Verantwortung in der Demokratie – Zwischen Person und Institution

Veranstaltungsbericht

Regieren bzw. politisches Handeln sind eng mit der Übernahme politischer Verantwortung verknüpft. Wenn die Politik nicht als bürgerfern erfahren werden soll, ist eine Demokratie auf Menschen angewiesen, die Verantwortung übernehmen wollen. Im Rahmen ihrer digitalen Neujahrstagung diskutierte die Grüne Akademie am 18. Februar 2022 über Fragen politischer Verantwortung und guten Regierens.

Grüne Akademie

Digitale Neujahrstagung der Grünen Akademie

Den Auftakt machten die Philosophin Eva Buddeberg (Goethe-Universität, Frankfurt am Main) und die Politikerin Silke Gebel (Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen, Abgeordnetenhaus Berlin) mit zwei Vorträgen. Eva Buddeberg fragte zunächst nach der Bedeutung und Geschichte des Begriffs Verantwortung.  Philosophisch und politisch sei dieser relativ jung. Noch bei Kant sei in der Tradition der Moralphilosophie von Pflicht oder Zurechnung die Rede gewesen statt von Verantwortung. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff prominent, beispielsweise in der Philosophie Edmund Husserls. Häufig sei er in Verbindung mit den verschiedenen Krisenphänomenen dieser Epoche diskutiert worden. Mit Blick auf Industrialisierung und Massengesellschaft wurde zunehmend eine „Verantwortungsdiffusion“ diagnostiziert, durch die Normen und Zuschreibungen von Verantwortlichkeit für Handlungen und gesellschaftliche Strukturen brüchig und somit verhandelbar geworden seien.

Anders als der Gegenbegriff der Pflicht, so Buddeberg, der die klar definierte Aufgabe einer bestimmten Person beschreibe, sei Verantwortung ein flexiblerer und offenerer Begriff, der das Resultat eines Zuschreibungsprozesses sei.  Verantwortung beinhalte demzufolge eine diskursive Dimension. In einer offenen Gesellschaft freier Bürger:innen könne Verantwortungsübernahme nicht mehr im Vorhinein angenommen werden. Die Mitglieder einer Gesellschaft schuldeten einander jedoch gute Gründe für ihr Handeln oder Unterlassen. Schließlich würden sie, so Buddeberg, eine Welt teilen. Mit Karl Otto Apel ließe sich hier von „Mitverantwortung“, mit der US-amerikanischen Philosophin Iris Marion Young von „geteilter Verantwortung“ sprechen. Niemand könne alleine verantwortlich sein. Verantwortlichkeit erwachse im Kollektiv, und kollektive Entscheidungsstrukturen müssten der Verantwortung, Entscheidungsgründe nachvollziehbar zu machen, Rechnung tragen. Auch Hoffnung werde teils als Gegenbegriff zur Verantwortung gehandelt. Die Begriffe seien ganz maßgeblich über die Werke Das Prinzip Verantwortung von Hans Jonas und Das Prinzip Hoffnung von Ernst Bloch in die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts eingegangen. Trotz der sehr unterschiedlichen Ausgangspunkte von Bloch und Jonas ergänzten sich die beiden Perspektiven jedoch, so Buddeberg. Während die Verantwortung nüchtern einfordere, dass Handlungsträger über ihr Tun Rechnung ablegen, ziele die Hoffnung auf das Entgegenkommende. Als Vertrauen darauf, dass sich überhaupt etwas tun ließe, sei die Hoffnung deshalb, so Buddeberg, eine Grundbedingung für jedes Handeln.

Daran schloss Silke Gebel mit ihrem Impuls aus politisch, praktischer Perspektive an. Als Politikerin sei sie gewählt worden, um im Namen der Bürgerinnen und Bürger Verantwortung zu übernehmen. Mit Blick auf Buddebergs Gegenüberstellung von Verantwortung und Pflicht, könne deshalb bei Politikerinnen und Politikern schon fast von einer „Pflicht zur Verantwortung“ gesprochen werden. Ob in der Tagespolitik, der strategischen Themensetzung oder in der Partei – die Übernahme von Verantwortung sei unvermeidlich. Gerade die Pandemie habe dies verdeutlicht, indem sie die Bedingungen, unter denen Politik gemacht und Verantwortung übernommen werde, verschärft. Am Beispiel ihrer Beteiligung an der Entscheidung über Schulschließungen im Frühjahr 2020 beschrieb Gebel den enormen Zeitdruck, unter dem zwischen Infektionsschutz, Bildung und Kindeswohl abgewogen werden musste. An diesem Beispiel werde besonders deutlich, wie politische Verantwortung für die Entscheiderinnen und Entscheider unmittelbar spürbar und für alle öffentlich erkennbar werde, wenn etwa Schulschließungen bereits 24 Stunden später in Kraft treten.

