Pestizide: Vom Winde verweht

Atlas

Pestizide bleiben nicht immer dort, wo sie ausgebracht werden. Sie gehen buchstäblich in die Luft: Wind weht sie auf benachbarte Grundstücke oder trägt sie teilweise viele hundert Kilometer weit. In Zulassungs­verfahren spielt das kaum eine Rolle.

Messstationen für Pestizide in der Luft und Entfernung der nachgewiesenen Mittel zu ihrer mutmaßlichen Ausbringungsregion
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Untersuchung der Luftqualität an 163 Messstationen: An rund Dreiviertel wurden jeweils mindestens fünf und bis zu 34 Pestizidwirkstoffe und Abbauprodukte gefunden

Der Wind trägt Pestizide in Schutzgebiete, Parks und in die menschliche Lunge

Beim Ausbringen von Pestiziden mit der Feldspritze entsteht ein Sprühnebel, der vom Wind auf die benachbarten Flächen verweht werden kann. Dieses Phänomen nennt man Abdrift. Falsch eingestellte Düsen oder zu hohe Geschwindigkeit des Spritzfahrzeugs verstärken den Effekt. Pestizidwirkstoffe können aber auch deutlich größere Strecken zurücklegen, von einigen hundert Metern bis über 1000 Kilometer. Dies wird als „Ferntransport“ bezeichnet. Dabei steigen ausgebrachte Wirkstoffe durch Erwärmung des Bodens in die Luft auf, indem sie verdunsten oder mit feinsten Staubkörnchen, an denen sie haften, vom Wind aus der obersten Bodenschicht in die Höhe gewirbelt und fortgeweht werden. Die Luftströmungen verteilen diese kleinen Schwebeteilchen – sogenannte Aerosole – in alle Richtungen. Durch Abkühlung und Regen sinken sie wieder zu Boden. So gelangen Pestizide praktisch überall hin, in Naturschutzgebiete, in Stadtparks und in die menschliche Lunge.

Cover des Pestizidatlas 2022

Der Pestizidatlas 2022

Der Pestizidatlas zeigt in 19 Kapiteln Daten und Fakten rund um die bisherigen und aktuellsten Entwicklungen, Zusammenhänge und Folgen des weltweiten Pestizidhandels und Einsatzes von Pestiziden in der Landwirtschaft.

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Glyphosat ist fast überall

Die Erkenntnis, dass ein Ferntransport von Pestiziden stattfindet, ist nicht neu. Bereits im Jahr 1999 machte eine Studiensammlung darauf aufmerksam, dass sich europaweit 30 Pestizide zum Teil an Messpunkten weit abseits ihres Ausbringungsorts fanden. 2020 hat das Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft zusammen mit dem Umweltinstitut München eine Studie veröffentlicht, für die Pestizidbelastungen der Luft über mehrere Jahre untersucht wurden. An 163 Standorten in ganz Deutschland – darunter Schutzgebiete, Städte und biologisch bewirtschaftete Äcker – wurden Spuren von 138 Pestiziden nachgewiesen, die auf dem Luftweg an die Messstationen gelangt waren. 30 Prozent der gefundenen Stoffe sind in Deutschland nicht oder nicht mehr zugelassen, beispielsweise Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT), das zu den langlebigen, nur schwer abbaubaren organischen Verbindungen gehört. Seine Anwendung wurde bereits 1972 in der Bundesrepublik verboten. Die Forschenden fanden außerdem an drei Vierteln der Standorte Pestizidcocktails vor – Ansammlungen von 5 bis zu 34 Pestiziden sowie deren Abbaustoffe gleichzeitig. Glyphosat, das in Deutschland am häufigsten eingesetzte Herbizid, wurde an allen mit technischen Filtern ausgerüsteten Standorten nachgewiesen. Dies ist deshalb bedeutsam, weil Glyphosat – ein Salz – als nicht flüchtig gilt, weshalb die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA die Möglichkeit eines Glyphosat-Ferntransports bisher ausgeschlossen hat. Eine andere Studie aus dem Jahr 2020 untersuchte die Pestizidkonzentration in der Luft an 50 Standorten in ganz Frankreich über einen Zeitraum von zwölf Monaten. Auch dabei wurde Glyphosat an 80 Prozent der untersuchten Standorte nachgewiesen – ein weiterer Beleg für den Ferntransport des Pestizids durch die Luft.

Pestizidatlas Infografik: Nachgewiesene Pestizidspuren auf Spielplätzen, Schulhöfen und öffentlichen Plätzen
Bei der Untersuchung von Grasproben auf Pestizidrückstände hat ein internationales Forschungsteam auch Spuren von als „vermutlich krebserregend“ eingestuften Stoffen gefunden

Dass Ferntransport und Abdrift weltweit vorkommen, zeigen weitere aktuelle Studien, zum Beispiel aus Chile oder Südtirol. In Südtirol beispielsweise wurden Grasproben von Spielplätzen und Schulhöfen untersucht. In 96 Prozent der Proben wurde ein Pestizid oder ein ganzer Pestizid-Cocktail nachgewiesen. Darunter befanden sich überwiegend hormonaktive Stoffe, die bereits in geringen Dosen die Gesundheit von Menschen und Tieren beeinträchtigen können.

Für ökologisch wirtschaftende Betriebe sind Abdrift und Ferntransport von Pestiziden besonders problematisch, denn bei einer Kontamination durch die Luft verlieren die Produkte den Bio-Status. Auf dem finanziellen Schaden bleiben die Betriebe in der Regel sitzen, da der Verursacher der Kontamination so gut wie nie festgestellt werden kann.

Pestizidatlas Infografik: Abdrift und Ferntransport von Pestiziden
Ökologisch wirtschaftende Höfe und Betriebe, die auf Pestizide verzichten, sind durch flüchtige Substanzen in Bedrängnis – der Wind kann sie auf Öko-Felder wehen und die Ernte ruinieren

Forderungen nach Pestizid-Monitoring

Im Rahmen von Wirkstoffgenehmigungen und Produktzulassungen findet das Phänomen bislang wenig Beachtung. Die Gefahr eines möglichen Ferntransports wird lediglich theoretisch abgeschätzt. Eine Überprüfung der Belastung in der Praxis findet hingegen nicht statt. Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern daher, dass die EFSA ein systematisches Monitoring zum Ferntransport von Pestiziden zur Pflichtaufgabe macht. Nur so kann sie als Genehmigungsbehörde zukünftig Pestizidwirkstoffe realistisch daraufhin beurteilen, ob sie sich weiträumig über die Luft verteilen.

Ein staatliches Pestizid-Monitoring der Luft gibt es momentan lediglich in Schweden. Für die Einschätzung möglicher Gesundheitsgefahren durch permanentes Einatmen geringster Dosen einer ständig wechselnden Mischung aus zum Teil hochgiftigen Pestiziden fehlen also die nötigen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die als unbedenklich eingestuften Mengen von Wirkstoffen, die Menschen pro Tag ohne gesundheitliche Schäden zu sich nehmen könnten, gelten nur für die Aufnahme über den Verdauungstrakt sowie jeweils nur für einen einzelnen Wirkstoff. Der Stoffwechsel über die Atemwege ist jedoch ein anderer – und auch die gesundheitlichen Auswirkungen von Pestizid-Cocktails, die über die Lunge in den menschlichen Körper gelangen, sind noch weitgehend unbekannt.