Wahl in Polen: Der Kampf für Frauenrechte dauert an

Kommentar

Reproduktive Rechte sind in Polen ein Politikum. Das gilt insbesondere in Zeiten des Wahlkampfs. Umso mehr überrascht die Tatsache, dass viele Frauen nicht zur Wahl gehen wollen.

Es ist zwei Jahre her, dass Menschen in Polen massenhaft gegen die Einschränkungen der reproduktiven Rechte protestierten. Allein an einem Tag, dem 28. Oktober 2020, sollen 410 Demonstrationen stattgefunden haben, an denen sich insgesamt mehr als 400.000 Menschen beteiligt haben. Diese Massenproteste waren eine Reaktion auf die weitere Verschärfung des ohnehin restriktiven Abtreibungsgesetzes. Das polnische Verfassungsgericht entschied im Herbst 2020, dass Frauen auch dann keinen Schwangerschaftsabbruch mehr vornehmen dürfen, wenn der Fötus schwere Fehlbildungen aufweist. Dies bedeutete die Einführung eines faktischen Abtreibungsverbots, da die überwiegende Mehrheit der legalen Abtreibungen in Polen aus ebendiesem Grund durchgeführt wurde.

Seit diesem Urteil ist eine Abtreibung nur noch in zwei Fällen legal: Wenn die Schwangerschaft auf eine Straftat zurückgeht oder wenn das Leben oder die Gesundheit der Schwangeren in Gefahr ist. Obwohl die Proteste die Stärke und Entschlossenheit der polnischen Zivilgesellschaft zum Ausdruck brachten, ging aus ihnen keine politische Bewegung hervor. Diverse Umfrage zeigen aber, dass sich die Mehrheit der polnischen Gesellschaft für legale Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche ausspricht.

Kurz vor der Parlamentswahl sind Frauenrechte im Wahlkampf sehr präsent, leider auch durch Aussagen, die Frauen ihr Recht auf Selbstbestimmung absprechen. Dabei konzentriert sich die polnische Debatte über Geschlechtergerechtigkeit auf die reproduktiven Rechte und vor allem auf den Zugang zu legaler Abtreibung. Dies könnte auch von Vorteil sein, weil eine sachliche Diskussion über Schwangerschaftsabbrüche einen Einstieg in den Diskurs über eine ganze Reihe von Problemen eröffnet, wie zum Beispiel geschlechtsbezogene Gewalt, die Situation von Frauen aus besonders vulnerablen Gruppen oder die seit 2015 anhaltende Rechtsstaatlichkeits- und Verfassungskrise.

Einigen Politiker*innen der Opposition, Aktivist*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen geht es insbesondere darum, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass die Rechte von Frauen und von Menschen, die wegen ihrer Geschlechtsidentität diskriminiert werden, Menschenrechte sind. Sie weisen unter anderem darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Einschränkung der reproduktiven Rechte als Verletzung des Rechts auf Privatsphäre und der Freiheit von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung verurteilt. Darüber hinaus denken sie reproduktive Rechte zunehmend im Kontext sozialer Ungleichheit. Dabei betonen sie vor allem den ungleichen Zugang zu Abtreibung, etwa für Menschen aus kleineren Orten, mit niedrigem Einkommen, ohne festen Wohnsitz oder für Geflüchtete und Migrant*innen.

Die öffentliche Aufmerksamkeit für reproduktive Rechte steht im Kontrast zur tatsächlichen Beteiligung von Frauen an politischen Prozessen. Viele Frauen sind nicht politisch aktiv und planen nicht einmal, an den kommenden Wahlen teilzunehmen. Besonders deutlich wird dies in der Gruppe der 18- bis 34-Jährigen. In dieser Gruppe erklärt weniger als die Hälfte, dass sie zur Wahl gehen wird. Mehr als 60 Prozent vermeiden es, über Politik zu sprechen, und nur 40 Prozent verfolgen die Informationen in den Medien und interessieren sich für die Ereignisse in der polnischen Politik.  Das ist ein überraschendes Ergebnis für ein Land, in dem es aktuell eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze in ganz Europa gibt und in dem auch vor 2020 die Gesetzgebung als unvereinbar mit den Menschenrechtsstandards und als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention angesehen wurde.

Zwei Abtreibungsurteile des EGMR (2007 Tysiąc v. Poland und R.R. v. Poland) wurden nicht umgesetzt. So gibt es beispielweise immer noch keine Möglichkeit, die Entscheidung von Ärzt*innen anzufechten, die den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen verweigern. Ein solches Verfahren ist aber dringend notwendig. Die restriktive Gesetzgebung führt dazu, dass teilweise auch dann keine Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden, wenn sie medizinisch notwendig wären, um das Leben der Schwangeren zu retten. Es gibt in Polen mittlerweile mehrere Fälle, in denen Frauen aufgrund einer unterlassenen Abtreibung gestorben sind.

