Kolumbien: Die ersten 100 Tage der neuen Regierung Gustavo Petro

Interview

Knapp drei Monate ist Gustavo Petro als erster linksgerichteter Präsident Kolumbiens im Amt.  Für sein Ziel einen „umfassenden Frieden“ zu erreichen, muss er auch mit der konservativen Elite um Ex-Präsident Álvaro Uribe Vélez verhandeln. Auf internationaler Ebene plädiert er für eine Neuausrichtung der internationalen Drogenpolitik. Die könnte Kolumbien helfen.

Kolumbien

Ein Interview mit Diana Salinas von Knut Henkel

Zu den Eckpfeilern der Agenda der Regierung von Gustavo Petro zählt der „umfassende Frieden“: Petro ist bereit mit allen bewaffneten Akteuren über die Niederlegung der Waffen zu verhandeln. Das ist neu in Kolumbien. Birgt diese Strategie nicht auch enorme Risiken?
Ich denke ja und ein Beispiel dafür ist der historische Pakt zwischen der Regierung von Gustavo Petro und der Vereinigung der Viehzüchter Kolumbiens (FEDEGAN).  Die Regierung kauft, dem Abkommen mit FEDEGAN zufolge, drei Millionen Hektar Weideland ein. Hintergrund ist, dass die Viehzüchter eine wichtige Lobbyorganisation sind, sich 2015 erfolgreich dagegen wehrten, im Friedensabkommen mit der FARC als Finanziers der Paramilitärs und als Mitverantwortliche des Konflikts genannt zu werden. Dass die Regierung von Gustavo Petro nun drei Milliarden kolumbianische Peso (645 Millionen Euro) aufwendet, um Land von diesem Gremium zu kaufen, hat auch mich überrascht.

Warum trifft die Regierung eine Entscheidung, die dafür sorgt, dass die Viehzüchter vor Strafverfolgung wegen der Finanzierung der Paramilitärs leidlich sicher sind und obendrein Geld vom Staat erhalten? Geht es darum, die ersehnte Landreform auf den Weg zu bringen?
Exakt, das scheint das Ziel. Das kann sich als sehr intelligente Strategie erweisen, aber auch zum Bumerang einer Amnestie durch die Hintertür werden. Unstrittig ist, dass dieses Gremium von Paramilitärs durchsetzt ist. Hinzu kommt, dass dieser Pakt vor allem für die Opfer der Paramilitärs überaus schmerzhaft ist. Allerdings soll dieses Land an Familien ohne Land verteilt werden. Das hat Signalcharakter in Kolumbien und erst in ein paar Jahren wird sich zeigen, ob der politische Preis, der gezahlt wurde, zu hoch war. Bisher war die mehrfach geplante Rückgabe von Land stets gescheitert. Nun macht Gustavo Petro einen neuen Anlauf. Der Kauf der Flächen und die Einrichtung eines digitalen Katasters sollen in sechs Monaten abgeschlossen werden. Aber selbst wenn der Zeitplan eingehalten wird, wird es zwei bis drei Jahre dauern bis wirklich mehr Nahrungsmittel auf den Markt gelangen. Und damit die Lebensmittel auch wirklich auf den Märkten ankommen muss in die Infrastruktur investiert werden. All das wird dauern und deshalb sind die Perspektiven für die nächsten Jahre alles andere als positiv. Gleichwohl ist die Verteilung dieser drei Millionen Hektar der Auftakt für die Agrarreform, die die Regierung angekündigt hat und auf die Kolumbien seit Jahrzehnten wartet.

