Eine kurze Geschichte mit langanhaltender Wirkung: 30 Jahre Parteigründung Bündnis 90

Kalenderblatt

Wer die Partei Bündnis 90 und was ihre Geschichte war, und warum ihr Name bis heute dem Parteinamen von Bündnis 90/Die Grünen zurecht voransteht.

Mitglieder des ersten Bundessprecherrates (Vorstand) von Bündnis 90 Gruppenbild der Mitglieder des ersten Bundessprecherrates (Vorstand) von Bündnis 90,  gewählt auf der Gründungsversammlung des Bündnis 90 am 20./21.09.1991 in Potsdam,  hier nach der Pressekonferenz in Berlin am 23.09.1991. oben v.l.n.r.: Erhard O. Müller, Werner Schulz, Matthias Platzeck, Wolfgang Templin unten v.l.n.r: Ricarda Horn, Petra Morawe, Wolfgang Ullmann, Christiane Ziller, Heiko Lietz
Teaser Bild Untertitel
Mitglieder des ersten Bundessprecherrates (Vorstand) von Bündnis 90 Gruppenbild der Mitglieder des ersten Bundessprecherrates (Vorstand) von Bündnis 90, gewählt auf der Gründungsversammlung des Bündnis 90 am 20./21.09.1991 in Potsdam, hier nach der Pressekonferenz in Berlin am 23.09.1991. oben v.l.n.r.: Erhard O. Müller, Werner Schulz, Matthias Platzeck, Wolfgang Templin unten v.l.n.r: Ricarda Horn, Petra Morawe, Wolfgang Ullmann, Christiane Ziller, Heiko Lietz

Am 21. und 22. September 2021 jährte sich zum dreißigsten Mal der Gründungskongress der Partei Bündnis 90. Viele kennen nur noch ihren Namen – als Teil des heutigen Parteinamens von Bündnis 90/Die Grünen. Wenige, insbesondere wenige junge Menschen, wissen um die kurze und turbulente Geschichte der eigenständigen Partei, die an dieser Stelle erinnert werden soll.

Bündnis 90, das war bis zum September 1991 der gemeinsame Name für verschiedene Wahllisten gewesen, die bei den zahlreichen Wahlen antraten, die seit der Friedlichen Revolution auf Landes- und kommunaler Ebene sowie in den wieder neu entstandenen Bundesländern im Osten Deutschlands stattgefunden hatten. Eine reguläre und eigenständige Partei entstand daraus erst, als sich Delegierte des Neuen Forum, von Demokratie Jetzt und der Initiative Frieden und Menschenrechte vor 30 Jahren in Potsdam zu diesem Zweck zusammenfanden. Als Partei existierte Bündnis 90 dann allerdings nur etwa anderthalb Jahre, ehe es im Frühjahr 1993 bereits wieder in der gesamtdeutschen Fusionspartei Bündnis 90/Die Grünen aufging. Als einzige im deutschen Parteiensystem tragen die Bündnisgrünen bis heute den Namen einer der maßgeblichen Gruppierungen der Bürgerbewegung im Namen.

*             *             *

Woher kam das Bündnis 90 und worin bestand die Schnittmenge mit den Grünen im Westen?

Die Wurzeln reichen in die teils klar oppositionellen, teils unangepassten Kreise der sogenannten „politisch alternativen Gruppen“, die ab den späten 1970er Jahren vor allem in den größeren Städten der DDR entstanden waren. Zunächst meist im kirchlichen Umfeld aktiv, strebten diese Gruppen im Laufe der 1980er Jahre zunehmend nach Öffentlichkeit und persönlicher sowie politischer Autonomie unabhängig von der autoritären Staatsmacht. Obwohl sie durch den „Eisernen Vorhang“ von der westlichen Welt abgetrennt waren, entwickelten diese Gruppen einen ähnlichen Wertekanon, wie die grün-alternative Bewegung im Westen. Sie teilten oftmals konsum- und wachstumskritische Positionen, versuchten sich in alternativen Lebensformen und -stilen, engagierten sich in der Friedensbewegung oder für die sogenannte „Dritte Welt“ und hatten oftmals basisdemokratische Idealvorstellungen für politische Prozesse. Außerdem wirkte die für alle sichtbare Zerstörung der Umwelt durch die DDR-Industrie politisierend auf diese Gruppen. Aber anders als in der Bundesrepublik wurden sie und ihre Anliegen in der DDR kriminalisiert. Es gab in der DDR auch keine kritische Öffentlichkeit und kaum Chancen für zivilgesellschaftliches Engagement. Darum war die alternative Gruppenszene in der DDR kaum anschlussfähig an breitere Bevölkerungsschichten – ganz im Gegensatz zur grünen Bewegung in der Bundesrepublik, wo die Grünen 1983 in den Bundestag einziehen konnten und einen gesellschaftlichen Wandel sowohl anzeigten als auch mitgestalteten, der über die Jahrzehnte die grünen Themen in die Mitte der Gesellschaft tragen konnte.