Für die Missachtung der reproduktiven und sexuellen Selbstbestimmung finden sich in Polen zahlreiche Beispiele, die über den Zugang zu legalen und sicheren Abtreibungen hinausgehen, wie etwa fehlende Sexualkunde an Schulen, der erschwerte Zugang zu vorgeburtlicher Diagnostik und zu Verhütungsmitteln. Im European Contraception Atlas, einem Ranking, das 46 europäische Länder nach dem Zugang zu modernen Verhütungsmitteln bewertet, belegt Polen den letzten Platz. Es fehlt ein System zur Erstattung von Verhütungsmitteln, was besonders für Menschen mit geringem Einkommen problematisch ist. Notfallverhütungsmittel sind verschreibungspflichtig, und Ärzt*innen können mit dem Hinweis auf die sogenannte Gewissensklausel verweigern, ein entsprechendes Rezept auszustellen. Aktivist*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen üben im aktuellen Wahlkampf Druck auf Kandidat*innen aus, ihre Position zu reproduktiven Rechten und der Gleichstellung der Geschlechter klar darzulegen. Sie wollen Frauen zur Wahl mobilisieren, indem sie zeigen, dass die Wahl direkte Auswirkungen auf ihre Lebenssituation hat.

Diskriminierend ist in Polen nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch die Praxis der staatlichen Organe. Polizei, Staatsanwaltschaft und Gesundheitsbehörden versuchen, Menschen einzuschüchtern, die eine Abtreibung benötigen. Nach der Einführung des Schwangerschaftsregisters, der Beschlagnahmung von Krankenakten bei Frauenärzt*innen (so geschehen z. B. in Szczecin), Hausdurchsuchungen und Polizeieinsätzen in Krankenhäusern nimmt die Angst zu. Das harte Vorgehen des Staates wird von ultrakonservativen und antifeministischen Organisationen unterstützt, die das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch komplett abschaffen wollen und seit Jahren versuchen, Einfluss auf die polnische Politik und Regierung auszuüben. Viele polnische Frauen sind zurzeit gezwungen, Kliniken im Ausland aufzusuchen oder Abtreibungsmedikamente online zu bestellen. Unter wachsendem Druck versucht ein Netzwerk von Organisationen, Initiativen und Aktivist*innen, Frauen bei Abtreibungen zu unterstützen und verlässliche Informationen zu reproduktiver Gesundheit zugänglich zu machen.

Zum Gesicht dieser neuen feministischen Bewegung ist die Aktivistin Justyna Wydrzyńska geworden. Ein Gericht in Warschau verurteilte sie im März 2023 in erster Instanz wegen „Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch“ zu einer Geldstrafe sowie zu acht Monaten unbezahlter gemeinnütziger Arbeit. Justyna Wydrzyńska teilte mit einer Schwangeren Abtreibungsmedikamente aus ihrem privaten Bestand. Trotz ihrer lebensbedrohlichen Gesundheitslage hatte die betroffene Frau keine Möglichkeit, legal abzutreiben. Nach einem gescheiterten Versuch, die Schwangerschaft in Berlin zu beenden, suchte sie nach einer Möglichkeit, mithilfe von Medikamenten abzutreiben. Ihr Partner, der streng gegen den Schwangerschaftsabbruch war und sie ständig überwachte, fand die Tabletten und benachrichtigte die Polizei. Einen Schwangerschaftsabbruch selbst vorzunehmen, ist nach dem polnischen Strafgesetzbuch nicht rechtswidrig, aber die Staatsanwaltschaft erhob dennoch Anklage gegen Justyna Wydrzyńska, obwohl die Tabletten nicht eingenommen wurden und die Abtreibung nicht stattfand. Der Begriff der Beihilfe zum Schwangerschaftsabbruch wurde dabei weit ausgelegt.

Dieser Fall steht exemplarisch für die Hilfslosigkeit und Einsamkeit im Kampf gegen ein System, das Frauen und ihre Unterstützer*innen isoliert. Er zeugt aber auch von der Suche nach einer neuen Gemeinschaft sowie Handlungsmöglichkeiten in einem repressiven Umfeld. Es gibt sehr viele ähnliche Geschichten, die bisher in Polen nur hinter vorgehaltener Hand erzählt werden. Die Stigmatisierung nimmt aber ab, auch wenn sich diese Veränderung nicht ohne Konflikte und Widerstand vollzieht. Aktivist*innen und Frauenorganisationen sammeln und veröffentlichen Erzählungen über Schwangerschaft, Abtreibung, sexualisierte Gewalt und versuchen, die Perspektive von Frauen in all ihrer Vielfalt in den Mittelpunkt der politischen Debatte zu rücken. Im Archiv Frauen*geschichten der Foundation for Women and Family Planning FEDERA berichten zahlreiche Betroffene von ihren Erfahrungen und erzählen von Traumata und institutioneller Gewalt.

Nicht nur mit Blick auf diese Parlamentswahl, sondern auch auf die die Europawahl und Kommunalwahlen im kommenden Jahr 2024 konzentrieren sich Aktivist*innen darauf, durch Dokumentation, Information und Interessenvertretung auf einen politischen Wandel hinzuwirken und offen über reproduktive Rechte als Menschenrechte zu sprechen – ohne Tabus und Scham.