Städte aus ganz Europa denken Migrationspolitik neu

Dokumentation

Der Launch der “Moving Cities" Website am 21. Oktober verdeutlicht, welch dynamische Kraft Städte und Kommunen bei der Aufnahme und Integration von Geflüchteten entwickeln.

Moving Cities

Das Kapitel Migrationspolitik ist eines der schwierigsten innerhalb der Europäischen Union. Seit Jahren können sich die EU-Mitgliedstaaten nicht auf eine solidarische EU-Asylpolitik einigen. Die Konsequenzen dieser Handlungsunwilligkeit zeigen sich aktuell in ihrer ganzen Dramatik an den polnischen und litauischen EU-Außengrenzen. Aber auch an anderen Orten der EU finden fast täglich schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und rechtswidrige Pushbacks statt.

Die Reaktionen aus den europäischen Hauptstädten, sei es auf die katastrophale Situation an den EU-Außengrenzen oder auf die Lage in Afghanistan seit diesem Sommer, sind mehr als ernüchternd. Übersehen wird in dieser festgefahrenen Gemengelage oftmals, dass es sehr wohl Orte in Europa gibt, die sich für die Rechte von geflüchteten Menschen einsetzen und eine aktive Willkommenspolitik betreiben: Städte und Kommunen!

So haben sich in den letzten Jahren bereits hunderte Städte und Kommunen in Netzwerken wie „Sichere Häfen“ und “Solidarity Cities“ zusammengetan, um für eine progressive und inklusive Asyl- und Migrationspolitik zu kämpfen, und Schutzsuchenden Zuflucht in Europa zu ermöglichen.

Mit Moving Cities gibt es nun einen Ort, an dem die zivilgesellschaftlichen Initiativen für eine andere Migrationspolitik sichtbar gemacht werden

Eine andere Migrationspolitik in Europa ist möglich

Die Plattform „Moving Cities“, die als gemeinsames Projekt der Seebrücke, der Heinrich-Böll-Stiftung und der Rosa-Luxemburg-Stiftung ins Leben gerufen wurde, hat sich zum Ziel gesetzt, dieses progressive Engagement lokaler Initiativen sichtbar zu machen. 

Die Website Moving Cities, die Ende Oktober online ging, gibt einen umfassenden Überblick über die Vorreiterrolle europäischer Städte und Kommunen. In bald sieben Sprachen bietet die Plattform ein systematisches Mapping von Kommunen und ihren Lösungsansätzen quer durch Europa. Tausende von Städten unterstützen eine solidarische Migrationspolitik, wollen zusätzliche geflüchtete Menschen aufnehmen oder haben Projekte initiiert, die das Ankommen von Geflüchteten unterstützen. Die Macher/innen haben bislang über 700 von ihnen ausgemacht. Weitere werden dazukommen, denn Städte mit entsprechendem Profil sind aufgerufen sich anzuschließen. Die Website stellt darüber hinaus über 50 inspirierende lokale Inklusionsprojekte vor und verrät, was wir von den „good practice“ Beispielen der Vorreiter-Städte lernen können.

Zum Launch der Website luden die Heinrich-Böll-Stiftung, die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Seebrücke am 21. Oktober zur einer Online-Veranstaltung ein. Neben der Vorstellung der Plattform und einzelner Beispiele gelungener Projekte ausgesuchter Städte diskutierten Bürgermeister/innen sowie Expert/innen aus der Zivilgesellschaft und Wissenschaft die Bedeutung von Städten und Kommunen für eine neue Dynamik in der EU-Migrationspolitik.

Moving Cities zeigt, dass europäische Kommunen solidarisch sind mit Geflüchteten, die in Europa Schutz suchen.

Solidarität mit Schutzsuchenden in Europa

Zum Beginn des Launchs betonte Ellen Ueberschär, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung in ihrer Begrüßung, die Website „Moving Cities“ zeige klar, dass „europäische Kommunen solidarisch sind, erstens miteinander und zweitens mit Migrantinnen und Migranten, die in Europa Schutz und Auskommen suchen“. Eine dieser Kommunen ist beispielsweise das polnische Gdansk, das sich somit gegen die polnische Regierung und deren Blockadehaltung in Brüssel stelle. Daniela Trochowski, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bekräftigte, die Website komme genau zum richtigen Zeitpunkt, da Innenminister Horst Seehofer sich aktuell erneut bemühe, Geflüchtete von der deutsch-polnischen Grenze fernzuhalten und andere Staaten dränge, Migrant/innen nicht in die EU durchzulassen. „Flüchtlinge können sich in Europa noch immer nicht auf das Völkerrecht verlassen.“ Sie bräuchten Hilfe von Menschen, die von unten Druck machen - wie die, die am 17. Oktober in Warschau und Krakau gegen die Pushbacks demonstriert haben.