In der DDR hatte die politisch-alternative Szene ihren großen Moment während der Friedlichen Revolution, weil sie die einzigen politischen Kräfte waren, die schon vor dem Umbruch zumindest rudimentär eigene Strukturen aufbauen konnten. Außerdem nahmen sie durch die erlebten staatlichen Repressionen eine glaubwürdige und wahrhaftige Gegenposition zur Diktatur ein. So wurden die sich nun als „Bürgerbewegungen“ organisierenden Gruppen zu „Kristallisationspunkten“ der Revolution und erhielten erheblichen personellen Zulauf. Die mediale Begleitung der Herbst-Winter-Ereignisse 1989 machte Persönlichkeiten wie Bärbel Bohley oder auch Marianne Birthler, die am 4. November vor Hunderttausenden auf dem Alexanderplatz sprach, zu Gesichtern der Revolution. Den Gründungsaufruf des Neuen Forums unterschrieben insgesamt 200.000 Menschen. Große Verdienste erwarben sich die Bürgerbewegten in dieser Phase bei der friedlichen Ausgestaltung des Machtübergangs am Runden Tisch und bei der Sicherung der Akten der Staatssicherheit. Das Wahlergebnis der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 offenbarte jedoch den schwindenden gesellschaftlichen Rückhalt für die weiterreichenden Reformideen des Bündnis 90. Neues Forum, Demokratie Jetzt und die Initiative Frieden und Menschenrechte waren hier erstmals unter diesem gemeinsamen Namen angetreten. Mit ihrer Forderung nach einer zunächst von innen heraus demokratisierten DDR, die sich erst langsam an die Bundesrepublik annähern sollte, drangen sie nicht gegen den Einheitswunsch der Mehrheitsbevölkerung durch. Haushohe Wahlsiegerin wurde die von Bundeskanzler Helmut Kohl gestützte „Allianz für Deutschland“, ein Bündnis aus der sich reformierenden Block-CDU der DDR zusammen mit der DSU und der konservativsten Organisation der „Bürgerbewegung“, dem „Demokratischen Aufbruch“. Die Zahl der in den Organisationen der „Bürgerbewegung“ Engagierten ging in den folgenden Monaten stark zurück.

*             *             *

Cover der Zeitschrift "Bündnis 2000", 1991, Heft 21. Archiv Grünes Gedächtnis, Zeitschriftensammlung

Wie kam es dann 1991 zur vergleichsweise späten Parteigründung des Bündnis 90?

Entscheidend für das Verständnis ist die Erinnerung an den politischen und juristischen Handlungs- und Entscheidungsdruck, unter dem die aus der DDR-„Bürgerbewegung“ hervorgegangen Gruppierungen zu diesem Zeitpunkt bereits standen. Die Parteigründung des Bündnis 90 war Teil eines Kampfes gegen die drohende Marginalisierung in der Bundesrepublik. Konkret und ganz praktisch ging es, ein Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung und knapp zwei Jahre nach dem Beginn der Friedlichen Revolution darum, sich den Ansprüchen des bundesdeutschen Parteienrechts anzupassen. Denn dieses kannte keine „Bürgerbewegungen“, die an Parlamentswahlen teilnahmen und Parteienfinanzierung erhalten wollten. Den politischen Organisationen aus der DDR hatte man im Zuge des Vereinigungsprozesses eine Frist von einem Jahr eingeräumt, sich gemäß bundesrepublikanischem Recht zu organisieren.

