Von der Vision zur Strategie: Die klimaneutrale und nachhaltige Kommune Flecken Steyerberg

Kommentar

Mit der Übernahme des Bürgermeisteramtes im Dezember 2013 hatte ich mir vorgenommen, dass die Verwaltung eine Vision und Strategie entwickelt, wo die Gemeinde in 10, 20 und 30 Jahren stehen möchte. Eine so langfristige Planung gab es bis dato nicht.

Steyerberg Mobility Sharing

Meine Beweggründe für diese Vorgehensweise ergaben sich aus den Problemfeldern demografischer Wandel (die Prognose lag bei minus 13 % Einwohner*innen), Wegbrechen der Gewerbesteuereinnahmen um 40-50 % und aus persönlicher Sicht die schon spürbaren Klimaveränderungen. Die größte Chance, diese Trends aufzuhalten, bestand darin, die strategische Ausrichtung des Fleckens neu zu überdenken und auf den Weg zu bringen.

Meine Vision für den Flecken Steyerberg war, einen klimaneutralen und nachhaltigen Lebensraum zu schaffen. Ich wollte dazu beitragen, den nachfolgenden Generationen einen lebenswerten und –fähigen Planeten zu hinterlassen. Das bedeutete, dass alle zu treffenden Entscheidungen sich an den Themenkomplexen Klimaschutz und Nachhaltigkeit ausrichten sollten. Wie sagte Christian Sievers (ZDF-Moderator des „Heute-journal“) vor Kurzem „Wenn wir uns nicht um unsere Erde kümmern, dann ist der Rest auch egal!“

Amtskollegen belächelten mich anfänglich. „Du hast Dir eine schöne Nische ausgesucht!“, hieß es aus diesem Kreise. Im Gemeinderat war die Skepsis auch sehr groß und das Verständnis für die Themenfelder Klimaschutz und Nachhaltigkeit noch nicht ausgeprägt.

Ich bin überzeugt, dass man Veränderungen am ehesten erreicht durch persönliches Vorleben, pragmatische Lösungsansätzen sowie die konkrete und konsequente Umsetzung von Projekten. Persönlich konnte ich ein CO2-freies Haus (mit Photovoltaik, thermischen Sonnenkollektoren, einer Wärmepumpe, wassergeführten Kaminöfen sowie energetischer Sanierung) und eine Mobilität ohne fossile Brennstoffe vorweisen. Seitens der Kommune wurden u. a. kurzfristig zwei Photovoltaikanlagen, das GreenITown-Projekt und ein (E-)Mobilitätskonzept realisiert und immer wieder neue Projekte angestoßen. Die Projekte der Kommune sind so angelegt, dass sie sich mittelfristig positiv im Haushalt auswirkten, denn der Flecken Steyerberg unterlag durch die eingebrochenen Gewerbesteuereinnahmen der Haushaltssicherung.

Durch diese Vorreiterrolle und Vorbildfunktion fiel es in den persönlichen Gesprächen viel leichter, andere zu animieren, mitzumachen. Treu dem Motto „Wenn die Kommune und ich es können, warum machst Du es nicht?!“

Von der Klimakommune zur Masterplankommune

Türöffner für den Gemeinderat war die Auszeichnung Flecken Steyerbergs als „Niedersächsische Klimakommune 2014“ für meine Projektidee „Nutzung industrieller Abwärme zur Beheizung und Warmwasserbereitung des Ortsteil Steyerberg und gleichzeitigem Ausbau eines Glasfasernetzes“.

Der Flecken Steyerberg erhielt große mediale Aufmerksamkeit und vielfältige Anfragen von anderen Kommunen sowie von Universitäten. Als Bürgermeister wurde ich zu Veranstaltungen nach Bordeaux, Wien, Paris und Berlin eingeladen. Die regelmäßige Berichterstattung in den lokalen Medien und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit haben die Ratsmitglieder als Wertschätzung sehr positiv wahrgenommen. Das mündete in der Aussage „Aus dieser Nummer kommen wir nicht mehr raus, ohne unseren guten Ruf zu gefährden!“.

Seit 01. Juli 2016 ist der Flecken Steyerberg eine Kommune im Programm „Masterplan 100 % Klimaschutz“, die kleinste von 41 Kommunen in Deutschland. Das Ziel der Masterplankommunen ist die Reduzierung der Treibhausgase um 95 % und die Senkung des Energieverbrauchs um 50 % bis 2050 bezogen auf das Basisjahr 1990.

Der Masterplan wurde unter Beteiligung der Ratsmitglieder, Bürgerinnen und Bürgern, Verwaltung, Unternehmen und Vereinen in Workshops, Informationsveranstaltungen und Umfragen innerhalb eines Jahres entwickelt. Genehmigt durch den Gemeinderat, stellt er die Strategie zur Umsetzung der Vision eines klimafreundlichen und nachhaltigen Flecken Steyerberg dar.

