Arbeit, Armut und Hunger: Ausdruck der Ungleichheit in Brasilien

Analyse

Der Hunger ist Ausdruck der Ungleichheit, die die brasilianische Bevölkerung seit jeher prägt. Obwohl das Land ausreichend Nahrungsmittel produziert, um seine gesamte Bevölkerung zu versorgen, sorgt die fortbestehende Ungleichheit dafür, dass Millionen von Brasilianern und Brasilianerinnen keinen Zugang zu einer gesunden Ernährung haben. Dieses Problem ist in den vergangenen Jahren gewachsen und bringt schlimme gesundheitliche Folgen für einen beachtlichen Teil der Bevölkerung mit sich.

Ein Getreidefeld in Brasilien
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Es könnten genügend Nahrungsmittel produziert werden, um die gesamte Bevölkerung im Land zu versorgen.

Die brasilianische Gesellschaft ist stark monetarisiert und basiert auf einer umfassenden Arbeitsteilung. Lebensmittel werden fast ausschließlich gekauft, nicht selbst produziert. Die Höhe des Pro-Kopf- und des Familieneinkommens stehen in engem Zusammenhang mit der Ernährungsweise der Menschen bzw. der Familien.

Daten einer Studie des Brasilianischen Instituts für Statistik IBGE zu Familieneinkommen stellen fest, dass mit sinkendem Haushaltseinkommen auch weniger Geld für Lebensmittel ausgegeben wird. 2018 lagen die monatlichen Ausgaben für Lebensmittel bei Familien mit bis zu zwei Mindestlöhnen etwa bei der Hälfte des nationalen Durchschnitts (329 Reais im Vergleich zu 658 Reais). Obwohl die Ausgaben deutlich geringer ausfielen, machten sie dennoch einen größeren Anteil des Gesamteinkommens dieser Einkommensgruppe aus (22% im Vergleich zum nationalen Durchschnitt von 14%). Bereits vor der Pandemie verfügten diese Haushalte über weniger und nicht sehr ausgewogene Lebensmittel: Reis und Bohnen stehen an der Spitze, während Obst, Gemüse und Milchprodukte in geringen Mengen gegessen wurden. In den ärmsten Haushalten des Landes verzichteten bereits vor der Pandemie Millionen von Brasilianer und Brasilianerinnen auf Mahlzeiten.

Um diese Situation zu verstehen, muss ein Blick auf den Arbeitsmarkt geworfen werden, der in Brasilien aus den Strukturen der Sklaverei entstand. Der größte Teil der im Land verfügbaren Arbeitskräfte war besitzlos – ihm wurde Landbesitz und andere Lebensgrundlagen sowie die Kontrolle über die eigene Arbeitskraft verwehrt. Es finden sich unzählige Aufzeichnungen zu den furchtbaren Ernährungsbedingungen, unter denen die versklavten Arbeiter und Arbeiterinnen leben mussten, da die Sklavenherren versuchten, die Kosten für die Reproduktion so gering wie möglich zu halten. Der weit verbreitete Hunger in Brasilien war dem hohen Export der Primärgüter geschuldet, der den „Erfolg“ der kolonialen Wirtschaftsform ausmachte.

Graphik zum Thema Hunger

Seither ist Hunger scheinbar zu einem zwingenden Teil der Wirtschaftsbeziehungen des Landes geworden. Der Wandel der Sklavenarbeit zu einer freien Arbeiterschaft führte nicht etwa zur Überwindung dieses Problems. Das liegt unter anderem auch daran, dass seit der formellen Abschaffung der Sklaverei nicht alle Arbeitskräfte auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt wurden. Das lässt sich an den hohen Arbeitslosigkeits- und Unterbeschäftigungsquoten des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts ablesen. Die höchsten Arbeitslosenzahlen fanden sich bei Frauen und nicht Weißen („pretos e pardos“).

Ein Mindestlohn ohne Standards

Ohne den Zugang zu notwendigen Lebensgrundlagen und ohne die Möglichkeit, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen, wurde ein beachtlicher Teil der Bevölkerung in Misere und Hunger gedrängt. Selbst diejenigen, die formelle oder informelle Arbeit fanden, hatten nie die Gewissheit, dass ihr Einkommen für ein Leben ohne Hunger ausreichen würde. Die Einführung des Mindestlohns konnte daran auch nichts ändern, denn er blieb von Beginn an weit unter dem Wert, den eine Familie tatsächlich für ein nach sozialen Standards angemessenes Leben benötigt.

