Afghanen in ihrem Alltag – eine Annäherung

Rezension

Martin Gerner macht im Buch „Finding Afghanistan. Fotografien 2001-2021“ die Menschen nahbar. Er gibt ihnen Gesicht und Würde, ohne Widersprüche zu verschweigen.

Ein junge schreibt auf einem Blatt Papier, das auf dem staubigen Boden liegt.

Atemberaubende Landschaften, traditionell gekleidete Menschen, markante Gesichter: In Afghanistan zu fotografieren ist Dank beeindruckend exotischer Motive nicht schwierig. Doch das Land ist mehr als eine grandiose Fotokulisse und ein Kriegsschauplatz, in dem zuletzt die Nato gescheitert ist. Dort leben Menschen, die trotz widriger Umstände ihrer individuellen Arbeit und Ausbildung nachgehen, die Not und Schmerz erleiden, aber auch Alltagsfreuden kennen. Die immer wieder fliehen müssen, trotzdem auch lächeln können, die sich vom Analphabeten zum Blogger entwickeln, Fußball, Kosmetik oder Theaterspiel für sich entdecken und auf Hochzeiten tanzen. Ihr Leben ist auch in den Jahrzehnten des Krieges weitergegangen – samt den gesellschaftlichen Widersprüchen.

Der Kölner Journalist Marin Gerner hat zwanzig Jahre lang Menschen und Entwicklungen Afghanistans mit der Kamera begleitet. Fotografieren war dabei nur ein Teil seiner Arbeit dort. Denn Gerner hat am Hindukusch immer wieder mit Männern und Frauen in Bildungs- und Kulturprojekten zusammengearbeitet und so ein tieferes Verständnis für Land und Leute entwickelt. Das zeigte schon sein Dokumentarfilm „Generation Kunduz“ (2011) über junge Menschen am damaligen Bundeswehrstandort.

Drei Mädchen schauen auf ein Smartphone

Jetzt hat Gerner einen beeindruckenden Farbfotoband vorgelegt, der ganz andere Bilder liefert als die eingangs geschilderten fotografischen Selbstläufer. Er kommt ihnen auf unaufdringliche Weise nahe. Dabei hält er es im Vorwort für vermessen zu versuchen, „nicht weiß zu fotografieren“, in Anlehnung an die Autorin Charlotte Wiedemann. Die versucht nach eigenen Worten über andere Kulturen „nicht weiß zu schreiben“, also statt auf die Welt durch die europäische Brille zu blicken vielmehr mit den Augen derjenigen zu sehen, über die sie berichtet.

Gerner zeigt dabei auch Schattenseiten wie häusliche Gewalt oder Kinderarbeit, malt aber eben auch nicht schwarz. Er ist kein nur kurz eingeflogener Kriegsfotograf, sondern jemand, der sich dem Land und seinen Bewohnern über Jahre immer wieder nähert. So entdeckt er viele Grautöne in einem Land von Extremen, wie er es nennt. Gerners Buch „Finding Afghanistan“ hat diesen anderen oder – wie er es nennt – „frischen“ Blick.

Ein Mann und sein Sohn blicken in die Kamera.

Man merkt Gerners Farbfotos diese Nähe zu den Menschen an. Die inszeniert er nicht als exotische Objekte für seine Kamera, sondern zeigt sie vielmehr als menschliche Individuen, indem er an ihrem Alltag teilnimmt. So drücken seine Fotos große Menschlichkeit aus, indem er Männern, Frauen, Jugendliche und Kindern in unterschiedlichen Situationen und Facetten lebensnah abbildet und ein Gesicht gibt.

Bei aller Kriegsgewalt, deren Spuren natürlich auch in Gerners Bildern zu sehen sind, gehen die Menschen einen eigenen, oft sehr harten Weg durch ihr Leben. Dabei ästhetisieren und dramatisieren Gerners Bilder nicht. Sie portraitieren die gezeigten Personen in Momentaufnahmen, die von der Not im Überlebenskampf über Coolness wie auch Würde und Stolz bis hin zu Spaß reichen. Das bringt uns die Menschen auf natürliche Art nah – und berührt.

Ein Mann steht mit einem Gewehr hinter einem Tor auf einem Fußballplatz.

Bei den Bildern beeindrucken vor allem solche, bei denen einen Portraitierte direkt anschauen, wie ein behütender Händler mit seiner Tochter oder ein Polizist, der gerade bei einer Ausbildung mit einem Holzgewehr anlegt. Manche zeigen eine Mischung aus trotzigem Stolz und leichter Unsicherheit. Einprägend sind auch die Bilder, in denen die Menschen der massiven Armut oder der harten Realität trotzen. So zeigt ein Foto im Straßendreck weit auseinander hockende Schulkinder, die konzentriert eine Klassenarbeit schreiben.

Unterbrochen werden die Bildstrecken, deren Kapitelaufteilung nicht immer ganz schlüssig ist, von knappen Texten in deutsch und englisch. Darin äußern sich Afghanen und Afghaninnen analytisch, kämpferisch oder biografisch. Es berührt, wenn ein heute in den USA lebender Afghane von seiner Herkunft aus einem armen Dorf berichtet und wie er die Chance des vorher unbekannten Internets ergriff. Unter die Haut gehen auch zwei kurze Ausschnitte. Einer dokumentiert Stimmen aus einem Untersuchungsbericht, was afghanische und amerikanische Soldaten jeweils voneinander denken: Breitseiten gegenseitiger Enttäuschungen, kultureller Missverständnisse und massiver Vorurteile. Schaudern lässt auch eine kurze Szene, in der eine Lehrerin ihrer Klasse die Gefahren unterschiedlicher Minen einbläut.

Ein Mann steht mit Golfschlägern auf einem Golfplatz

Eine Stärke des Buches ist es, dass es zum Abschluss auch Afghanen auf ihrer Flucht nach Europa begleitet, konkret in zwei Flüchtlingslagern in Griechenland und auf der sogenannten Balkanroute. Dort dokumentieren Gerners Bilder Gestrandete einer gescheiterten Politik –  auch Europas. Auch hier zeigt er, das hinter anonymen Statistiken individuelle Menschen stecken.

Die Welt hat sich nach dem Sieg der Taliban 2021 weitgehend von Afghanistan abgewandt. „Finding Afghanistan“ blickt jenseits der exotischen Fotokulisse wie bekannter Kriegsbilder zwanzig Jahre zurück. Ohne Verklärung zeigt der Bildband, dass bei allem politischen Versagen unterschiedlicher Akteure die Menschen dort weiter Interesse, Mitgefühl, Solidarität und Unterstützung verdienen.


Martin Gerner: Finding Afghanistan. Fotografien 2001-2021, 208 Seiten, modo Verlag, Freiburg/Br. 2022, 32 Euro