Verhaftet, abgeschoben, ausgebürgert: In Nicaragua wächst die Unterdrückung

Kommentar

Das nicaraguanische Regime entzieht Oppositionellen die Staatsbürgerschaft und schaltet politische Konkurrent*innen durch Verhaftungen aus. Die Vereinten Nationen haben Anfang April das Mandat der Gruppe von Menschenrechtsexpert*innen zu Nicaragua verlängert. Wer gegen den Ortega-Murillo-Clan die Stimme erhebt, lebt in Gefahr – wie die Menschenrechtlerin Vilma Nunez und der Bischof Rolando Alvarez.

Menschen demonstrieren auf der Straße

Es ist ein ungewöhnlicher Moment, der sich vor laufender Kamera am 19. Februar 2023 in den TV-Nachrichten des spanischen Senders RTVE Noticias abspielt. Studiogast ist Gioconda Belli, eine auch in Europa bekannte nicaraguanische Schriftstellerin. Sie hält ihren Pass in die Kamera und erzählt, dass sie dieses Dokument gleich zerstören werde, da es nicht ihre Identität ausmache.

„Ich bin Gioconda Belli, eine nicaraguanische Dichterin. Wenn die Geschichte diese Tyrannen vergessen hat, werde ich immer noch als nicaraguanische Dichterin in meinen Büchern stehen.“

Bei diesen Worten greift sie zur Schere und zerschneidet in aller Ruhe eine Seite ihres nicaraguanischen Passes. Auch ohne dieses ihr abgesprochene Dokument würde sie nicht vergessen, wer sie sei, da es nicht der nicaraguanische Pass sei, der sie zu einer Nicaraguanerin mache.

Was veranlasst die charismatische Schriftstellerin, die seit den 1980er Jahren auch in Deutschland bei ihren Lesungen die Säle füllt, zu diesem Schritt?

Am 15. Februar 2023 erfahren Gioconda Belli und 93 weitere Nicaraguaner*innen, dass ihnen das Berufungsgericht in der nicaraguanischen Hauptstadt Managua die Staatsbürgerschaft entzogen hat.

Wenige Tage zuvor, am 9. Februar, wurden bereits 222 politische Gefangene völlig überraschend direkt aus ihren Zellen in die USA abgeschoben. Die meisten von ihnen saßen seit Sommer bzw. Herbst 2021 in nicaraguanischen Gefängnissen unter folterähnlichen Bedingungen, völlig isoliert und unzureichend medizinisch und mit Essen versorgt. Viele von Ihnen wurden in einer massiven Repressionsphase vor der letzten Präsidentschaftswahl im November 2021 festgenommen. Damals reichten schon kritische Tweets, um wegen vermeintlichen Vaterlandsverrats weggesperrt zu werden.

Auch sieben Gegenkandidat*innen für das Präsidentenamt schaltete der amtierende Präsident Daniel Ortega durch Verhaftungen aus. So „gewann“ Ortega erneut die international als Farce bezeichnete Wahl und ließ sich im Januar 2022 – zum vierten Mal in Folge – als Präsident küren. Seine Frau Rosario Murillo wurde zum zweiten Mal in Folge Vizepräsidentin. Dem Ehepaar, oder besser ausgedrückt, dem Ortega-Murillo-Regime werden Menschenrechtsverletzungen und auch die Untergrabung der Demokratie und des Rechtsstaates vorgeworfen, weshalb sowohl die USA wie auch die Europäische Union Sanktionen gegen das Regime verhängte.

Im April 2018 wehrten sich Student*innen gemeinsam mit Rentner*innen gegen eine Rentenreform, durch die die Bezüge stark gekürzt worden wären. Darauf reagierte das Ortega-Murillo-Regime mit Polizei und sandinistischen Schlägertrupps äußerst brutal. In der Folge solidarisierten sich Kirchenvertreter, Gewerkschaften und alle möglichen gesellschaftlichen Gruppierungen mit den Demonstrierenden. Längst ging es dabei nicht nur um die Rentenreform, es formierte sich ein Aufstand gegen die Familiendynastie Ortega-Murillo. Doch es gelang dem Regime, mit gnadenloser Härte und Gewalt diese Bewegung zu zerschlagen. Die Repressionswelle von 2018 hinterließ über 350 Tote, weit über 3.000 Verletzte und Hunderttausende, die geflüchtet sind. Bis Anfang 2023 ordnete das Regime in der Folge die Schließung von 3.273 Nichtregierungsorganisationen an.

