Corona-Pandemie, Impfstoffverteilung und globale Gerechtigkeit

Analyse

Wir erleben zwei sehr verschiedene Pandemierealitäten zwischen Ländern mit niedrigem und hohem Einkommen. Anstatt sich um eine solidarische Antwort zu bemühen, hat die internationale Gemeinschaft in dieser Gesundheitskrise leider wieder einmal ihre Uneinigkeit demonstriert. Nun gilt es, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen und Vertrauen wiederaufzubauen.

Ungleiche Impfstoffverteilung

(…) Es herrscht ein Gefühl von Traurigkeit und Frustration über ein System, das die Menschheit im Stich lässt, und über die politischen Führer, die nicht in der Lage zu sein scheinen, das Offensichtliche zu erkennen.
- Ayoade Alakija

Wie wahr diese Feststellung der nigerianischen Sondergesandten bei der WHO zum weltweiten Umgang mit der Covid-19-Pandemie ist! Denn trotz historisch einmalig schneller Impfstoffentwicklung und einer globalen Impfkampagne haben wir die globale Gesundheitskrise überhaupt nicht im Griff. Es gibt keine wirklich solidarische Antwort auf die Pandemie, nicht bei der Impfstoffverteilung und nicht bei der ökonomischen Lastenteilung. Die sozioökonomischen Folgen der Lockdowns und der Pandemiebekämpfung treffen vor allem die ärmeren Bevölkerungsschichten überall auf der Welt und erst recht im globalen Süden. Dadurch wird die Schere zwischen arm und reich weltweit vergrößert.

Wir erleben zwei sehr verschiedene Pandemierealitäten zwischen Ländern mit niedrigem und hohem Einkommen: Industrieländer wie das Vereinigte Königreich, Deutschland, die USA und Israel verabreichen ihrer Bevölkerung die dritte und vierte Dosis. Auch in vielen Schwellenländern, insbesondere Lateinamerikas, ist die Impfquote sehr hoch.

In der anderen Realität sehen wir, dass viele Länder ihre Bevölkerung noch nicht einmal mit der ersten Dosis geimpft haben. Im Januar 2022 waren nur 5 Prozent der Bevölkerung der Länder mit niedrigem Einkommen (low-income countries) vollständig geimpft, nur 11 haben mindestens eine Dosis eines Impfstoffs erhalten. Im Jemen, wo seit Jahren ein Bürgerkrieg tobt, sind bisher weniger als zwei Prozent der Bevölkerung vollständig gegen Corona geimpft worden, im von Naturkatastrophen und sozialpolitischen Missständen geplagten Haiti nicht mal ein Prozent.

Insbesondere auf dem afrikanischen Kontinent kommen die Impfungen – mit Ausnahmen von Ländern wie Südafrika – nur stockend voran: 10 Prozent der 1,3 Milliarden Menschen in Afrika sind vollständig geimpft. In Senegal beträgt die Impfquote beispielsweise 6 Prozent, in Burkina Faso knapp 4 Prozent und der Demokratischen Republik Kongo nur 0,2 Prozent. Jeden Tag werden weltweit sechsmal mehr Auffrischungsimpfungen verabreicht als Erstdosen in Ländern mit niedrigem Einkommen.

Angesichts der großen Kluft in der Impfstoffverteilung zwischen den afrikanischen und den EU-Ländern haben Ansehen und Glaubwürdigkeit der EU Schaden genommen. Ghanas Präsident Nana Akufo-Addo warnte die EU-Gesetzgeber*innen Mitte Dezember 2021, dass Impfstoffnationalismus und das Horten von Impfstoffen für Auffrischungsimpfungen die Impfanstrengungen in Afrika behindern könnten.

Auch UN-Generalsekretär António Guterres spricht die globale Ungerechtigkeit bei der Impfstoffverteilung seit dem Pandemie-Ausbruch vor zwei Jahren immer wieder an. Er kritisiert zu Recht, dass die Impfraten in Ländern mit hohem Einkommen "beschämenderweise" siebenmal höher sind als in afrikanischen Ländern.

Das ist fahrlässig und verantwortungslos, denn von einer globalen Herdenimmunität sind wir weit entfernt: nur knapp über 50 Prozent der Menschen weltweit sind vollständig geimpft.