Daten des IBGE belegen, dass Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und Unterbezahlung den brasilianischen Arbeitsmarkt weiterhin prägen. Im Jahr 2020 lag die Beschäftigungsquote der erwerbsfähigen Bevölkerung (ab 14 Jahren) bei nur 51%. 31,7 Mio. Menschen gehören zu den mit einer zu geringen Stundenzahl unterbeschäftigten (28,3%), arbeitslosen oder zu den potenziellen Arbeitskräften (der erwerbsfähigen, aber nicht aktiv arbeitssuchenden Bevölkerung). Im selben Jahr lebte etwa ein Drittel der Bevölkerung (61,4 Mio. Menschen) von einem Monatseinkommen von bis zu einem halben Mindestlohn (522 Real) und nur 3,4% (7,2 Mio. Menschen) hatten ein monatliches Pro-Kopf-Einkommen von mehr als fünf Mindestlöhnen (5.225 Reais).

Die Entwicklung der Ernährungsunsicherheit

In diesem Hinblick sind die Daten der nationalen Umfrage zu Ernährungsunsicherheit während der Corona-Pandemie in Brasilien, die zwischen November 2021 und April 2022 vom brasilianischen Forschungsnetzwerk für Ernährungs- und Nahrungsmittelsicherheit und Souveränität (Rede Penssan) erhoben wurden, nicht überraschend. Die Anzahl der hungerleidenden Menschen (moderate oder schwere Ernährungsunsicherheit) sowie der von Hunger bedrohten Menschen (milde Ernährungsunsicherheit) ist alarmierend hoch.

Die seit 2004 mithilfe der brasilianischen Skala für Ernährungsunsicherheit (auch Rede Penssan verwendete diese Skala) durch das IBGE erhobenen Daten zeigen auf, dass sowohl Hunger als auch drohender Hunger zwischen 2004 und 2013 sanken. Das kann auf die sinkende Arbeitslosigkeit, die Anpassung des Mindestlohns und auf eine vom Programm „Bolsa Familia“ angeführte Politik für Ernährungssicherheit in diesem Zeitraum zurückgeführt werden.

Graphik zum Thema Hunger

Von 2013 an kam es zu mehreren aufeinanderfolgenden politischen und wirtschaftlichen Krisen, die die Lebensbedingungen für einen großen Teil der brasilianischen Bevölkerung deutlich verschlechterten. Das Ausscheiden von Präsidentin Dilma Rousseff und der später im Präsidentenamt folgende Jair Bolsonaro markierten den Wandel des Regierungsprojekts, dessen Wirtschaftspolitik von nun an nicht mehr auf eine Reduzierung der Armut und den Kampf gegen den Hunger abzielte. Es ist wichtig hervorzuheben, dass 15,9% der Bevölkerung bereits vor der Pandemie Hunger litten (Menge und der Qualität der zur Verfügung stehenden Lebensmittel war eingeschränkt) und 20,7% in Sorge um ihre nächste Mahlzeit waren, da sie zunächst auf Einnahmen für einen nächsten Lebensmitteleinkauf angewiesen waren (Hungerrisiko). Als die Pandemie das Land traf, befand sich die Gesellschaft bereits in einem sehr geschwächten Zustand um den Herausforderungen der notwendigen Abstandsregelungen nachzukommen.

Die Daten von Rede Penssan ermöglichen die Zusammenhänge zwischen der Eingliederung in den Arbeitsmarkt, dem Haushaltseinkommen und Hunger nachzuvollziehen. Bei derselben Umfrage konnte auch in Haushalten mit einem Pro-Kopf-Einkommen von über einem Mindestlohn entweder Hunger (9%) oder ein Hungerrisiko (24%) festgestellt werden. In Bezug auf die Referenzpersonen aus den Haushalten ist zu beobachten, dass die Raten für Hunger und Hungerrisiko unter Arbeitslosen sowie Arbeitenden auf dem informellen Arbeitsmarkt und bei Kleinbauern- und bäuerinnen am höchsten sind. Dennoch sind selbst in den Haushalten, in denen die Referenzperson im Ruhestand oder auf dem formellen Arbeitsmarkt (als Angestellter oder im öffentlichen Dienst) tätig ist, die Zahlen der Hungerleidenden und von Hunger Bedrohten beachtlich.

Die dargestellten Daten zeigen die Korrelation zwischen der Arbeitssituation, dem Hunger und der Armut in Brasilien auf. So wird deutlich, dass der Hunger nicht etwa durch die Pandemie nach Brasilien gebracht wurde und dass die Verschlimmerung ab 2020 auf die fehlenden politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen zur Einhaltung der sozialen Distanzierung zurückzuführen ist und nicht auf die Verbreitung des Virus an sich. Damit bleibt nur festzustellen, dass die Gründe für solch großes Leid in einem politischen und wirtschaftlichen Projekt liegen, was zu Gunsten Wenigster wirkt und bereits historisch für Hunger und Armut in unserem Land verantwortlich war.


Übersetzung aus dem Portugiesischen: Kirsten Grunert

Der Originaltext erschien in der im August 2022 veröffentlichten portugiesischsprachigen Publikation „Poder, Pobreza, Fome“ auf der Seite der Heinrich-Böll-Stiftung Brasilien.

Der deutsche Text wurde von Julia Ziesche und Mareike Bödefeld gekürzt und redigiert.