Ausbürgerung als weitere Eskalation des repressiven Systems

Nachdem die 222 ehemaligen politischen Gefangenen in den USA ankamen, wurden ihnen vom nicaraguanischen Parlament am 10. Februar ihre politischen Rechte auf Lebenszeit und ihre Staatsbürgerschaft entzogen. Für diesen massiven Eingriff in das Leben der Betroffenen – beispiellos in der modernen Geschichte des Völkerrechts - wurde eigens im Nachhinein kurzfristig die Verfassung verfassungswidrig angepasst. Sie sind nun staatenlos in den USA. Spanien reagierte sofort und bot den Abgeschobenen die spanische Staatsbürgerschaft an. Wenig später folgten auch Chile, Argentinien, Kolumbien, Mexiko und Brasilien dieser Offerte. Jede*r einzelne wird für sich nun Zukunftslösungen finden müssen, wird entscheiden müssen, wo er*sie sich niederlassen  und einbürgern lassen will. Die Herausforderung ist groß und für viele von ihnen, vor allem für die  Älteren, wird diese Planung des neuen Lebens in der Fremde nicht einfach sein. Sie werden dafür langfristig Unterstützung benötigen, da ihnen sowohl die Rente gestrichen als auch ihr Besitz konfisziert wurde.

Der Bischof Rolando Alvarez, der mit der Gruppe in die USA abgeschoben werden sollte, weigerte sich, das Abschiebedokument zu unterschreiben. Seit August letzten Jahres stand er wegen öffentlich geäußerter Kritik am Ortega-Murillo-Regime unter Hausarrest. Unmittelbar nach seiner Weigerung wurde er in einem Schnellverfahren zu 26 Jahren und vier Monaten Haft verurteilt und ins Gefängnis verbracht. Anklagepunkte: Ungehorsam, Untergrabung der nationalen Integrität und weitere Delikte. Nach diesem Urteil verglich Papst Franziskus im März 2023 das Ortega-Regime öffentlich mit der Hitler-Diktatur, woraufhin Ortega den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Vatikan anordnete.

Die Ausbürgerungen von über 300 Menschen ist eine weitere Stufe der Eskalation. Mit diesen Maßnahmen will das Ortega-Murillo-Regime Oppositionellen und Kritiker*innen innerhalb des Landes auch den letzten verbliebenen, kaum noch sichtbaren Raum für regierungskritische Äußerungen oder Aktionen nehmen. Denn Entzug der Staatsbürgerschaft heißt nicht alleine Pass-Entzug und als staatenlose Menschen unterwegs zu sein. Ihr Vermögen, ihre Immobilien oder andere Güter wurden konfisziert. Darüber hinaus wurden die vorhandenen Daten in den Ämtern gelöscht, wie beispielsweise auch die Geburtsurkunden. Ihre Geschichte ist damit gestrichen, ebenso wie ihre Krankenversorgung und bei den älteren Menschen auch deren Pensionsansprüche.

Die Ausbürgerung sei eine verschärfte Form politischer Verfolgung, schreibt Professor Kai Ambos, der an der Universität Göttingen Straf- und Völkerrecht lehrt und Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag ist. Ausführlich analysiert er diesen beispiellosen Vorgang im Verfassungsblog. Damit würde nichts weiter als die anhaltende Kritik dieser Menschen an der „Ortega-Murillo-Diktatur“ bestraft. Dies sei

„ein klarer Fall politischer Verfolgung durch eine Familiendiktatur, in der alle Macht beim Präsidenten (Ex-Revolutionär Daniel Ortega) und der Vizepräsidentin (seiner Ehefrau Rosario Murillo) zusammenläuft und die Rechtsstaatlichkeit systematisch – bei völliger Kontrolle und Instrumentalisierung der Justiz – ausgehöhlt worden ist.“

Betroffen davon sind Schriftsteller*innen und Jurist*innen ebenso wie Diplomat*innen, Kirchenvertreter, Journalist*innen und Menschenrechtsaktivist*innen.

Vilma Nuñez – ein Leben für die Menschenrechte

Neben Bischof Alvarez gehört zu der Gruppe der 94 Personen, denen am 15. Februar 2023 die Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, auch Vilma Nuñez. Sie sind die einzigen aus der Gruppe, die noch in Nicaragua leben.. Die 84-jährige Vilma Nuñez ist eine international anerkannte Menschenrechtsaktivistin und Präsidentin des unabhängigen Nicaraguanischen Zentrums für Menschenrechte / CENIDH. 2019 hatte sie den Internationalen Bremer Friedenspreis der Stiftung "die schwelle" für ihr Engagement für Menschenrechte in Nicaragua erhalten.