Globale Ungleichheit wächst in der Pandemie

Je länger die globale Immunisierungskampagne dauert und sich die Pandemie in die Länge zieht, desto schwerwiegender sind die globalen sozioökonomischen Konsequenzen.

Wie groß die sozioökonomischen Folgen der Pandemie und die Maßnahmen ihrer Bekämpfung sind, legen die jüngsten Berichte zum Beispiel von Oxfam und der Weltbank offen.  Arme oder armutsgefährdete Menschen sind besonders hart getroffen. Über 160 Millionen Menschen sind durch die Pandemie weltweit in Armut getrieben worden. Die Zahl wird steigen: Bis 2030 könnten weitere 207 Millionen Menschen extremer Armut leben, so UNDP. Menschen mit geringerer Bildung, geringerem Vermögen, Menschen, die in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen arbeiten und ganze Bevölkerungsgruppen, die keinen Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen haben, spüren die Auswirkungen besonders. Für sie alle könnte die ökonomische Erholung von der Pandemie länger als ein Jahrzehnt dauern.

Frauen sind viel stärker als Männer von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie betroffen. Laut der Internationalen Arbeitsagentur hat die Beschäftigung von Männern 2021 wieder das Niveau von 2019 erreicht, während 13 Millionen Frauen weniger erwerbstätig sind als vor zwei Jahren. Die erschreckende sozioökonomische Ungleichheit und eine in praktisch allen Lebensbereichen zu beobachtende Auflösung des globalen Gerechtigkeitsversprechens sind leider zentrale Merkmale dieser globalen Gesundheitskrise.

Der Internationale Währungsfonds (IWF) bekräftigt seit Anbeginn der Pandemie, wie wichtig es ist, global zu handeln und zu impfen, wenn die globale wirtschaftliche Erholung nicht blockiert werden soll. Sollte sich COVID-19 längerfristig auswirken, könnten die weltweiten BIP-Verluste innerhalb von fünf Jahren auf 5,3 Billionen US-Dollar ansteigen und mehrere Millionen Menschenleben fordern. Das bedeute, so die IWF-Expert*innen, dass 70 Prozent der Bevölkerung weltweit bis Mitte 2022 geimpft werden müssten.

Deshalb müssen alle notwendigen Schritte diskutiert und die bestehenden Barrieren weggeräumt werden, wenn die Bekämpfung der Pandemie - notwendigerweise im globalen Maßstab - doch noch gelingen soll.

Ungleiche Verteilung von Impfstoffen überwinden

Die Verfügbarkeit von Impfstoffen ist eigentlich gegeben. Der Zugang zu ihnen ist aus mehreren Gründen - hohe Preise, mangelnde Infrastruktur und Aufklärung sowie Impfskepsis - jedoch erschwert und ungleich.

Die hohen und überhöhten Preise für Impfstoffe sind von Anfang an eine große Barriere und verhindern so eine gerechte globale Impfstoffverteilung.

Die Financial Times schrieb im August, dass eine Impfstoffdosis von Pfizer/Biontech der EU 19,50 Euro koste und Moderna für eine Impfstoffdosis inzwischen 25,50 US-Dollar (21,60 Euro) verlange. Die britischen Forscher*innen der Imperial College London kamen aber in einer Studie zum Ergebnis, dass eine Dosis der mRNA-Impfstoffe in Massenproduktion für nur 1,18 bis 2,85 US-Dollar hergestellt werden kann. Die Petition „No Profit on Pandemic“-eine europäischen Bürgerinitiative - fordert deshalb eine Offenlegung der Verträge mit den Impfstoffherstellern. Preise runter:  dies müsste Politik durchsetzen helfen, schließlich wurden die Impfstoffe mit milliardenschweren öffentlichen Mittel gefördert, ohne dass dies zu politischen Absprachen bei der Preisgestaltung geführt hätte.