Neben diesem juristischen Anpassungsdruck hatten jedoch vor allem die Wahlergebnisse des vorangegangenen Jahres 1990 die verschiedenen Bündnis 90-Organisationen unter politischen Zugzwang gesetzt. Wie erwähnt, hatte bereits die erste freie Wahl in der DDR, die Volkskammerwahl im März 1990, allzu deutlich gezeigt, dass die Organisationen der „Bürgerbewegung“ politisch nur noch eine kleine Rolle spielten. Obwohl ihre Vertreter*innen zur Avantgarde der ostdeutschen Demokratiebewegung und damit zu den Gesichtern der Friedlichen Revolution gezählt hatten, erhielt die gemeinsame Wahlliste „Bündnis 90“ noch nicht einmal drei Prozent der abgegebenen Stimmen. Sie würden also um ihr politisches Überleben kämpfen, hatten aus diesem Grund bereits gemeinsame Wahllisten gebildet und suchten nun, im nächsten Schritt, nach einer gemeinsamen Organisationsform der „Bürgerbewegung“, um die geringen Kräfte zu bündeln.

Dieser politische Anpassungsdruck auf das lose, nicht parteiförmige, Bündnis 90 und seine Organisationen verstärkte sich massiv durch die Geschwindigkeit, mit der der Prozess der deutschen Wiedervereinigung nach den Volkskammerwahlen auf den Weg gebracht wurde: Die bundesdeutsche Fünfprozenthürde und die schiere Größe der „alten“ Bundesländer, wo die DDR-„Bürgerbewegung“ keinerlei Strukturen besaß, verstärkten die Gefahr der vollständigen Marginalisierung im politischen Konkurrenzkampf mit den etablierten bundesdeutschen Parteien. Diese hatten sich ihre DDR-Schwesterparteien analog zum Beitritt der „neuen“ Bundesländer einfach einverleibt. Dazu kam als Konkurrenz die PDS, die sich mit den Ressourcen der vormaligen Staatspartei ein Image als Volkspartei des Ostens und Anwältin der ostdeutschen Interessen aufbaute.

Dass die größte der Vorläuferorganisationen des Bündnis 90, das Neue Forum, letztlich nur ungefähr zur Hälfte mit in die Partei Bündnis 90 überging, erschwerte die Situation des Bündnis 90 zusätzlich. Die andere Hälfte des Neuen Forums blieb unter Führung von Bärbel Bohley und dem erst kürzlich verstorbenen Reinhard Schult eigenständig, weil sie durch eine Parteigründung das Erbe und den besonderen Charakter der „Bürgerbewegung“ in Gefahr sahen. In ihren Augen drohte das Bündnis 90 sonst nur eine weitere Partei im parlamentarischen System zu werden und damit seinen ursprünglich basisdemokratischen Ansatz, die Forderungen nach mehr direkter Demokratie und das revolutionäre Erbe der Bewegung zu verraten. (Was das verbliebene Neue Forum nicht davon abhielt, sich nur wenige Tage später selbst formaljuristisch parteiförmig zu organisieren, um den rechtlichen Ansprüchen gerecht zu werden.) Bohley und weitere im Kreis des Neuen Forums hatten zudem Vorbehalte gegen eine zu starke Vorfestlegung auf eine mögliche spätere Fusion mit den West-Grünen, die als Elefant im Raum stand. In der Tat gab es keinen Pressebericht über den Gründungskongress des Bündnis 90 in Potsdam, der nicht auf die grüne Delegation hinwies, die dem Kongress beiwohnte.

Denn nicht nur die Gruppierungen des Bündnis 90, sondern vor allem auch die West-Grünen befanden sich 1991 in einer bedrohlichen Situation: Sie hatten bekanntlich bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 auf den Klimaschutz als zentrales Thema gesetzt: Eine fatale Fehleinschätzung in einem historischen Wahlkampf, der vollkommen im Zeichen der Wiedervereinigung und des sich abzeichnenden Endes der Blockkonfrontation zwischen Ost und West stand. Zusätzlich geschwächt durch die innerparteilichen Auseinandersetzungen zwischen „Fundis“ und „Realos“, waren die Grünen letztlich an der Fünfprozenthürde gescheitert und aus dem Bundestag ausgeschieden. Die Repräsentanz im Parlament sicherte eine kleine Gruppe ostdeutscher Abgeordneter, aufgrund der dort einmalig suspendierten Fünfprozenthürde. Ein Wiedereinzug der West-Grünen bei den nächsten Wahlen war alles andere als gewiss – bis dahin war das noch keiner Partei in der Geschichte der Bundesrepublik gelungen, nachdem sie einmal ausgeschieden war. Und schließlich hatte sich auch die politische Landkarte und die Demographie der Bundesrepublik seit der Wiedervereinigung verändert: Die Grünen waren auf Kooperationspartner*innen in den „neuen“ Bundesländern angewiesen. Es gab zwar seit Ende 1989 die „grüne Partei in der DDR“, doch die Strukturen der unmittelbar nach der gesamtdeutschen Bundestagswahl mit den West-Grünen fusionierten Partei waren alleine zu schwach (und die Modalitäten dieser Fusion hatten dazu geführt, dass sie weiter geschwächt wurden).

