Steigende Nahrungsmittelpreise in Lateinamerika und der Karibik

Interview

Durch Pandemie und Ukraine-Krieg sind die Nahrungsmittelpreise um 30-40 Prozent gestiegen. Lola Castro, die Regionaldirektorin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen für Lateinamerika und die Karibik, zu den Folgen der Ernährungskrise.

Bolivien: Verteilung von Lebensmitteln an die indigenen Gemeinschaften Uru Murato

Inka Dewitz: Lola Castro, Sie sind Regionaldirektorin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) für Lateinamerika und die Karibik. Was sind die größten Herausforderungen für die Region?

Lola Castro: Wahrscheinlich wurde keine andere Region auf der Welt so hart durch Corona getroffen, Armut und Hunger haben extrem zugenommen. Aber Lateinamerika und die Karibik leiden nicht nur unter der Pandemie, sondern auch stark unter den Folgen der Klimakrise. Viele Gebiete haben mit Wirbelstürmen, Dürren und Überschwemmungen zu kämpfen – besonders betroffen sind vulnerable Bevölkerungsgruppen wie Frauen und indigene Gemeinschaften. Das Welternährungsprogramm arbeitet mit 13 Ländern in Lateinamerika und der Karibik zusammen. In diesen Ländern litten während der Corona-Pandemie 17 Millionen Menschen Hunger. Bis Januar dieses Jahres hatte sich die Situation gebessert und die Zahl der Hungerleidenden war auf 8,7 Millionen gesunken. Die weltweiten Lebensmittelpreise steigen seit Jahren, aber der Krieg in der Ukraine führt jetzt zu einem zusätzlichen Anstieg. Das hat die Situation noch einmal verschärft – bereits jetzt sind 9,3 Millionen Menschen von Hunger betroffen. Die Folgen sind in der Region also sehr direkt und schnell zu spüren, da Wirtschaft und Gesellschaft momentan sehr vulnerabel sind.

Die Region wurde bereits von der Pandemie hart getroffen, welche konkreten Folgen des Kriegs in der Ukraine haben Sie feststellen können?

Die Situation trifft die Ärmsten der Armen besonders hart. Einige Länder exportieren zwar Getreide, die Produktion reicht aber nicht aus, um die gesamte Region zu versorgen. Und auch wenn Lateinamerika und die Karibik kein Getreide aus der Ukraine importieren, treffen uns natürlich die gestiegenen Weltmarktpreise. Die Preise für Gemüse sind bereits um 30 bis 40 Prozent gestiegen, die Menschen können sich also viel weniger leisten. Aber es gibt auch Orte, an denen Nahrungsmittelknappheit herrscht. Länder wie Nicaragua und Kuba haben weniger Nahrungsmittel zur Verfügung, weil sie von Importen aus Russland abhängig sind. Auch der Anstieg der Treibstoffpreise ist sehr problematisch. Die Karibik besteht aus hunderten von Inseln, die den Großteil ihrer Lebensmittel importieren. Seit 2019 sind die Kosten für Lebensmitteltransporte per Schiff um das Siebenfache gestiegen. Lebensmittel quer durch die Karibik zu transportieren, ist also sehr teuer geworden – und die Region ist aufgrund der Corona-Pandemie hoch verschuldet. Laut dem jüngsten UN-Bericht befinden sich von 60 Ländern, die durch die Pandemie besonders stark getroffen wurden, 19 in Lateinamerika.

Einige Länder Lateinamerikas gehören weltweit zu den wichtigsten Produzenten und Exporteuren – bei einem großen Teil der Exporte handelt es sich aber um Waren, die nicht zum Lebensmittel-Sortiment gehören.

Mineralien und Non-Food-Produkte machen einen großen Anteil der lateinamerikanischen Exporte aus. Für die landwirtschaftliche Produktion sind Düngemittel sehr wichtig – da kommt es zu Versorgungsengpässen und die Preise sind um 130 Prozent gestiegen. Wenn verschiedene Länder mit der Aussaat beginnen, wird es kritisch. Bäuerinnen und Bauern werden möglicherweise die Düngermenge reduzieren müssen oder gar keine Düngemittel ausbringen können. Einige Menschen sehen die Situation als Chance, ökologische Landwirtschaft voranzubringen, aber für die nötige Produktion steht nicht ausreichend organischer Dünger zur Verfügung. Eine langfristige Auswirkung des Ukraine-Kriegs wird also ein Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion sein, und das ist sehr gefährlich. Wir haben in Lateinamerika und in der Karibik nicht nur industrielle Landwirtschaft. Unsere Nahrungsmittelproduktion basiert größtenteils auf kleinbäuerlichen Strukturen und vor allem indigene Frauen produzieren regional die Vielfalt der Nahrungsmittel, die dann auf die lokalen Märkte kommt. Sie sorgen für das Einkommen ihrer Familien und Ernährungssicherheit in der Gemeinschaft. Wenn sie nicht mehr über genügend Betriebsmittel verfügen und die Treibstoffpreise so stark steigen, dass sie ihre Lebensmittel nicht mehr transportieren können, hat das enorme Folgen.