COVAX ist unzureichend

Um nicht nur die zahlungskräftigen, sondern alle Länder mit Impfstoffen zu versorgen, wurde im April 2020 Die Plattform COVID-19 Vaccines Global Access (COVAX) gegründet. Ihre Aufgabe ist die Entwicklung und Herstellung von COVID-19-Impfstoffen zu unterstützen und deren Preise auszuhandeln. Der Chef der Impfallianz Gavi Seth Berkley hat verkündet, mit einer Lieferung nach Ruanda Mitte Januar habe COVAX bereits insgesamt eine Milliarde Impfdosen ausgeliefert. Das sei ein Meilenstein in der größten und schnellsten globalen Impfstoffverteilung der Geschichte, von der 144 Länder profitiert hätten.

Doch zum einen sei das immer noch zu wenig und komme zu spät, kritisierte die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Maike Finnern in ihrem Brief an vier deutsche Bundeminister*innen vom 6. Januar. Von 1,8 Milliarden Impfstoffspenden, die von der EU, Norwegen, Schweiz und den G7-Staaten zugesagt wurden, seien bis jetzt nur 261 Millionen Dosen geliefert worden.

Zum anderen werden viel zu häufig Impfstoffe mit bald endendem Verfallsdatum gespendet. Ende Dezember hat Nigeria deswegen mehr als eine Million abgelaufener AstraZeneca-Impfdosen vernichten müssen. Das ist nicht nur zynisch, sondern befeuert Impfskepsis und unterminiert die Glaubwürdigkeit der Industrieländer noch mehr.

Produktionskapazitäten im Globalen Süden unterstützen

Die schnelle Abgabe von Impfstoffen ist eine gute Überbrückungsmaßnahme, ist aber weder zuverlässig noch nachhaltig. Vielmehr sollten die Länder im Globalen Süden beim Aufbau eigener Produktionskapazitäten für Impfstoffe, Tests und Medikamente gegen das Virus unterstützt werden.  Es geht dabei vor allem auch darum, sich für künftige Pandemien die Prävention von Infektionskrankheiten insgesamt viel besser zu wappnen.

Zentral ist der Aufbau der lokalen Impfstoffproduktion. Im Oktober 2021 unterzeichneten Ruanda und Senegal eine Vereinbarung mit BioNTech über die Errichtung von Produktionsanlagen für mRNA-Impfstoffe in Lizenz. Auch Moderna kündigte Pläne für den Bau einer Produktionsanlage für mRNA-Therapeutika und Impfstoffe auf dem afrikanischen Kontinent an. Doch wo und wann genau der Produktionsaufbau startet ist noch nicht bekannt.

Patente temporär freigeben

Seit weit über einem Jahr liegt der WTO der Vorschlag Indiens und Südafrikas vor, in der akuten Pandemie zumindest temporär den Patenschutz für Impfstoffe auszusetzen, um so die Kapazitäten bei der Produktion auszuweiten. Über hundert WTO-Mitgliederländer haben ihn bislang unterstützt. Die USA signalisierten im Mai 2021 ihre Zustimmung, bei einem virtuellen WTO-Treffen im Dezember sollen sie jedoch erklärt haben, einer nur auf Impfstoffe bezogenen Ausnahmeregelung zuzustimmen. Die genauso dringend notwendigen Medikamente, Diagnostika und medizinische Geräte blieben damit von dieser Regelung ausgeschlossen.

Entgegen der Forderungen des EU-Parlaments lehnen die EU und die neue deutsche Entwicklungsministerin Svenja Schulze eine vorübergehende Freigabe der Patente nach wie vor komplett ab. Stattdessen setzt sie auf Unternehmenspartnerschaften für die Produktion der mRNA-Impfstoffe in Lizenz. Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck hat offensichtlich  eine Kehrtwende grüner Positionen vollzogen und sagte bei einer Pressekonferenz Ende Januar, eine temporäre Aufhebung der Patente würde nichts bringen. Er plädiert für eine Verabredung mit den produzierenden Unternehmen, Impfstoffe an die ärmeren Länder zum Selbstkostenpreis abzugeben.

Das Plädoyer der alten und neuen Bundesregierung für Impfstofflieferungen, Lizenzvergaben und Unternehmenspartnerschaften zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ist bekannt. Für Länder des globalen Südens besteht damit die Abhängigkeit von westlichen Pharmakonzernen, ihrer Kontrolle und ihren Preisdiktaten unverändert weiter.