Natürlich habe es zur Corona-Politik innerhalb der Senatskoalition unterschiedliche Positionen gegeben. In der Krise aber gelte es, kollektiv als Regierung Verantwortung zu übernehmen. Dies habe ihr vor Augen geführt, dass verantwortliches Handeln auch bedeute, über die eigenen Positionen und Interessen hinauszudenken. Politik höre nicht mit dem Akt der Entscheidung auf, schloss Gebel. Vielmehr müsse kommuniziert, erklärt und letztendlich verantwortet werden. Dieses diskursive Element schließe nicht nur ein, Entscheidungen zu verteidigen, sondern diese im Zweifel auch zurücknehmen und aus Fehlern Konsequenzen zu ziehen.

Ausgehend von den Eröffnungsvorträgen gab es eine rege Diskussion unter den Akademie-Mitgliedern. Die Debatte drehte sich vor allem darum, welche Bedingungen erfüllt seien müssten, damit Verantwortung zugeschrieben und übernommen werden kann. Besonders Transparenz stand hier im Fokus. Nicht zuletzt die Pandemie habe deutlich gemacht, wie wichtig es sei, dass für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar sei, wer über die Politik entscheidet und berät. 

Debattenforen: Formen institutioneller, individueller und diskursiver Verantwortung

Im Anschluss an die Eröffnungsdiskussion boten vier digitale Debattenforen den Mitgliedern der Akademie die Gelegenheit, Fragen institutioneller, individueller und diskursiver Verantwortung weiter zu vertiefen. Im ersten Themenforum diskutierten Tobias Rothmund (Friedrich-Schiller-Universität Jena) mit Marianne Birthler (Grüne Akademie) über die Bedeutung persönlicher Verantwortung und Vertrauenswürdigkeit für „Gutes Regieren“. In einem zweiten Themenforum diskutierten Andrea Lindlohr (Ministerium für Landesentwicklung und Wohnen, Baden-Württemberg, sowie Grüne Akademie) und Sieglinde von Wasielewski (Landesvertretung Sachsen in Berlin) über institutionelle Verantwortung im Bundesstaat und das Verhältnis der grünen Strömung zum Föderalismus. Im dritten Themenforum spürten Arnd Pollmann (Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Grüne Akademie) und Maisha Auma (Hochschule Magdeburg-Stendal und Technische Universität Berlin) den Formen diskursiver Verantwortung in öffentlichen Debatten nach. In einem vierten Themenforum fragte Michael Knoll (Verband Berliner Kaufleute und Industrieller sowie Grüne Akademie) im Gespräch mit Eveline Metzen (Government Affairs & Public Policy, Google LLC) und Till Wagner (Stiftung Verantwortungseigentum) nach Modellen des Eigentums und unternehmerischer Verantwortung für das 21. Jahrhundert.