Mit welchen Programmen versuchen die Regierungen, auf die Krise zu reagieren?

Ich war zwei Wochen nach Beginn des Ukraine-Kriegs in der Dominikanischen Republik, da hatte die Regierung bereits begonnen, die Preise für vier Grundnahrungsmittel zu subventionieren.

Andere Länder, wie beispielsweise El Salvador, haben die Steuern auf Treibstoff gestrichen, so dass sich die Erhöhung des Treibstoffpreises nicht auf die Lebenshaltungskosten auswirkt. Als die Regierungen sahen, dass die Krise nicht nur Nahrungsmittel betrifft, sondern auch Düngemittel, versuchten sie, Düngemittel zu kaufen, aber leider war es zu spät. Außerdem bemühen sie sich, ihre Sozialprogramme auszubauen, wir arbeiten mit den Regierungen zum Beispiel beim Thema Schulmahlzeiten zusammen. Aber die Möglichkeiten sind sehr begrenzt, da die Staatsverschuldung in den Ländern der Region zwischen 80 und 90 Prozent des Bruttoinlandproduktes liegt.

Gibt es Bemühungen, die Exporte zurückzufahren und stattdessen den Handel auf dem Kontinent zu stärken?

Viele Länder in der Region sind Nettoimporteure von Getreide, haben also keine Ernährungssouveränität. Die steigenden Lebensmittelpreise sind ein riesiges Problem. In Venezuela sind die Preise um 230 Prozent gestiegen und im krisengeschüttelten Haiti um 30 Prozent. Lateinamerika und die Karibik haben angefangen, darüber zu diskutieren, wie sie Abhängigkeiten von Nahrungsmittelimporten verringern können und konzentrieren sich nun darauf, Ernährungssysteme nachhaltiger zu gestalten.

Wie arbeitet das Welternährungsprogramm in der Region?

Bolivien: Verteilung von Lebensmitteln an die indigenen Gemeinschaften Uru Murato

Wir liefern Nahrungsmittel, aber die Krise führt dazu, dass die Lebensmittel, die wir jetzt kaufen, 110 Prozent teurer sind als vor zwei Jahren. Wir kooperieren auch mit Regierungen und anderen Akteuren bei Bargeldtransfers und krisenabhängigem Sozialschutz. Bargeldtransfers erlauben es vulnerablen Bevölkerungsgruppen, lokal produzierte Lebensmittel auf dem Markt zu kaufen. Aber um eine minimale Ernährungssicherheit bei den gestiegenen Lebensmittelpreisen zu erreichen, müssen die Bargeldtransfers ebenfalls um 15 bis 30 Prozent erhöht werden – dieses Geld müssen wir irgendwo auftreiben.

Kostenlose Schulmahlzeiten sind ein wichtiges sozialpolitisches Instrument in unserer Region. In einigen Ländern haben die Kinder durch die Corona-Pandemie zwei Jahre lang keine Schule besucht. Wir arbeiten mit den Regierungen zusammen, um sicherzustellen, dass die Kinder wieder in die Schule kommen. Dafür ist es sehr wichtig, nahrhafte und gesunde Mahlzeiten in der Schule anzubieten, da das die Familien finanziell entlastet.

Außerdem leisten wir viel technische Unterstützung, um Wissen zum Thema Ernährung zu generieren und arbeiten mit indigenen Gemeinschaften an der Wiedereinführung traditioneller Lebensmittel. Wir versuchen, so viel wie möglich vor Ort zu kaufen.

Wir engagieren uns auch stark im Bereich der Klimaanpassung. Die Region leidet bereits sehr unter den Folgen der Klimakrise, wir brauchen ein besseres Frühwarnsystem für Hurrikane, eine bessere Vorsorge und müssen mit den Gemeinschaften zusammen daran arbeiten, ihre Arbeits- und Anbaumethoden anzupassen. Wir kooperieren mit indigenen Gemeinschaften, um von ihrem traditionellen Wissen zu lernen. Sie haben viele verschiedene Strategien, um vorherzusagen, ob es regnen wird oder eine Dürre bevorsteht und wir versuchen, dieses Wissen mit den meteorologischen Systemen zu verknüpfen.