Die Initiatorin der „Seebrücke“ Liza Pflaum ergänzte, dass es mit „Moving Cities“ nun einen Ort gebe, an dem die zivilgesellschaftlichen Initiativen für eine andere Migrationspolitik sichtbar gemacht werden. Leider werde „auf europäischer Ebene aktiv Hilfe blockiert“. Dies sei politisch gewollt - und habe die Konsequenz, dass die Fluchtwege immer gefährlicher werden. Zehntausend Menschen seien beim Versuch, in Europa Schutz zu finden, bereits ums Leben gekommen. „Das Mittelmeer ist weiter die tödlichste Grenze der Welt.“ Es solle die Botschaft an Menschen auf der Flucht gesendet werden: „Versucht erst gar nicht, in die EU zu gelangen, hier erwartet euch ein Leben in katastrophalen Camps.“ Doch seit mehr als zwei Jahren zeige sich eine Gegenbewegung auf lokaler Ebene. „Kommunen gehen über ihre lokalen Aufgaben hinaus, weil sie sagen, wir haben eine Verantwortung, die Menschenrechte derer zu schützen, die schon bei uns leben, wie auch jener, die an den Außengrenzen festsitzen.“ Pflaum erklärte darüber hinaus, dass Kommunen auch viel besser in der Lage seien, korrekt einzuschätzen, welche Hilfe vor Ort geleistet werden könne, wie Menschen in Bildung und Arbeit eingebunden werden können und wie für sie kulturelle Teilhabe möglich wird.

Bonn als ein Beispiel integrativer Stadtpolitik

In ihrer Begrüßungsrede brachte Katja Dörner, seit November 2020 Oberbürgermeisterin von Bonn, das Beispiel ihrer Stadt mit Vorbildcharakter ein. Bonn habe seit Jahrzehnten Erfahrung mit Arbeitsmigration, sei deutscher Sitz der Vereinten Nationen und habe seit den 1980er-Jahren geflüchtete Menschen aufgenommen. Knapp ein Drittel der 330.000 Einwohner/innen der Stadt habe einen Zuwanderungshintergrund. In ihrer Stadtverwaltung gebe es seit 2008 eine Stabsstelle Integration, die sich um Konzepte und Projekte kümmert, aber auch Maßnahmen fördert, die von Migrant/innen selbst entwickelt werden. Dies habe für Rückhalt in der Gesellschaft gesorgt, weitere Menschen aufzunehmen. Bonn ist auch Mitglied im 2019 gegründeten Bündnis Städte sicherer Häfen, das sich für Seenotrettung im Mittelmeer einsetzt. Die Frauen im Bonner Stadtrat haben sich interfraktionell dafür stark gemacht, Frauen aus Afghanistan nach ihrer Ankunft beim Spracherwerb oder der Kinderbetreuung zu unterstützen.

Trotz des aktuellen Klimas können wir hoffnungsvoll sein, weil Städte ihre Stimme erheben, ihre Politik an Humanität orientieren und Verantwortung übernehmen.

Im Anschluss an die Diskussion konnten die Teilnehmer/innen in zwei parallel veranstalteten Workshops mit Expert/innen, Aktivist/innen und Akteur/innen aus der Zivilgesellschaft diskutieren und Beispiele für best practices u.a. aus dem Bereich Housing, Sprachkurse, Betreuung, Bildung sowie andere progressive Konzepte der „Welcoming Cities“ anhand konkreter Beispiele aus der griechischen Stadt Livadia und der niederländischen Stadt Utrecht kennenlernen.

In einem resümierenden Statement der Veranstaltung sagte Ana Lisa Boni, die Generalsekretärin des Netzwerks Eurocities, dass das Klima in der europäischen Debatte um Migrationspolitik von Blockade und Negativität geprägt sei. Die Menschenrechte von Geflüchteten würden missachtet. „Aber trotz dieses Klimas können wir hoffnungsvoll sein, weil Städte ihre Stimme erheben, ihre Politik an Humanität orientieren und Verantwortung übernehmen.“ Die Website „Moving Cities“ sei bei dieser Arbeit eine sehr wichtige und willkommene Unterstützung.

Die neue Plattform richtet sich dabei insbesondere an kommunale Mitarbeitende, Lokalpolitiker/innen sowie zivilgesellschaftlich Engagierte im Bereich solidarische Städte, die auf der Suche nach Anregungen, Inspirationen und Lösungen für Herausforderungen sind. Dabei ist „Moving Cities“ explizit als work-in-progress-Plattform konzipiert. Weitere Städte und Kommunen, die sich bereits zu einer „Willkommens-Stadt“ erklärt haben, sind aufgefordert, Teil der Plattform zu werden, sodass sie in den kommenden Monaten zu einem umfangreichen Kompendium für solidarische Kommunen in Europa heranwächst.

 

Hier geht es zur Website: www.moving-cities.eu

 

Das Video zum Launch von „Moving Cities“:

Moving Cities: Eine andere Migrationspolitik ist möglich - Rosa-Luxemburg-Stiftung

video-thumbnailDirekt auf YouTube ansehen

 

 

Autor/innen: Claudia Rothe unter Mitarbeit von Stefan Schaaf (Protokoll der Veranstaltung)