„Selbstbestimmt – Für reproduktive Rechte“

Nachwort

Dieses Buch stellt die immerwährenden reproduktiven Fragen: Wer darf gebären und wer nicht, wem wird Fortpflanzung mit allen reproduktionstechnischen Mitteln gewährt und wer wird ausgeschlossen? Der Zugang zu reproduktiver Selbstbestimmung ist ein Gradmesser der Demokratie.

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Barbara Unmüßig, Stiftungs-Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Selbstbestimmt, frei und ohne Bevormundung leben, das war das politische und gesellschaftliche Kernanliegen der zweiten Frauenbewegung in den 1960er und 1970er Jahren. Mein Bauch gehört mir, die Forderung nach dem Recht auf Abtreibung war ein Kristallisationspunkt der feministischen Kämpfe.

Die globalen Kämpfe für reproduktive Selbstbestimmung haben nie aufgehört, und sie werden gerade immer lauter. In Argentinien, in Polen, in Thailand oder in den USA: überall organisiert sich feministischer Widerstand gegen die Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, gegen moralisierte Vorstellungen von Sexualität und Familie und gegen eine selektive Bevölkerungspolitik. Und hier und da sind diese Kämpfe von Erfolg gekrönt wie beispielsweise in Argentinien. Dort gelang das scheinbar Unmögliche: Schwangerschaftsabbrüche bis zur 14. Woche wurden legalisiert. Die sogenannte grüne Welle („marea verde“ – Symbol der Bewegung ist das grüne Halstuch) schwappt inzwischen nach Chile und Mexiko über, teilweise sogar bis über den Atlantik.

Selbstbestimmung über den eigenen Körper und reproduktive Gesundheit und Rechte für alle – das sind Ziele, für die Feminist*innen weltweit kämpfen. Sie sind ein Menschenrecht, das trotz internationaler verbindlicher Vereinbarungen längst nicht umgesetzt und für alle einlösbar ist – auch nicht in Europa, auch nicht in Deutschland. Seit 2003 hat sich beispielsweise die Anzahl der Praxen und Kliniken, die einen Abbruch vornehmen, hierzulande halbiert. Der Koalitionsvertrag aus dem Herbst 2021 zeigt vielversprechende

Schritte für mehr reproduktive Rechte auf und wenigstens § 219 soll abgeschafft werden.

Gesine Agena, Patricia Hecht und Dinah Riese zeigen, wie bei Schwangerschaftsabbruch, Verhütung, Geburt, Reproduktionsmedizin und in der Bevölkerungspolitik heute politische, juristische, soziale und kulturelle Kontexte zusammenwirken.

Selbstbestimmung über den eigenen Körper und reproduktive Gesundheit und Rechte für alle – das sind Ziele, für die Feminist*innen weltweit kämpfen

Politische, ökonomische und soziale Machtkontexte sind omnipräsent und entscheiden oft über Leben und Tod. 47 000 ungewollt Schwangere sterben jährlich an den Folgen einer nicht fachgerecht durchgeführten Abtreibung (die Dunkelziffer liegt zweifelsohne höher). Beim Zugang zu Verhütungsmitteln zum Beispiel werden die sozialen Faktoren überdeutlich. 190 Millionen Menschen weltweit bräuchten mehr Verhütungsmittel. Viele Menschen können sie sich schlicht nicht leisten, weil sie arm sind. Und was viele Länder verbindet: Verhütung bleibt Frauensache. Nur 27 Prozent der Kontrazeptiva erfordern die direkte Partizipation von cis Männern. Bei der Forschung zu Verhütungsmitteln für sie gibt es kaum Fortschritte. Was vielfach unbekannt und ein weiteres tabuisiertes Thema ist: Dreißig bis fünfzig Prozent der Gebärenden schildern, dass sie verbale oder körperliche Gewalt erleben. Die Ökonomisierung der Geburtshilfe und paternalistische Kulturen im Gesundheitssystem führen dazu, dass Geburten potenziell traumatisierend für Gebärende sein können. Eine selbstbestimmte Geburt ist in vielen Teilen der Welt eine Frage des Geldbeutels. Vor allem im globalen Süden sterben immer noch sehr viele Gebärende an den Folgen fehlender medizinischer Prävention und Versorgung sowie fehlender Infrastruktur.

Immer mehr in den Fokus gerät außerdem, wie eng die neuen Reproduktionstechnologien mit individueller Selbstbestimmung verknüpft sind. Wer nimmt sie in Anspruch, wer nicht? Was bedeuten sie gerade auch für prekarisierte Menschen, für die die Bezahlung reproduktiver Leistungen einem Lohn gleichkommt? Ob Eizellspende und Leihmutterschaft beziehungsweise Leihgebärendenschaft legal möglich sein sollten oder nicht, dazu gibt es unter Feminist*innen keine einheitliche Meinung. In Deutschland sind Eizellabgaben und Leihgebärendenschaft verboten. Mediziner*innen schätzen, dass jährlich eine hohe vierstellige Zahl Frauen aus Deutschland ins Ausland fährt, um schwanger werden zu können. Gleichzeitig zeigen uns Länder wie Spanien und Tschechien, dass die Entnahme von Eizellen und die Logiken der reproduktiven Märkte psychische und physische Folgen für die sogenannten Spender*innen haben können. Bei Leihgebärendenschaft sind die Kontroversen noch heftiger.