Durch die Erarbeitung des Masterplans ist das Verständnis und die Kompetenz bei den Ratsmitgliedern bezogen auf die Themen Klimaschutz und Nachhaltigkeit stark gestiegen. Das wirkte sich sehr positiv bei der Umsetzung von Maßnahmen aus. Es wurden nicht mehr Einzelfallentscheidungen getroffen, sondern Grundsatzbeschlüsse gefasst.

Klimaschutz und Nachhaltigkeit müssen ganzheitlich angegangen werden. Ausschließliche Betrachtung einzelner Aspekte ist nicht zielführend.

Das ist die Bandbreite der Aktivitäten im Flecken Steyerberg:

  • Fernwärmenetz und Glasfaseranschluss

Offene Baustelle - Fernwärme

Hier entsteht das größte Fernwärmenetz im ländlichen Raum mit 29 km Rohrlänge und 450 Anschlussnehmern. Das Netz wird mit industrieller Abwärme und Blockheizkraftwerken gespeist und von einer Bürgergenossenschaft als Non-Profit-Unternehmen betrieben. Die CO2-Einsparung liegt bei ca. 6.000 Tonnen pro Jahr. Gleichzeitig erfolgte ein kostenloser Glasfaserausbau für den gesamten Ortsteil.
 

  • (E)-Mobilität

KlimaStark - Flecken Steyerberg: Weißes Auto mit Werbeaufschrift www.klimastark.de

Seit Anfang der 90er-Jahre gibt es E-Mobilität in der Gemeinde.

Den Rathausbeschäftigten steht ein E-Auto zur Verfügung. Ehrenamtliche organisieren mit dem gemeindeeigenen neunsitzigen E-Bus einen Fahrdienst für Senioren. Vereine können das Fahrzeug kostenlos nutzen. Den Strom an der Ladesäule am Rathaus gibt es kostenlos.

Eine Besonderheit ist die Plattform MobilitySharing Steyerberg, die allen zugänglich ist. Sie kann per Browser, App und per Telefon genutzt werden. Mitglieder profitieren von modernen E-Pkws, auch mit Anhänger, einem breiten Angebot an unterschiedlichen E-Bikes sowie der Mitfahrbörse. Für die meisten Nutzer, darunter auch Familien, ist dieses Angebot bereits heute ein 100%iger Ersatz für das eigene Fahrzeug.

Des Weiteren findet jährlich die Veranstaltung „Electric Power Weekend“ statt und es gibt einen Stammtisch E-Mobilität.
 

  • Windenergie

Windrad ragt in einen blauen Himmel mit weißen Wolken

In allen drei Vorranggebieten hat die Verwaltung vertraglich das Vorkaufsrecht für je eine Windenergieanlage (WEA) gesichert. Die WEA werden durch das neugegründete Tochterunternehmen der Gemeinde, die Energiewerke Steyerberg GmbH, betrieben. Außerdem wurde mit dem Projektierer ein Steyerberger Stromtarif ausgehandelt, der 10 bis 15 Prozent unter dem ortsüblichen Preis liegt. Jeder Bürger hat etwas davon, dass sich bei uns die WEA drehen.
 

 

  • Energetisches Quartierskonzept mit Städtebaulichem Sanierungsgebiet

Mit dem energetischen Quartierskonzept konnte die Verwaltung den Gebäudebestand im Quartier „Ortsteil Steyerberg“ erfassen und anhand der Energieverbrauchszahlen konkrete Minderungspotenziale erkennen. Daraus lassen sich Strategien und Maßnahmen ableiten und gezielt auf die Umsetzung hin planen. Ein Quartierskonzept ermöglicht eine zukunftsgerichtete Quartiersentwicklung. Gleichzeitig diente es als Grundlage für die Ausweisung eines Sanierungsgebietes nach den §§ 136 ff BauGB für den Ortsteil Steyerberg. Zum Themenkomplex energetische Sanierung ist das Thema Barrierefreiheit mit aufgenommen worden. Durch die Ausweisung als Sanierungsgebiet können Private oder Gewerbetreibende entsprechend des Einkommenssteuergesetztes (§§ 10 f und 7 h EStG) ihre (energetischen) Investitionen in die Bausubstanz um 90 bzw. 100 Prozent von der zu zahlenden Steuer abziehen.

  • gemeindeeigene Förderprogramme

Die Gemeinde hat zwei eigene Förderprogramme entwickelt. „Neues Leben für Altbauten“ soll die Nachnutzung von leer stehenden Häusern fördern. Dabei erhält eine vierköpfige Familie sechs Jahre lang einen jährlichen, nicht rückzahlpflichtigen Zuschuss. Die Gesamtsumme beträgt bis zu 16.500 Euro. Bis dato konnten so 11 Häuser wieder mit Leben gefüllt werden. Die Ladenleerstandskonzeption unterstützt die Nachnutzung von Ladenflächen.

