatismus de facto das urkonservative Thema des Naturschutzes verloren, der im Zweifelsfall immer hinter den Erfordernissen von Industrie, Forschung und kapitalistischen Verwertungsinteressen zurückstehen musste. Zudem ist so eine tiefe Inkonsistenz innerhalb der konservativen Weltanschauung aufgebrochen, die zwar einerseits «progressiv» ist, was Wissenschaft, Technik und Kapitalismus angeht, sich aber andererseits gesellschaftspolitisch und demokratietheoretisch gegen Modernisierungsversuche sträubt. Man könnte also soweit gehen zu sagen, dass dieser Konservatismus das Paradox von «progressiv» und «konservativ» in sich selbst aufgenommen und nun auszutragen hat. Wie schwierig dies ist, lässt sich mit einer Vielzahl von Beispielen belegen: Man denke etwa an die Familie, deren Integrität unter Konservativen höchste Priorität genießt. Dieser immer wieder idealisierte Familienzusammenhalt auf Grundlage des «Male breadwinner»-Modells wird aber nicht nur durch progressive Politik, sondern auch durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst massiv in Frage gestellt. Stagnierende Reallöhne, wie sie über weite Strecken der letzten 30 Jahre in der OECD-Welt zu verzeichnen waren, machen aus dem Doppelverdienerhaushalt oft keine bewusst gewählte emanzipatorische Option als vielmehr eine ökonomische Notwendigkeit. Das wiederum zieht den Bedarf an flächendeckender frühkindlicher Betreuung nach sich, die von Konservativen die längste Zeit als dystopische Verstaatlichung der Kindererziehung im Geiste Margot Honeckers verteufelt wurde und in Teilen weiterhin wird.

Probleme des prozeduralen Konservatismus II: der Orientierungsverlust

Nun handelt es sich bei diesen Widersprüchlichkeiten um eine spezifische Konstellation des neokonservativen Prozeduralismus und seinem ungeklärten Nebeneinander von technophiler Fortschrittsorientierung oder gar Progressivität und gesellschaftspolitischer Beharrung. Doch der prozedurale Konservatismus insgesamt sieht sich darüber hinaus konfrontiert mit der nicht zu unterschätzenden Gefahr des Orientierungsverlustes. Denn nur allzu leicht wird aus dem ultrapragmatischen Programm des Auf-Sicht-Fahrens mit dem Fuß auf der Bremse ein Muddling Through, das den Eindruck völliger Beliebigkeit erweckt. Dann nämlich, wenn die Verbindung zwischen prozeduralem und substantiellem Pol gekappt wird und Geschwindigkeitsbegrenzungen in Sachen gesellschaftlicher Veränderung zum Selbstzweck werden, ohne dass noch erkennbar wäre, in welche Richtung diese Veränderungstendenzen gelenkt werden sollen, wozu es eben die Orientierung an bestimmten substanziellen Ordnungsvorstellungen bräuchte. Als ausschließlich prozedural geprägtes Programm erweckt der Konservatismus dann bisweilen den Eindruck einer prinzipienfreien Politik, die sich von Krise zu Krise laviert und in deren auf Dauer gestelltem Krisenmanagement auch die Unterscheidung von «konservativ» und «progressiv» eigentlich keine Rolle mehr spielt. Entsprechend kommt dieses vermeintlich postideologische Problemlösen dann aber auch einer Bankrotterklärung des Konservatismus gleich. In einer von Großkrisen wie der Corona-Pandemie geprägten Zeit, kann eine solche Ausrichtung durchaus Erfolge verzeichnen, wenn es ihr gelingt, Sicherheit und Verlässlichkeit zu vermitteln, doch spätestens wenn es darum geht, die Post-Corona-Welt zu gestalten und mehr oder weniger weitreichende Schlüsse aus der Krise zu ziehen und diese im Rahmen von entsprechend ambitionierten Agenden umzusetzen, wird der Konservatismus Farbe bekennen und darlegen müssen, wohin die Reise denn gehen soll wenn auch immer mit einem Fuß auf dem Bremspedal.

 

Prof. Dr. Thomas Biebricher ist Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Politische Theorie. Promotion an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 2003 mit einer Dissertation zur «Selbstkritik der Moderne. Habermas und Foucault im Vergleich». Biebricher hat mehrere Professuren für Politische Theorien vertreten, u.a. von 2014 bis 2017 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er war Postdoktorand am Exzellenzcluster «Normative Ordnungen», für das er zwischen 2009 und 2012 bereits eine Nachwuchsforschungsgruppe leitete. Seit 2020 ist er Associate Professor an der Copenhagen Business School. 2018 erschien sein Buch Geistig-moralische Wende: Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Anfang 2021 folgt Die politische Theorie des Neoliberalismus.


Literatur

Bröckling, Ulrich: Dispositive der Vorbeugung. Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution, in Daase, Christopher/Offermann, Philipp/Rauer, Valentin (Hg.): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt am Main 2012, S. 93–108.

Burke, Edmund: Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Berlin 1991 [1793].

Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.

Kretschmann, Winfried: Worauf wir vertrauen können. Für eine neue Idee des Konservativen, Frankfurt am Main 2018.

Moeller van den Bruck, Arthur: Das dritte Reich, Hamburg 1931 [1923].

Mohler, Armin: Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978.

Robin, Corey: Der reaktionäre Geist. Von den Anfängen bis Donald Trump, Berlin 2018.


[1]   Kretschmann, Winfried: Worauf wir vertrauen können. Für eine neue Idee des Konservativen, Frankfurt am Main 2018.

[2]   Vgl. Robin, Corey: Der reaktionäre Geist. Von den Anfängen bis Donald Trump, Berlin 2018.

[3]   Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Berlin 1940.

[4]   Burke, Edmund: Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen, Berlin 1991 [1793].

[5]   Moeller van den Bruck, Arthur: Das dritte Reich, Hamburg 1931 [1923], S. 264.

[6]   Vgl. zur Unterscheidung von «known unknowns» und «unknown unknowns» auch Bröckling, Ulrich: Dispositive der Vorbeugung. Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution, in Daase, Christopher/Offermann, Philipp/Rauer, Valentin (Hg.): Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt am Main 2012, S. 93–108.

[7]   Vgl. Mohler, Armin: Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978.