Ein Blick in die Geschichte von Vilma Nuñez zeigt ihre ehemalige enge Verbindung zur früheren FSLN - Frente Sandinista de Liberación Nacional, der sandinistischen Befreiungsfront, und zur Menschenrechtsarbeit.

Mitte der 1970er Jahre hatte sich Nuñez als Jurastudentin der FSLN angeschlossen und gründete 1978, noch vor dem Triumph gegen das diktatorische Somoza-Regime, eine erste Regionalgruppe der Permanenten Kommission der Menschenrechte in Nicaragua. Durch ihre Teilnahme an Protesten wurde sie festgenommen und in Somozas Kerkern gefoltert. Nach dem erfolgreichen Aufstand der Sandinisten im Sommer 1979 wollte auch sie ein freies und gerechtes Nicaragua mit aufbauen und arbeitete bis 1987 als stellvertretende Vorsitzende des Obersten Gerichtshofs, bevor sie dann die Leitung der Nationalen Menschenrechtskommission übernahm.

1990 verloren die Sandinist*innen die Wahl. In diesem Jahr gründete Vilma Nuñez die unabhängige Menschenrechtsorganisation CENIDH und setzte sich seither für die Wahrung aller Menschenrechte ein. Dabei macht sie keinen Unterschied zwischen den politischen und bürgerlichen sowie den wirtschaftlichen, den sozialen und kulturellen Menschenrechten. Von der FSLN distanzierte sie sich langsam seit den 1990er Jahren bis hin zur klaren Opposition in den 2000er Jahren. Doch der Menschenrechtsarbeit blieb sie bis heute zutiefst verbunden.

Während der Repressionen von 2018 wurde auch CENIDH die juristische Person entzogen und die Organisation verboten. Das Bürogebäude wurde enteignet und in einer nächtlichen Überfallaktion konfiszierten Sicherheitskräfte die komplette Ausstattung des Büros, auch die Dokumente und Fahrzeuge.

Die meisten Mitarbeiter*innen flüchteten nach Costa Rica und arbeiten von dort aus in ihrer neu gegründeten Menschenrechtsorganisation weiter. Nicht so Vilma Nuñez. Sie beschloss trotz dieser staatlichen Repression in Managua zu bleiben und sich weiterhin vor Ort für Menschenrechte einzusetzen.

Nun ist Vilma Nuñez staatenlos in einem Staat, der Menschenrechte missachtet, in dem Willkür herrscht und Menschen misshandelt, gefoltert und ihrer Rechte beraubt werden.

Die Sorge um die 84-jährige Menschenrechtsaktivistin ist groß, vor allem bei all denjenigen, mit denen sie in den vergangenen Jahrzehnten über alle Grenzen hinweg zusammengearbeitet hat. Im Raum steht die Frage: Was wird das Regime mit ihr machen? Ein Regime, das in den vergangenen Jahren wiederholt gezeigt hat, dass es nicht bereit ist, Menschenrechte zu schützen. Werden sie sie gegen ihren Willen des Landes verweisen? Sie einsperren in eine Zelle ohne Licht? Werden sie sie isolieren und unter Hausarrest stellen? Mit Kontaktsperren? Werden sie ihr Konto konfiszieren, nachdem ihre Pension ihr bereits gestrichen wurde? Wird sie gesundheitlich versorgt werden können? Werden sie sie ins gesellschaftliche Abseits stellen, der Würde und des Lebens beraubt?
Am 2. März 2023 verkündet eine Experte*innengruppe der UN-Menschenrechtskommission, die Regierung Nicaraguas begehe „aus politischen Gründen weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen“ und fordert daher die internationale Gemeinschaft auf: „Sanktionen gegen die beteiligten Institutionen oder Personen zu verhängen“.
Weiter heißt es in der Erklärung: Die mutmaßlichen Verstöße - darunter außergerichtliche Hinrichtungen, willkürliche Verhaftungen, Folter, willkürlicher Entzug der Staatsangehörigkeit und des Rechts, im eigenen Land zu bleiben - seien kein isoliertes Phänomen, sondern das Ergebnis der bewussten Demontage demokratischer Institutionen und der Zerstörung des zivilen und demokratischen Raums.

Wird es der internationalen Gemeinschaft gelingen, Personen wie Vilma Nuñez in dieser aktuellen Situation vor weiterer willkürlicher Repression zu schützen? Welche Sanktionen oder anderer politischer Druck sind wirksam und umsetzbar, um die Willkür des Ortega-Murillo-Regimes zu stoppen?