Kritiker*innen der Patentfreigabe wenden ein, dass die Herstellung der neuen Impfstoffe viel zu aufwändig sei und ihre Produktion in den Entwicklungs- und Schwellenländer, zumindest kurzfristig, unrealistisch. Dieses Argument ist nicht stichhaltig. Das südafrikanische Biotechnologieunternehmen Afrigen Biologics and Vaccines arbeitet aktuell daran, Afrikas ersten eigenen Corona-Impfstoff zu entwickeln, der die mRNA-Technologie imitiert und nicht patentiert werden soll. Und nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) sind in Asien, Afrika und Lateinamerika mehr als 120 Pharmafirmen in der Lage, einen mRNA-Impfstoff zu produzieren, wenn ihnen die entsprechende Technologie der Pharmakonzerne in Deutschland und den USA zur Verfügung gestellt wird.

Anfang März 2022 soll auf der Ministerkonferenz der WTO erneut über den TRIPS-Waiver beraten werden. Es ist höchste Zeit, dass die EU und Großbritannien damit aufhören, die Waiver-Verhandlungen zu blockieren und sich gegen eine Mehrheit der WTO-Staaten, gegen die Meinung der Fachleute und gegen immer lauter werdende Stimmen aus der Zivilgesellschaft und Wirtschaft zu stellen: internationaler Druck kam bisher von Krankenpflege-Gewerkschaften und den Nobelpreisträger*innen, ebenso wie von mehr als 20 olympischen und paraolympischen Sportler*innen und 65 Großinvestor*innen, die ein Vermögen von mehr als 3,5 Billionen Dollar verwalten. In seinem Brief an eine Gruppe der nicht-exekutiven Präsident*innen der EU-Länder forderte Anfang Januar 2022 auch Irlands Präsident Michael D. Higgins zur Unterstützung des TRIPS-Abkommen auf.

Immerhin hat das Pharmaunternehmen Merck letztes Jahr eine freiwillige Lizenzvereinbarung mit dem von den Vereinten Nationen unterstützten Medicines Patent Pool (MPP) angekündigt. Damit hat Merck an MPP die Erlaubnis erteilt, Unterlizenzen für das neue orale COVID-19-Therapeutikum Molnupiravir an Hersteller in anderen Ländern zu vergeben. Inzwischen ist bekannt, das MPP mit mehr als zwei Dutzend Generikaherstellern in 11 Ländern, darunter Bangladesch, Vietnam und Südafrika, Vereinbarungen über die Herstellung von Versionen der COVID-19-Pille von Merck zur Versorgung von 105 Entwicklungsländern unterzeichnet hat. Damit könnte das Medikament in den ärmsten Ländern, in denen Impfstoffe gegen das Coronavirus knapp sind, kostengünstig hergestellt und verkauft werden, um so die schlimmsten Folgen für die Bevölkerung abzumildern.

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen kritisierte allerdings im Oktober, dass die Lizenz wichtige Länder wie Brasilien von ihrem Geltungsbereich ausschließt und einige einschränkende Klauseln enthält. Positiv ist, dass aus dem Verkauf von Molnupiravir durch die Generikahersteller weder Merck noch Ridgeback Biotherapeutics oder die Emory University, die das Medikament erfunden hat, Lizenzgebühren erhalten sollen, solange COVID-19 ein globaler Gesundheitsnotstand ist. Bislang hat kein einziger Hersteller von Coronavirus-Impfstoffen einer ähnlichen Vereinbarung zugestimmt.

Infrastruktur im Gesundheitswesen

Längst hat die Pandemie in allen Ländern der Welt die Schwächen der jeweiligen Gesundheitssysteme offengelegt. Der Beitrag von Medico International zeigt auf, wie die zunehmende globale Kommerzialisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens zu massiven Schwächen des Gesundheitssystem beigetragen hat. Wichtiger denn je ist, welche Lehren daraus gezogen werden.

Vor allem das Stadt-Land-Gefälle bei der Gesundheitsversorgung sticht ins Auge. "Wir werden keine Engpässe bei den Impfstoffen mehr haben, aber unser Hauptaugenmerk liegt jetzt darauf, diese Impfstoffe in alle Ecken des Landes zu bringen, auch in die abgelegenen Bergregionen“ – sagte der nepalesische Gesundheitsminister.