Eine Agrarreform, die auch im Friedensabkommen mit der FARC-Guerilla vereinbart wurde, wurde in Kolumbien immer wieder blockiert. Die Landkonzentration ist jedoch die eigentliche Ursache für die bewaffneten Konflikte, die Kolumbien seit mindestens 1964 in Atem halten. Der Nichtregierungsorganisation Oxfam nach besitzen ein Prozent der Kolumbianer/innen 81 Prozent der Flächen. Wie lässt sich diese Landkonzentration korrigieren?
Das ist eine Schlüsselfrage und die Tatsache, dass die Regierung Land von denjenigen kauft, die für die Vertreibung von Kleinbauern und Kleinbäuerinnen mitverantwortlich sind, belegt den Paradigmenwechsel von der staatlich sanktionierten Landrückgabe zum Landkauf. Entscheidend wird aber sein, wie die Regierung gewährleisten will, dass dieses Land nicht erneut durch Vertreibung in den Händen derjenigen landet, die ohnehin das Gros des Ackerlandes in Kolumbien kontrollieren. Die anstehende Verteilung der drei Millionen Hektar ist aber schon jetzt historisch. So etwas hat es noch nie in Kolumbien gegeben. Das ist ein Erfolg, auf den Petro verweisen kann. Zudem könnte das Abkommen mit der FEDEGAN dafür sorgen, dass der Dialog mit dem Clan del Golfo (paramilitärische Organisation), aber auch mit den Dissident/innen der FARC in Bewegung kommen könnte.

Warum? Geht die Hoffnung auf einen Dialog mit diesen beiden Akteuren nicht eher auf die Rede Gustavo Petros vor den Vereinten Nationen zurück, in der er eine Kehrtwende der gescheiterten Kriminalisierungsstrategie gegen die Produktion und den Schmuggel von Drogen einforderte?
Ja, sowohl als auch. Das Abkommen mit den Viehzüchtern hat Signalcharakter für die paramilitärischen Organisationen, weil sich die Viehzüchter mit der Regierung arrangieren. Dadurch verlieren die Paramilitärs, die genauso wie die FARC-Dissident/innen in den Drogenschmuggel involviert sind, an politischem Rückhalt. Die Initiative für die Legalisierung der Drogen steht im Kontext der Strategie für den „umfassenden Frieden“ von Gustavo Petro. Weniger Kriminalisierung des Drogenanabaus könnte Impulse für die Friedensverhandlungen liefern, so das Kalkül. Schon die Legalisierung von Marihuana in Kolumbien könnte die massiven Konflikte im Norden des Cauca helfen zu beenden. Dort wo Marihuana in großen Mengen angebaut wird ist die FARC aktiv.

Eine riskante Strategie des kolumbianischen Präsidenten. Sie ist obendrein kostspielig, drei Milliarden Peso für Landkauf sind nicht ohne eine Steuerreform zu realisieren. Sind die Vermögenden anders als in der Vergangenheit bereit mehr Steuern zu zahlen, um das Land zu befrieden?
Die Steuerreform bittet diejenigen stärker zur Kasse, die mehr als 10 Millionen Peso (rund 2.000 US-Dollar) im Monat verdienen. Das betrifft rund zwei Prozent der kolumbianischen Bevölkerung. Drei Tage bevor diese Information an die Medien ging, hat sich Präsident Gustavo Petro erneut mit Ex-Präsident  Álvaro Uribe Vélez (2002-2010), der im Land bestens vernetzt und über viel Einfluss gerade im rechten und paramilitärischen Milieu verfügt, getroffen, um über die Steuerreform zu verhandeln. Gustavo Petro setzt auf Kompromisse mit der Opposition und Uribe fungiert hier als Sprachrohr.

Das ist positiv, allerdings reagiert der Finanzmarkt mit einer Talfahrt des kolumbianischen Pesos. Der hat an mehreren Tagen massiv an Wert gegenüber dem US-Dollar verloren, wird derzeit mit 4.924 Peso pro US-Dollar gehandelt und steuert auf die historische Marke von 5.000 Peso pro US-Dollar zu.

Die galoppierende Inflation setzt die Regierung von Gustavo Petro massiv unter Druck. Sie braucht die Steuerreform, um finanziellen Spielraum zu erhalten, gleichzeitig leidet die kolumbianische Wirtschaft massiv unter den negativen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen und benötigt viel Geld, um die potentiellen Friedensabkommen mit der ELN, mit den FARC-Dissident/innen und den Paramilitärs finanzieren zu können. Hinzu kommt die Reaktivierung des im November 2016 unterzeichneten Abkommens mit der FARC-Guerilla, das nach jahrelanger Blockade durch die Regierung von Iván Duque nun im zweiten Anlauf implementiert werden soll.