Einerseits war das Interesse an der Fusion also in der Tat stark – vor allem, aber nicht nur bei den West-Grünen. Andererseits bestanden berechtigte Ängste im Bündnis 90, dabei unter die Räder zu geraten.

*             *             *

Aus der eigenständigen ostdeutschen Demokratiebewegung in das Parteiensystem der Bundesrepublik?

Zum Zeitpunkt der Parteigründung im September 1991 waren die Vertreter*innen von Bündnis 90 also trotz ihrer großen Erfolge während des Umbruchs (wieder) eine relativ isolierte politische Gruppe, die sich gleichwohl als Trägerin einer eigenständigen ostdeutschen Demokratiebewegung erwiesen hatte. Mit der Parteigründung ging es aus ihrer Perspektive nun darum, so viel wie möglich von dieser eigenständigen ostdeutschen Demokratiegeschichte in das Parteiensystem der Bundesrepublik herüberzuretten. Diejenigen ehemaligen Gruppen-Vertreter*innen aus DDR-Zeiten, die diese Integration in die Bundespolitik ablehnten, weil sie beispielsweise für einen „dritten Weg“ zwischen westlicher Marktwirtschaft und Planwirtschaft eintraten, hatten das Bündnis 90-Umfeld zu dieser Zeit bereits verlassen oder verließen es, wie Bohley und Schult, spätestens jetzt. Auch das erklärt, warum die Parteigründung im direkten Zusammenhang mit einer möglichen Fusion mit den Grünen diskutiert wurde. Denn die Parteigründer*innen um den Bundestagsabgeordneten Werner Schulz und die brandenburgische Bildungsministerin Marianne Birthler waren eben jene Teile der „Bürgerbewegung“, die konsequent für eine realistische Überlebenschance innerhalb des bundesrepublikanischen Parteiensystem stritten – was nur zusammen mit den westdeutschen Grünen möglich erschien. Deren aktuelle Schwäche stärkte die Verhandlungsposition der Ostdeutschen. Und diese Fusionsverhandlungen wurden zur Hauptaufgabe der Bündnis 90-Parteigremien in den anderthalb Jahren ihrer Existenz.

Schließlich besiegelte eine Urabstimmung unter den etwa 2.600 Mitgliedern des Bündnis 90 und den etwa 35.000 Mitgliedern der Grünen und zwei parallel stattfindende Bundesdelegiertenkonferenzen der beiden Parteien im Januar 1993 das Zusammengehen. Sie verabschiedeten den „Assoziationsvertrag“ und einen neuen, gesamtdeutschen Grundkonsens für die fusionierte Partei. Beide Dokumente waren große Erfolge für das Bündnis 90, das auch seinen Namen an erster Stelle im neuen Parteinamen platzieren konnte. Die mehr als zehnmal so großen Grünen ließen sich vertraglich auf ein Zusammengehen auf Augenhöhe ein, indem sie sich einer neuen gemeinsamen Organisationskultur verpflichteten, die gleichermaßen die Tradition der West-Grünen wie die der DDR-Opposition aufnehmen sollte. Erstes Bundesprecher*innenduo der Fusionspartei wurden Marianne Birthler und Ludger Volmer.