Wir haben es mit mehreren Krisen zu tun, die sich gegenseitig verstärken, der Kampf gegen diese Krisen erfordert jede Menge Ressourcen und Personal. Welche Prioritäten setzt das Welternährungsprogramm?

Für uns sind die Prioritäten aktuell total klar: In Lateinamerika und der Karibik sind mehr als 9 Millionen Menschen von akutem Hunger betroffen. Wir rechnen damit, dass diese Zahl durch die Krise noch auf 13 bis 14 Millionen steigt. Für uns ist es daher wichtig, weiterhin mit den Regierungen zusammenzuarbeiten, um den Ärmsten der Armen mehr Unterstützung zukommen zu lassen.

Migration ist eine weitere Folge der Krise. Um zu überleben, verlassen die Menschen ländliche Regionen und ziehen in die Städte. Viele Menschen verlassen aktuell auch Länder wie Ecuador oder Peru, die früher Migranten und Migrantinnen aufgenommen haben. Laut einer Umfrage denkt fast die Hälfte der Bevölkerung Zentralamerikas darüber nach, wegzugehen. Indigene und Frauen sind am stärksten gefährdet. Wir versorgen Migranten und Migrantinnen mit Nahrungsmitteln oder Bargeldtransfers, versuchen aber auch, die Ursachen der Migration zu bekämpfen. Dafür müssen wir mehr Nahrungsmittel in den Regionen produzieren, Einkommen generieren, Ernährungssicherheit gewährleisten und Beschäftigungsverhältnisse für Jugendliche schaffen. Gleichzeitig fehlen uns in den 13 Ländern gerade 300 Millionen Dollar, um unsere reguläre Arbeit zu finanzieren. Wenn die Preise weiter steigen, brauchen wir vielleicht die doppelte Summe. Das heißt, entweder müssen wir die Nahrungsmittel- und Bargeldhilfen reduzieren und können weniger Menschen unterstützen oder wir brauchen zusätzliche Mittel.

Sehen Sie eine Gefahr für Ernährungskonflikte oder soziale Proteste?

Jedes Mal, wenn die Preise für Treibstoff oder Lebensmittel steigen, gehen die Menschen auf die Straße. Wir erleben aktuell jeden Tag viele Demonstrationen, Unruhen und Straßensperren, in einigen Ländern wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Soziale Instabilität hat natürlich auch politische Auswirkungen.

Ich fürchte, wenn der Konflikt weitergeht, werden die Preise nicht schnell sinken. Und wenn Unterstützung in Form von Darlehen oder Zuschüssen ausbleibt, kann die Regierung nicht reagieren und wir werden große Probleme bekommen.

Könnte die Krise auch positive Transformationsprozesse anstoßen?

Auf jeden Fall. Mit dem Welternährungsprogramm versuchen wir verstärkt, die Produktion von Kleinbäuerinnen und indigenen Gemeinschaften zu erhöhen. Die Lebensmittel, die wir von ihnen erwerben, liefern wir an Schulen, Gesundheits- und Ernährungszentren. Die Krise ist auch eine Chance, stärker auf ökologische Landwirtschaft zu setzen, obwohl sie die durch Knappheit und Preissteigerungen bei Düngemitteln verursachten Ernteausfälle nicht vollständig ausgleichen können wird. Gemeinsam mit der Regierung müssen wir solidere Sozialschutzprogramme schaffen, damit wir nicht in jeder Krise alles neu erfinden müssen. Und wir müssen damit aufhören, alle Faktoren getrennt zu betrachten, sondern das gesamte Ernährungssystem im Blick haben und es nachhaltig verändern. Dafür brauchen wir das unglaublich reiche Wissen der vielen verschiedenen ethnischen Gruppen, die wir in Lateinamerika und der Karibik haben. Wir arbeiten eng mit vielen indigenen Gemeinschaften zusammen, um ihr traditionelles Saatgut und ihre Produktionsweisen wieder zu beleben. In Kuba und Honduras beobachten wir wiederum, dass als Reaktion auf die gestiegenen Treibstoffpreise viel mehr Solarenergie eingesetzt wird. Die Krise bietet auch große Chancen für einen schnelleren Wandel der Ernährungssysteme.