In Ländern wie Georgien und der Ukraine müssen die Leihgebärenden häufig Verträge unterschreiben, in denen ihnen bestimmte sportliche Aktivitäten und Sex verboten werden. In beiden Fällen verdienen vor allem die Kliniken an der reproduktiven Arbeit der Frauen. Klar ist, dass hier unterschiedliche Dimensionen von Selbstbestimmung in Widerspruch zueinander geraten. Einerseits die körperliche Selbstbestimmung potenzieller Spender*innen sowie die Kinderwünsche queerer Personen und Familien – andererseits die kapitalistische Ausbeutung weiblicher Körper. Was als Forschung gegen Unfruchtbarkeit begonnen hat, ist heute ein globaler, milliardenschwerer Markt mit verschiedenen biomedizinischen Angeboten und Reproduktionstechnologien geworden. Sie werden längst zur Geburtenkontrolle und -selektion eingesetzt. Wie individuelle Kinderwünsche, ökonomische Interessen und globale Machtverhältnisse ausgehandelt werden und wie feministische Positionen aussehen könnten, dazu gibt es bislang nur einen schwachen Diskurs in den feministischen Bewegungen.

Reproduktive Rechte und Gesundheit sind ein Lackmustest.

Wenig umstritten in der kritischen feministischen Analyse ist, dass Staaten die Kontrolle über Frauen und queere Körper für bevölkerungspolitische Interessen nutzen. Wir erleben nicht selten eine Gleichzeitigkeit von pro- und anti-natalistischen Maßnahmen innerhalb eines Staates. Während im globalen Norden die Geburtenraten – vor allem unter der weißen Akademiker*- und Mittelschicht angekurbelt werden sollen, zielen Politiken über entwicklungspolitische Programme im globalen Süden oft auf Geburtenreduktion. Reproduktive Rechte und Gesundheit sind ein Lackmustest, inwiefern ein Land das fundamentale Menschenrecht auf ein Leben in Freiheit ungeachtet der sozialen und ethnischen Herkunft, des Geschlechts und der Religion allen Menschen gewährt. Wer Abtreibung kriminalisiert, unterminiert das Recht, über den eigenen Körper selbst zu bestimmen.

Globale ultrakonservative Bündnisse kooptieren und untergraben die vor allem in der UNO kodierten Menschenrechtsverträge wie beispielsweise die CEDAW-Konvention oder die Pekinger Aktionsplattform. Die Anhänger*innen der Anti-Choice-Bewegung sind oft religiöse Fundamentalist*innen und Antifeminist*innen, die international vernetzt sind und für ihre Sichtweisen mobilisieren. Überschneidungen und Verbindungen zu rechten Netzwerken und autoritären Strukturen sind offensichtlich. Sie eint ein Ziel: die Hetero-Familie schützen, die Rolle der Frau als Mutter stärken.

Dabei bekämpfen sie die Errungenschaften der Gleichstellungspolitiken und des Feminismus, indem sie mit aller Kraft und viel Geld für Kampagnen aktiv werden. Dieses Buch stellt die immerwährenden reproduktiven Fragen: Wer darf gebären und wer nicht, wem wird Fortpflanzung mit allen reproduktionstechnischen Mitteln gewährt und wer wird ausgeschlossen? Der Zugang zu reproduktiver Selbstbestimmung ist ein Gradmesser der Demokratie. Unsere Gesellschaften und die internationale Staatengemeinschaft müssen sich daran messen lassen, ob sie in der Lage und willens sind, circa der Hälfte ihrer Bevölkerung einen gleichberechtigten Zugang zu selbstbestimmten Entscheidungen über ihr Leben und ihren Körper zu ermöglichen oder ob sie sie zu Bürger*innen zweiter Klasse degradieren. Die Covid19-Pandemie hat gezeigt, auf welchen Schultern die systemrelevante und Fürsorgearbeit lastet. Die gerechte Verteilung von Arbeit und die umfassende rechtliche Gleichstellung der Geschlechter sind überfällig. Damit solche Forderungen mehr sind als leere Floskeln, braucht es eine tiefgreifende feministische Analyse der reproduktiven Verhältnisse und ihrer globalen Verschränkungen entlang von race, class und gender. Diesem Buch gelingt es, eine solche Analyse aus den feministischen Ideen und Bewegungen heraus zu formulieren.