„Mit den Menschen des Amazonas für den Amazonas arbeiten“

Interview

Im Oktober hat Brasilien einen neuen Präsidenten gewählt. Auch wenn die Umweltbewegung über den Sieg von Luiz Inácio Lula da Silva erleichtert ist, gibt es lokal große Herausforderungen. Wir sprachen mit Angela Mendes über die Wahlen in Brasilien. Als Tochter des Ende der 1980er ermordeten Kautschuksammlers und Gewerkschaftsführers Chico Mendes setzt sie sich im Bundesstaat Acre für die Menschen und die Umwelt ein.

Blick auf einen Baumstamm
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Die Hoffnung ist, dass politische Institutionen für den Umweltschutz wieder gestärkt werden.

Lisa Kuner: Angela, die Wahlen in Brasilien sind gerade erst vorbei. In deinem Bundesstaat Acre hätte Bolsonaro sie erneut gewonnen. Auch der Gouverneur Gladson Cameli der PP (Partido Progressista), der Bolsonaro unterstützt, wurde direkt im ersten Wahlgang wiedergewählt. Wie erklärst du dir, dass mitten in der Amazonasregion so konservativ gewählt wird?

Angela Mendes: Die Agrarindustrie hier ist sehr stark. Bei der vergangenen Wahl [im Jahr 2018, Anmerkung der Redaktion] haben wir auch eine starke Ablehnung der PT [Arbeiterpartei, Anmerkung der Redaktion] erlebt. In den vergangen vier Jahren wurde die Agrarindustrie weiter gestärkt und es herrschte Straffreiheit in Bezug auf Umweltverbrechen. Diese Faktoren haben dazu geführt, dass Bolsonaro hier so viele Stimmen bekommen hat.

Wie hast du diese Zeit der Wahlen erlebt?

Das war eine sehr schwierige Zeit. Bolsonaro hatte für eine Welle des Hasses gesorgt. Seine Anhänger*innen akzeptieren keine anderen Meinungen, sie sind oft gewalttätig. Darum hatten wir natürlich Angst. Die hat aber nicht dazu geführt, dass wir uns zu Hause verkrochen haben. Es ist nötig für ein freies Brasilien, ohne diese Banditen und diese Gewalt zu kämpfen. Die Demonstrationen nach der Wahl haben unsere Arbeit, unsere Leben hier und auch unsere mentale Gesundheit zusätzlich beeinträchtigt. [Nach den Wahlen gab es an vielen Stellen in Brasilien Demonstrationen und Straßenblockladen, Anmerkung der Redaktion].

POrträt von Angele Mendes auf der Cop27
Angela Mendes spricht auf der COP27.

Was bedeuten diese Wahlen für die Umwelt und für die Amazonasregion?

Bolsonaro wurde zwar nicht gewählt, aber es wurden viele lokale Regierungen, die ihn unterstützen, wiedergewählt. Das ist eine große Gefahr für uns, auch wenn uns die Regierung Lula ein bisschen Hoffnung macht. Aber die lokalen Regierungen hier erkennen den Kampf gegen den Klimawandel und die Rechte von traditionellen und indigenen Völkern nicht an. Hier in Acre zum Beispiel, gibt es keinen Dialog zwischen der Regierung und diesen Gemeinschaften.

Das hört sich bisher alles eher negativ an. Hast du auch Hoffnung für die kommenden vier Jahre unter der Regierung Lula?

Klar. Die Rede, die Lula während der COP27 gehalten hat, hat Mut gemacht. Er hat gesagt, dass er ein Ministerium für die indigenen Völker schaffen wird. Das ist sehr wichtig. Ich finde es allerdings auch wichtig, dass darin auch die Menschen in der Amazonasregion eingeschlossen werden, die bisher immer vergessen wurden, [die sogenannten traditionellen Gemeinschaften].

Was meinst du damit? Was wird dieses Ministerium für die traditionellen Gemeinschaften bedeuten?

Ich hoffe, dass das bedeutet, dass in Zukunft zusammen mit den Menschen des Amazonas für die Amazonasregion gearbeitet wird. Dafür braucht es politische Strukturen und Instrumente, die diejenigen fördern, die immer für die Region gekämpft haben. Das sind Indigene, aber das sind auch Quilombolas oder Flussbewohner*innen oder Nusssammler*innen. All diese traditionellen Gemeinschaften des Waldes zu schützen, bedeutet die Abholzung zu kontrollieren und auch Schutzgebiete einzurichten, denn wir wissen, dass es dort viel seltener zu Gewalt kommt. Die neue Regierung Lula bringt Hoffnung für all das. Sein Übergangsteam ist sehr stark und divers. Darin sind indigene, schwarze, queere Menschen. Alles Gruppen, die in der aktuellen Regierung unterdrückt wurden.