  • Flächenverbrauch auf „0“ ha

Der Gemeinderat hat beschlossen, dass die bis zum 31.12.2015 geplanten Flächen in ihrer Größe nicht überschritten werden dürfen. Fehlt an einer Stelle z. B. Bauland, so muss dafür eine an anderer Stelle geplante Fläche zurückgeplant werden.

  • Grundsatzentscheidung für Vorgaben in Neubaugebieten

In den textlichen Festsetzungen des Bebauungsplanes werden immer nachfolgende Punkte aufgeführt: Verbot von fossilen Brennstoffen für die Wärmeerzeugung, Zisternenpflicht, Verbot von Schottergärten und Photovoltaikpflicht. Über städtebauliche Verträge wird der Baustandard KfW 40 Plus vorgegeben.

Es gibt viele weitere Projekte, die umgesetzt werden bzw. in Planung sind, welche ich hier nur kurz aufführe: Das sind u. a. GreenITown, mobiles Arbeiten (bereits vor Corona), Richtlinie Kommunale Energiestandards, Tiny-House-Siedlung, klimafreundliche Beschaffung, Einführung E-Akte, KITA-Konzeptionen mit Klima- und Umweltschutz, Jobfahrrad, Photovoltaik auf allen kommunalen Gebäuden, Produktion von E-Fuels, Wasserstoffproduktion und –speicherung etc.

Klimazaun in Flecken Steyerberg - Holzleisten mit Maßangaben

Rückblick nach acht Amtsjahren: Stellen Sie sich an die Spitze!

2021 verlor ich nach acht Amtsjahren die Wahl zum Bürgermeister. Rückblickend würde ich es aber heute wieder genauso machen. Es gibt keine wichtigere Aufgabe als die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Wir tragen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes die Verantwortung für die nachfolgenden Generationen und ihren Lebensraum. Das muss bei allen Entscheidungen berücksichtigt werden Klimaschutz und Nachhaltigkeit bedeutet nicht Verzicht, sondern Leben!

Der eingeschlagene Weg war anfänglich sehr beschwerlich, aber auch lehrreich. Deshalb mein Rat für alle Bürgermeister und solche, die es werden wollen: Reiben sie sich nicht an den Unwilligen auf, sondern suchen Sie Gleichgesinnte und schaffen sie Anreize. Jeder Gleichgesinnte trägt zur Verbreitung in der Gemeinde bei.

Zur Risikobewertung sollten Sie sich immer die Frage stellen „Wer hat etwas davon, dass es so bleibt, wie es ist?“ In unserem Fernwärmeprojekt sind das beispielsweise die Schornsteinfeger, Heizungsbauer, Heizöllieferanten etc.. Man kann sich im Vorfeld besser auf Gegenargumente vorbereiten. Besser noch ist, Kritiker ins Projekt zu integrieren. Unsere örtlichen Heizungsbauer installieren und warten die Wärmetauscher und profitieren so vom Projekt.

Persönlich kann ich für mich feststellen, dass es zielführender war, dass alle im Gemeinderat vertretenen Parteien hinter mir standen, als in erster Linie die Bürgerinnen und Bürger zu überzeugen. Denn nur so konnten diese vielen positiven Veränderungen realisiert werden. Umgekehrt wäre es nicht so gelaufen, da die Wählerinnen und Wähler mir keine Gelder hätten bewilligen können.

Mir ging es immer um die Sache, meine persönlichen Belange waren stets zweitrangig.

Die Klimaschutzbeauftragten bei den Kommunen beklagen oft zu Recht, dass die treibende Kraft fehlt. Deshalb meine Bitte und mein Appell an die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister: Stellen Sie sich an die Spitze und seien Sie die treibende Kraft! Wenn nicht Sie, wer dann kann das so überlebenswichtige Thema für unsere nachfolgenden Generationen voranbringen?

Und zum Schluss ein Statement von Arnold Schwarzenegger auf der Klimakonferenz 2016 in Wien: Don´t talk, Action!


Weiterführende Links:

www.klimastark.de

www.greenITown.de

https://www.ardmediathek.de/suche/Steyerberg/

https://www.kfw.de/stories/steyerberg.html

Masterplan 100% Klimaschutz | Nationale Klimaschutzinitiative des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz

Wie ein Dorf die Energiewende vorantreibt | NDR.de - Nachrichten - NDR Info

Starkregenvorsorge | UAN

Klimapositive Städte und Gemeinden | DGNB (klimapositivestadt.de)

www.wink-beratung.de