Politische Verantwortung in einer demokratischen Öffentlichkeit

In die zweite Plenardebatte der Tagung führten Stefan Gosepath (Freie Universität Berlin und Grüne Akademie) und Mona Neubaur (Bündnis 90/Die Grünen NRW und Grüne Akademie) ein. Als Philosoph schloss Gosepath zunächst an Buddeberg an und hob den modernen Charakter des Verantwortungsbegriffs hervor. Mit Blick auf die beschriebene „Verantwortungsdiffusion“ stelle sich die Frage, wer wofür Verantwortung trage. Hier identifizierte Gosepath eine Reihe von Verantwortungsfeldern. Für Umwelt und Klima etwa sei es schwierig, individuelle Verantwortung zuzuschreiben. Der oder die Einzelne mag für sich in Anspruch nehmen, die Umwelt individuell im Vergleich zu anderen weniger stark zu schädigen und damit nicht in demselben Maß verantwortlich zu sein, aber diese Argumentation bleibt problematisch. Ähnlich verhalte es sich mit der Verantwortungszuschreibung in einer globalisierten Wirtschaft und Gesellschaft. Der Begriff der individuellen Eigenverantwortung, welcher nach einer schwierigen politischen Karriere unter Rot-Grün zudem oft mit sozialer Härte assoziiert werde, könne hier nur bedingt helfen. Die Probleme unserer Zeit seien das Ergebnis kollektiven Handelns und Unterlassens sowie gesellschaftlicher Strukturen. Hier müsse Verantwortung politisch, beispielsweise über bestimmte institutionelle Rollen (Parlamentarier:in, Minister:in etc.) erst hergestellt werden. Doch auch hier stünden nationale Öffentlichkeit und Entscheidungsträger vor dem Problem, Verantwortung für grenzüberschreitende Probleme zu übernehmen. Angesichts einer historisch gewachsenen, komplexen Realität sei es meist schwer, retrospektiv Verantwortlichkeiten zu etablieren. Stattdessen sei es sinnvoller, von einer „Fähigkeitenverantwortung“ zu sprechen, also danach zu fragen, wer die Mittel und Fähigkeiten habe, Verantwortung zu übernehmen und entsprechend zu handeln. Umso mehr werde hier aber deutlich, so schloss Gosepath, dass Verantwortung das Ergebnis eines argumentativen Aushandlungsprozesses zwischen Akteur:innen sei. Darin unterscheide sie sich von einer im Vorhinein festgelegten Pflicht.

An die Frage, wie Verantwortung erfolgreich zugeschrieben und „konstruiert“ werden kann, knüpfte Mona Neubaur im letzten Impulsvortrag des Abends an. Damit kollektive und individuelle Verantwortungsübernahme in der Politik gelinge, brauche es demokratische Diskursräume auf regionaler, nationaler und transnationaler Ebene. Die Existenz solcher Räume wiederum hänge entscheidend von der „Öffentlichkeitskompetenz“ der Bürger:innen ab. Erodiere diese Kompetenz, etwa als Folge struktureller Veränderungen der Öffentlichkeit, könnten die handelnden Personen nicht mehr von den Bürger:innen in der Öffentlichkeit zur Verantwortung gezogen werden. Ein Mangel an Zuschreibung von Verantwortung oder gar ein zynisches Verhältnis der handelnden Personen zu formal bestehender Amtsverantwortung seien ihr, etwa in der Landespolitik, häufig begegnet. Diesen Trend müsse Politik umkehren. Es sei jedoch keineswegs immer klar, was die Übernahme von Verantwortung in der politischen Praxis genau bedeute. Politische Rücktritte seien ein gutes Beispiel: Gerade die Entscheidung über einen möglichen Rücktritt als ultima ratio bedürfe einer genauen Abwägung. Zu oft werde die Rücktrittsandrohung oder -forderung strategisch genutzt. Trete etwa eine Ministerin oder ein Minister zurück, veränderten sich deshalb noch nicht die problematischen Strukturen im Ministerium. Dennoch sei es – auch für die grüne Bewegung – wichtig, politisches Personal auszuwählen, dass sich nicht an Posten klammere. Politiker:innen müsse es bewusst sein, dass die Übernahme von Verantwortung auch den Rücktritt von einer Position einschließen könne.

Auf die beiden Debattenbeiträge folgte ein angeregter Austausch der Mitglieder.  Kontrovers wurde besonders diskutiert, inwieweit bestehende Mechanismen der politischen Verantwortung wie Abwahl, Nichtaufstellung und Entlassung oder Rücktritt von Amtsinhabern noch intakt sind, ob diese als Folge immer komplexerer Entscheidungssituationen, diffuser Zuständigkeiten und zynischen Taktierens an Wirksamkeit eingebüßt haben und wie zukünftigen Modelle politischer Verantwortung aussehen könnten. In der Debatte wurde insgesamt sehr deutlich, wie unterschiedlich die Einschätzungen von politischer Verantwortung bisweilen aussehen.