Doch die Zuversicht über ein Zusammengehen auf Augenhöhe wich bereits kurz nach der Fusion zunehmend der Enttäuschung unter den ostdeutschen Bündnisgrünen. Die schon zahlenmäßige Dominanz der Westgrünen zeigte sich allerorten. Die Wahlergebnisse in den neuen Bundesländern blieben schlecht oder verschlechterten sich sogar noch. Die Partei hatte große Schwierigkeiten, nennenswert in der Fläche der ostdeutschen Länder Fuß zu fassen. Der in weiten Teilen postmaterielle Wertekanon der Grünen blieb für die ostdeutsche Gesellschaft wenig anschlussfähig, und die immensen wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Transformationsprozesses im Osten ließen wenig Platz für eine Partei mit dezidiert ökologischem und in Teilen wachstumskritischem Profil. Die Gesamtpartei wurde weiterhin als westdeutsch wahrgenommen. In der Konsequenz blieb für das Bündnis 90 oftmals vor allem die thematische Nische der Aufarbeitung des DDR-Unrechts, während sich die Grünen nach ihrem Wiedereinzug in den Bundestag 1994 langsam auf den Weg machten, das Land von der Bundesregierung aus gestalten zu wollen.

*             *             *

Was ist vom Bündnis 90 jenseits des Namens und einzelner prominenter Persönlichkeiten geblieben?

Blickt man bilanzierend auf die politischen Lebensläufe der Protagonist*innen der ostdeutschen Bürgerrechts- und Demokratiebewegung, so wird man sagen müssen, dass die meisten auch in der Vereinigungspartei von Bündnis 90/Die Grünen keine bestimmende Rolle mehr gespielt haben. Katrin Göring-Eckardt, die von Demokratie Jetzt über Bündnis 90 zu Bündnis 90/Die Grünen kam, ist als Fraktionsvorsitzende der Bundestagsfraktion heute die prominenteste Ausnahme. In früheren Jahren zudem Marianne Birthler und Werner Schulz, doch der Kreis bleibt sehr überschaubar.

Was also ist vom Bündnis 90 jenseits des Namens und einzelner prominenter Persönlichkeiten geblieben? Die programmatische Wirkung des Fusionsprozesses zeigte sich erst mit einigem zeitlichen Abstand. Denn dass die Grünen 1998 auf Bundesebene regierungsfähig wurden, hängt auch mit dem Fusionsprozess zusammen. So war es beispielsweise Werner Schulz, der bereits ab 1991 im Bundestag bündnisgrüne Wirtschaftspolitik betrieben hat und das auch nach der Bundestagswahl 1994 weiterführen konnte. Zuvor waren Themen wie Industrie- oder Standortpolitik bei den Grünen kaum präsent. Die schlagartige Deindustrialisierung Ostdeutschlands ab 1990 mit ihren gravierenden sozialen Folgen zwang das Bündnis 90, sich dem Thema früher als die Gesamtpartei zu stellen. Ähnlich sieht es auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik aus. Die DDR-Opposition war von der militärischen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 und den Repressionserfahrungen in der SED-Diktatur geprägt. Das führte zu der Einsicht, dass rigoroser Pazifismus gegen akute gewaltsame Menschenrechtsverletzungen schnell an seine Grenzen stieß. Eine Perspektive, die anlässlich der Balkankriege der 1990er Jahre im grünen Umfeld äußerst kontrovers diskutiert wurde, aber nicht zuletzt durch den Bündnis 90-Bundestagsabgeordneten Gerd Poppe zunehmend Einfluss in der Gesamtpartei gewinnen konnte. Die Fusionsverhandlungen zwischen Grünen und Bündnis 90 ab 1991 sind im Kontext eines größeren Reformprozesses der Grünen zu sehen, bei dem große Teile des „Fundi“-Flügels aus der Partei ausschieden und sich so das innerparteiliche Strömungsverhältnis nachhaltig veränderte. Die heutigen Bündnisgrünen, die sich anschicken, Mehrheiten in der Mitte der Gesellschaft zu gewinnen, sind zu einem größeren Teil als viele von ihnen vielleicht meinen, auch das längerfristige Resultat der Fusion von Bündnis 90 und Grünen.


Der Autor

Florian Schikowski, geboren 1989 in Wurzen, ist Historiker und Doktorand am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. In seiner von Frank Bösch und Thomas Lindenberger betreuten und von der Heinrich-Böll-Stiftung geförderten Dissertation beschäftigt er sich mit der Vereinigungsgeschichte von Bündnis 90 und den Grünen.