Pflege: Angehörige und Fachkräfte stärken

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80 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt. Aber die Zahl der Heimplätze und ambulanten Versorger nimmt zu – und damit auch der Bedarf an Pflegepersonal. Ermöglichen muss die Gesellschaft beide Modelle.

Sozialatlas Infografik: Vier von fünf Pflegebedürftigen werden in den eigenen vier Wänden versorgt, jede zweite Person allein durch Angehörige
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Pflegekassen müssen für Menschen, die Angehörige pflegen oder sich ehrenamtlich um sie kümmern, unentgeltlich Schulungskurse anbieten.

Die Zahl der Pflegebedürftigen steigt stetig. Zum einen leben die Menschen länger, zum anderen verschiebt sich aufgrund des Geburtenrückgangs seit den 1970er-Jahren auch die Altersverteilung der Bevölkerung zugunsten der Älteren. Das führt dazu, dass nicht nur der Pflegebedarf wächst, sondern auch die Nachfrage nach qualifizierten Kräften, die die zumeist Hochbetagten versorgen. Außerdem wird nach Modellen gesucht, Familien zu unterstützen.

Cover Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022

Der Sozialatlas 2022 bringt Übersicht in die Komplexität des Sozialsystems, zeigt seine Grundlagen und Perspektiven. So wird sichtbar, dass der soziale Zusammenhalt auf einer Kooperation von Gesellschaft, Staat und Wirtschaft beruht – und seine Zukunft nur gemeinsam gestaltet werden kann.

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Gepflegt wird überwiegend zu Hause

Vier von fünf der 4,1 Millionen Pflegebedürftigen leben in den eigenen vier Wänden und werden meist von ihren Angehörigen versorgt. Knapp eine Million nimmt ambulante Dienste in Anspruch. Ein Fünftel aller auf Unterstützung angewiesenen Menschen lebt in einem Pflegeheim. Finanziert wird das über die gesetzliche Pflegeversicherung sowie aus den Einkommen und Rücklagen der Pflegebedürftigen.

Da Pflege in der Hauptsache Familiensache ist, hat der Gesetzgeber Regelungen getroffen, die dem Rechnung tragen sollen. Wenn Angehörige plötzlich pflegebedürftig werden, haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer deshalb Anspruch auf ein Pflegeunterstützungsgeld als Lohnersatzleistung für bis zu zehn Arbeitstage. Zudem existiert ein Anspruch auf Familienpflegezeit – eine teilweise Freistellung von bis zu 24 Monaten. Für Pflegende, die dafür aus dem Beruf aussteigen, bezahlt die Pflegeversicherung die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.

Socialatlas Infografik: Die demografische Struktur verändert sich stark. Immer mehr Menschen werden älter als 80 Jahre, das bringt einen wachsenden Pflegebedarf mit sich
Der Personalbedarf wird auf 307.000 zusätzliche Fachkräfte bis zum Jahr 2035 geschätzt.

Erheblicher Mangel an Pflegekräften

Doch immer weniger Familienangehörige werden einspringen können: Frauen, denen die unbezahlte Sorgearbeit lange traditionell zufiel, gehen längst einer Erwerbstätigkeit nach. Familien sind der Arbeit wegen weggezogen und leben weit entfernt von ihren alternden Eltern. Daher wird der Bedarf nach ambulanter und stationärer Pflege durch Profis und Hilfskräfte weiter wachsen. Derzeit arbeiten rund 600.000 ­Beschäftigte, mehrheitlich Frauen, unmittelbar in der Heimpflege, davon ist fast die Hälfte 50 Jahre und älter. In Prognosen wird von einer Personallücke von 307.000 Arbeitskräften bis zum Jahr 2035 ausgegangen. Kompensiert wird der Mangel an einheimischen Pflegerinnen im häuslichen Bereich durch Kräfte aus dem Ausland, die in der Regel jedoch weniger Geld erhalten als das Fachpersonal. Die Frauen kommen im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus osteuropäischen EU-Ländern, wie Polen, Tschechien oder Rumänien.

Die Situation dieser 24-Stunden-Beschäftigten, auch „Live-ins“ genannt, ist oft eine prekäre: Schätzungen gehen davon aus, dass mindestens 400.000 Arbeitskräfte nach Deutschland ein- und auspendeln, meist für jeweils zwei- bis dreimonatige Einsätze. Immerhin hat das Bundesarbeitsgericht im Juni 2021 entschieden, dass den Pflegerinnen auch für ihre Bereitschaftszeiten, also etwa wenn sie ruhen, ein Mindestlohn zusteht.

Pflegeberufe müssen attraktiver werden

Seit 1995 übernimmt die gesetzliche Pflegeversicherung einen Teil der Pflegekosten. Seit 2017 gelten fünf Pflegegrade, über die körperliche, kognitive und psychische Einschränkungen eingestuft werden. Die Pflegekasse bewilligt je nach Grad bis zu einer jeweiligen Obergrenze unter anderem Pflegegeld, Sachleistungen oder Leistungen für die Heimunterbringung.

Die durchschnittlichen Kosten für einen Heimplatz belaufen sich derzeit auf 3.500 Euro, davon mussten die Pflegebedürftigen 2021 einen Anteil von bis zu 2.125 Euro übernehmen. Können sie oder ihre Angehörigen dies nicht aufbringen, übernimmt das Sozialamt die Kosten, im Jahr 2019 waren das insgesamt 4,33 Milliarden Euro.

Um den Pflegeberuf attraktiver zu machen, hat die Bundesregierung Qualifizierungsoffensiven gestartet. Der Verdienst ist eine weitere Stellschraube. Momentan verdient eine examinierte Altenpflegerin knapp 3.300 Euro brutto, un- oder angelernte Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter erhalten zwischen 2.200 und 2.500 Euro. Ein guter Anreiz wäre ein bundesweiter Flächentarifvertrag, der bisher nicht durchgesetzt werden konnte. Überlegenswert sind zudem Forderungen, künftig alle Einkommen und Vermögen zur Finanzierung der Pflegeversicherung heranzuziehen.