Traditionelle Völker in Brasilien

Neben Indigenen und Quilombolas, den Nachfahren entflohener Sklav*innen, sind in Brasilien auch traditionelle Völker und Gemeinschaften wichtige Minderheiten. Dazu gehören beispielsweise Nusssammler*innen oder Fischer*innen. Aktuell gibt es 28 anerkannte traditionelle Gemeinschaften, die auch rechtlich eine Art Minderheitenschutz genießen. Sie fordern Anerkennung für ihre Territorien, um diese nachhaltig zu bewirtschaften. Anders als beispielsweise indigene Völker, haben die traditionellen Völker keine eigenen Sprachen. Der nationale Rat der traditionellen Völker und Gemeinschaften vertritt diese Völker politisch. Aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen haben die traditionellen Gemeinschaften aber oft konfligierende Interessen.

Was erwartest du sonst noch für die traditionellen Gemeinschaften?

Wir hoffen, dass sich die Beziehung zur Regierung verbessert. Lula hat in der Vergangenheit auch immer mit diesen Gemeinschaften gesprochen. Ein schlimmeres Szenario, als die Regierung Bolsonaro existiert eigentlich nicht. Hoffentlich werden politische Institutionen für den Umweltschutz, wie das IBAMA, wieder gestärkt. Aber am wichtigsten ist es, mit den Menschen vor Ort zu sprechen. Sie wissen am besten, was gebraucht wird.

Was denkst du, was auf die Reservas Extrativistas in den kommenden Jahren zu kommt?

Ich hoffe sehr, dass sich das Model politisch durchsetzt und es rechtliche Klarheit gibt. Bisher existieren diese Schutzgebiete nur in Brasilien. Sie sind wichtig, um das Leben der traditionellen Gemeinschaften zu schützen, aber auch um den Wald auf den Beinen und intakt zu halten. Das ist, was mein Vater immer sagte: „Der intakte Wald ist mehr wert als der Wald am Boden“. Sein ganzes Leben hat mein Vater den Wald, aber auch die Lebensweise der Kautschuksammler*innen verteidigt. Wir hoffen, dass neue Schutzgebiete ausgezeichnet werden und dass die Gemeinschaften darin politisch unterstützt werden.

In der politischen Diskussion fällt aktuell oft, der Name von Marina Silva. Was erwartest du von ihr in den kommenden Jahren?

Marina hat ein wahnsinniges Potenzial. Sie hat schon in der Vergangenheit bewiesen, welche wichtige Arbeit sie macht. Ich hoffe, dass sie sich weiter für die Umwelt einsetzt. Aber nicht nur das: Sie kommt aus einer Kautschuksammlerfamilie, sie kennt den Wald und das Leben der Gemeinschaften und weiß, welche Politik gebraucht wird.

Wie würdest du die aktuelle Situation in Acre nach den Wahlen beschreiben?

Auf Bundesebene wurden zwar wichtige Menschen, besonders Frauen für die Umweltbewegung gewählt, aber auch die „Fraktion des Todes“ ist noch immer stark. Besonders hier in Acre. Hier haben wir es nicht geschafft eine einzige Person zu wählen, die sozialökologische Ziele für uns vertritt. Das ist ein Problem.

Bei meinen Recherchen ist mir immer wieder aufgefallen, dass in traditionellen Gemeinschaften und in der Umweltbewegung im Allgemeinen oft Frauen an vorderster Front stehen. Siehst du das auch so? Wie kannst du dir das erklären?

Ja, das ist in Acre auch so. Hier kämpfen viele, unglaubliche Frauen. Ich will gar keine Namen nennen, um niemanden zu vergessen. Die Frauen erleben die Veränderungen, beispielsweise durch die Klimakrise, stärker. Frauen kümmern sich um das Zuhause, um die Kinder – selbst unabhängige Frauen, die außerhalb des Hauses arbeiten - und bemerken die Probleme. Das führt dazu, dass die Frauen aufstehen und für ihre Interessen und die Umwelt kämpfen.

Es gibt aktuell viele Berichte, dass an einigen Stellen die Abholzung jetzt kurz vor dem Ende der Regierung Bolsonaro nochmal stark zu nimmt, kurz bevor sich die politische Haltung dazu ändern könnte. Kannst du das auch in Acre beobachten?

Ja. Speziell im Schutzgebiet RESEX Chico Mendes hat die Abholzung jedes Jahr zugenommen. Dieses Jahr gab es einen neuen Rekord von Waldbränden. Bolsonaro wird bis zum 31. Dezember dazu ermutigen und so lange wird das so weitergehen. Die Gewalt hat auch zugenommen.

Reservas Extrativistas (RESEX) - Extraktivismus Schutzgebiete

Die sogenannten RESEX sind Schutzgebiete in Brasilien, die die lokale Bevölkerung nachhaltig auch für Extraktivismus (beispielsweise zum Zapfen von Kautschuk oder Sammeln von Nüssen) nutzen kann. Rechtlich existiert die RESEX als Schutzgebiete seit 2007, die meisten davon befinden sich im amazonischen Regenwald.

Kurz vor den Wahlen warst du in Europa. Welche Rolle spielen Europa und die internationale Kooperation für dich?

Ich will darauf aufmerksam machen, dass auch die europäische Gesellschaft Verantwortung für große, globale Konflikte hat. Soja oder Holz werden exportiert, um die Nachfrage dort zu stillen. Die europäische Gemeinschaft muss also auch darauf achten, dass diese Produkte nicht Frucht von Gewalt oder Abholzung sind.

Vielen Dank für das Gespräch.