Um die Mängel in der Infrastruktur auszugleichen, hat die Pandemie eine stattliche Zahl kreativer Ansätze hervorgebracht. In Ghana und Rwanda beispielsweise werden Drohnen eingesetzt, um weit entfernte Gemeinden zu erreichen. In Kenia hat die junge Ingenieurin Norah Magero einen solarbetriebenen Kühlschrank, die Vaccibox, erfunden. Auf einem Fahrrad, Motorrad oder kleinen Boot können darin Impfstoffe in ländliche Gebiete, die kein Stromnetz haben, transportiert werden. 70 Prozent der Menschen in Kenia leben auf dem Land.

Afrikanische Staaten haben mit einer Reihe weiterer logistischer Herausforderungen zu kämpfen. Laut WHO fehlen dem Kontinent 1,3 Milliarden US-Dollar für Betriebskosten, einschließlich der Kosten für die Kühlkettenlogistik, Software für die Datenerfassung. Es mangelt auch an Impfspritzen und Gefrierschränken, Schulung und Bezahlung von Impf- und Hilfspersonal.

Die aktuelle Pandemie hat erneut offengelegt, wie schlecht es um die Gesundheitsinfrastruktur gerade in afrikanischen Ländern bestellt ist. Im Global Health Security Index (GHSI) von 2019 fallen die Länder Subsahara-Afrikas in die Kategorie der am wenigsten auf eine Pandemie vorbereiteten Länder.

Ist schon in den wohlhabenden Ländern Personalmangel im Gesundheitssektor ein großes Problem, so fehlen in ärmeren Ländern im Vergleich und gemessen an der Bevölkerungszahl im Durchschnitt fast 10 Mal so viele Krankenpfleger*innen. Hinzu kommt  dass manche Industrieländer, darunter auch Deutschland, Gesundheitspersonal aus dem Globalen Süden, z.B. aus Mexiko, Indien, Afrika südlich der Sahara, und aus Teilen der Karibik, rekrutieren und dort weitere Lücken bei Fachpersonal reißen.

Neben dem Gesundheitspersonalmangel teilen die Industrie- und Entwicklungsländer ein weiteres gemeinsames Problem, das die Impfkampagnen behindert: die Impfskepsis. "Es besteht kein Zweifel, dass das Zögern bei der Verabreichung von Impfstoffen ein Faktor ist", bestätigte auch Dr. Matshidiso Moeti, der Afrika-Direktor der Weltgesundheitsorganisation. Ähnlich wie in Deutschland, stößt beispielsweise  in Indien das Gesundheitspersonal auf teilweise erbitterten Widerstand von Menschen, die glauben, dass Impfstoffe schwere Nebenwirkungen und sogar Tod verursachen.

Es braucht neben Infrastruktur und Personal deshalb auch viel mehr Aufklärung. "In einkommensschwache Länder wurde so gut wie gar nicht in die Aufklärung oder Werbung für Impfstoffe investiert. Warum erwarten wir, dass wir einfach nur Impfstoffe an einem Flughafen abwerfen und einen Fototermin machen müssen, damit die Leute zum Flughafen rennen und sich den Impfstoff holen?“, so Dr. Omer, Epidemiologe an der Yale University.

Internationale Zusammenarbeit: Glaubwürdigkeit ist verspielt worden

Anstatt sich um eine solidarische Antwort zu bemühen, hat die internationale Gemeinschaft in dieser Gesundheitskrise leider wieder einmal ihre Uneinigkeit demonstriert. Die meisten Staaten haben sich vor allem um sich gekümmert.

Was wir zudem immer noch erleben, ist ein Wettkampf, wer wie schnell Impfstoffe liefert. Es ist auch ein Wettlauf um politische Einflusssphären zwischen Europa, USA, China oder Russland. China und Russland haben die Länder des Globalen Südens im großen Stil mit ihren Impfstoffen versorgt, Russland überwiegend in Lateinamerika (darunter Argentinien, Mexiko, Venezuela, Nicaragua, Guatemala) und teilweise in Afrika (Algerien, Namibia). China belieferte im großen Stil seine Nachbarländer, wie Afghanistan, Bangladesch, Nepal, Pakistan und Sri Lanka, die meisten Länder Lateinamerikas und bereits fünfzig Länder in Afrika mit seinen Impfstoffen. Zuletzt lieferte die chinesische Regierung Ende Dezember 2021 die zweite Impfstoffspende an Nicaragua, nachdem das zentralamerikanische Land die Beziehungen zu dem asiatischen Riesen wieder aufgenommen und die Beziehungen zu Taiwan abgebrochen hatte.