Zu den strukturellen Reformen gehört auch die Polizei- und Militärreform. Dafür hat der ehemalige Richter und Ex-Vorsitzende der UN-Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala (CICIG) Iván Velásquez im Vorfeld der Wahlen plädiert. Nun muss er den Prozess als Verteidigungsminister selbst lenken - ist das realistisch?
Ja, gerade weil Iván Velásquez als moderat auftretender hartnäckiger Verhandler gilt und die Rechtslage in Kolumbien wie kein anderer kennt. Ich halte es für realistisch, dass er zumindest erreichen wird, dass die Polizei zivile Strukturen erhält und dem Innenministerium statt dem Verteidigungsministerium unterstellt wird. Zudem wird er Reformen innerhalb der Streitkräfte anstoßen, die Fraktionen stärken, die für eine Neuausrichtung hin zu einer Friedensarmee eintreten und sich für die Abkehr der Aufstandsbekämpfungsstrategie stark machen. Klar ist, dass der Etat der Armee nicht wie unter Iván Duque steigen, sondern sinken wird. Reformen sind überfällig, werden aber Zeit brauchen.

Wo sehen Sie die Rolle von Vizepräsidentin Francia Márquez?
Schwer zu sagen, denn die Vizepräsidentschaft hat in Kolumbien traditionell eher dekorativen, statt politisch relevanten Charakter. Folgerichtig muss Francia Márquez ihre Rolle suchen, die Vizepräsidentschaft interpretieren und mit Gustavo Petro verhandeln, wo und wie sie sich engagieren kann. Sie wird das viel diskutierte Gleichstellungsministerium, dessen Aufgabe es sein wird, die Frauenrechte besser durchzusetzen und gesetzlich zu verankern, führen. Ob ein derartiges Ministerium, angesichts der finanziellen Nöte der Regierung, entsprechend ausgestattet wird, wird sich bald zeigen.

Die Regierung Gustavo Petro hat einen grundlegenden Umbau der ökonomischen Strukturen des Landes in Aussicht gestellt. Weg von der Förderung fossiler Ressourcen wie Erdöl, Gas und Kohle, hin zu nachhaltigen Energieträgern. Kann das funktionieren oder gibt es Gegenwind von den Unternehmensverbänden?
Zum einen gibt es Gegenwind, zum anderen ist die zentrale Frage, wie das funktionieren kann?  Wir sind strukturell ein Agrarland, das nicht genug Lebensmittel für die eigene Bevölkerung produziert und Reis und Kartoffeln importiert (beides wurde früher exportiert). Der Wandel zu einem Agrarstaat mit nachhaltigen Strukturen ist eine Notwendigkeit, auch angesichts der permanenten Menschenrechtsverletzungen bei der Förderung von Erdöl, Steinkohle, Nickel oder anderen Rohstoffen. Nur sehe ich bis jetzt kein tragfähiges Konzept.

Noch 2018 hat Gustavo Petro in seinem Regierungsprogramm die Gründung staatlicher Medienunternehmen vorgesehen. Vier Jahre später ist davon nicht mehr die Rede – warum?
Unstrittig ist, dass das kolumbianische Mediensystem reguliert werde sollte. Die Mehrzahl der traditionellen Medienunternehmen befindet sich in den Händen von drei, vier großen Firmenholdings, was politische Einflussnahme in die Berichterstattung ermöglicht. Ich denke, dass Vorschläge zur Regulierung des Mediensektors von unten kommen werden und halte das angesichts der steigenden Zahl von unabhängigen Medienunternehmen für durchaus realistisch. Wir von Cuestión Pública sind nur ein Beispiel unter vielen. Daher begrüße ich es, dass die Regierung von Gustavo Petro sich entschieden hat, nicht aktiv zu werden.


Diana Salinas ist Mitgründerin von Cuestión Pública, einem investigativ arbeitenden Online-Portal. Es deckt Korruption, Klientelismus, aber auch Fehlverhalten der Ordnungskräfte und Justiz auf und analysiert die Performance der ersten linken Regierung Kolumbiens.