Für die Pharmafirmen der Industrieländer geht es vor allem um die Sicherung ihrer Märkte und satten Gewinne, die sie durch die Preisgestaltung und Nichtfreigabe der Patente sichern.

Somit werden Impfstoffe nach wie vor im eigenen geopolitischen und geoökonomischen Interesse eingesetzt, um langfristige politische Abhängigkeitsverhältnisse zu etablieren vor allem bei Ländern, die selbst keine Impfstoffe produzieren oder diese nicht zu Marktpreisen erwerben können.

Viel Glaubwürdigkeit ging zudem verloren als Südafrika frühzeitig die Entdeckung der Omikron-Variante angezeigt hat. Afrikanische Staats- und Regierungschefs wehrten sich gegen die Reiseverbote, die wegen der Omikron-Variante gegen mehrere afrikanische Staaten verhängt wurden. Auf Social Media wurden wohlhabende Länder kritisiert, Heuchler zu sein, weil sie neue Beschränkungen erlassen, anstatt Impfdosen zu liefern.

Diese Wahrnehmung untergräbt den erklärten Willen der EU, auf dem gemeinsamen Gipfel mit der Afrikanischen Union im Februar die Zusammenarbeit mit Afrika neu zu gestalten.

Vertrauen wiederaufbauen, gerechte Lösungen für alle schaffen

Glaubwürdigkeit zurückgewinnen und Vertrauen wiederaufbauen, das ist in kurzfristiger Perspektive vor allem auch mit der temporären Freigabe von Patenten für Impfstoffe und Medikamente möglich.

In der Zeitschrift „The Lancet“ gelangen die Autor*innen zur Erkenntnis, dass die Gewährleistung eines gerechten Zugangs zu Impfstoffen auch ein wirksames Mittel gegen die Impfskepsis sein kann. Sie erinnern daran, dass die Einführung der Ebola-Impfstoffe in Westafrika gezeigt habe, dass die physische Präsenz des Impfstoffs das Engagement der nationalen politischen Führung fördere, das bis in die lokalen Gemeinschaften hineinreiche.

Es ist erfreulich, dass die EU und die Bundesregierung aktiv Impfstoffe abgeben, darunter auch an COVAX. Deutschland gilt nun als weltweit zweitgrößter Spender von Impfstoffen. Es müssen aber die logistischen Rahmenbedingungen in den Ländern des Globalen Südens berücksichtigt werden und möglichweise längere Lieferzeiten innerhalb dieser Länder.

Diese Maßnahmen müssen auf Diagnostika und Medikamente ausgeweitet und gepaart werden mit Unterstützung beim Aufbau nachhaltiger Gesundheitsinfrastrukturen im Globalen Süden.

Mittel- und langfristig müssen wir strukturelle Fragen der globalen Gesundheit und globalen (Un)Gerechtigkeit adressieren, damit auch die ganze Welt und nicht nur ein kleiner Teil von ihr auf die zukünftigen Herausforderungen besser vorbereitet ist. Laut UN-Generalsekretär kann das gewährleistet werden, indem in jedem Land in Überwachung, Früherkennung und schnelle Reaktionspläne investiert sowie die Handlungsfähigkeit der WHO gestärkt wird.

Das mag nach einer äußerst umfangreichen und kaum zu bewältigenden Aufgabe klingen, doch nach der Meinung der WHO-Sonderbeauftragten Dr. Ayoade Alakija ist alles machbar „wenn ein Leben in Mumbai genauso wichtig ist wie ein Leben in Brüssel, wenn ein Leben in Sao Paulo genauso wichtig ist wie ein Leben in Genf und wenn ein Leben in Harare genauso wichtig ist wie ein Leben in Washington DC".

 

* Ich danke Dr. Alexandra Sitenko für ihre Mitarbeit an dem Artikel