Fusion vor 30 Jahren: Aus Bündnis 90 und Die Grünen wurde Bündnis 90/Die Grünen

Hintergrund

Vor 30 Jahren besiegelten Bündnis 90 und Die Grünen ihr Zusammengehen. Den Prozess der Assoziation gestalteten sie auf Augenhöhe. Die Integration der ostdeutschen Bürgerbewegung scheiterte dennoch weitgehend. Die nachhaltigen Erfolge der Fusion zeigten sich erst verzögert.

Grafik: Sonnenblumenstrauß für 30 Jahre Bündnis 90/Die Grünen

Fast dreißig Jahre nach der Fusion von Bündnis 90 und Die Grünen schien es, als würde sich die Parteiführung an den Teil ihres Namens vor dem Schrägstrich erinnern: Im Vorlauf der Bundestagswahl von 2021 präsentierte der damalige Parteivorsitzende Robert Habeck seine Partei als „Bündnispartei“ (Habeck 2019), die für Offenheit gegenüber lagerübergreifenden Bündnissen stünde, um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen anzugehen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Geschichte von Bündnis 90 und der Fusion findet bei den Grünen meist nur statt, wenn Jubiläen anstehen – so wie nun im Mai 2023: Vor genau dreißig Jahren, Mitte Mai 1993, vollzogen das Bündnis 90 und die Grünen auf einem Parteitag in Leipzig offiziell die „Assoziation“ zur „Schrägstrichpartei“ (Schulz 2001, S. 142) Bündnis 90/Die Grünen.

Der Versuch, alles richtig zu machen

Der Fusionsparteitag in der Messehalle 7 in Leipzig war dabei nur der formale Schlusspunkt einer ungefähr dreijährigen Entwicklung inklusive eines fast anderthalb Jahre dauernden Prozesses des Zusammengehens zweier Parteien, die sich selbst das Ziel gesetzt hatten, eine Fusion auf Augenhöhe zu gestalten. Die westdeutsche Öko-Partei und der ostdeutsche Zusammenschluss mehrerer ostdeutscher Organisationen, die sich in Abgrenzung zu den etablierten Parteien als „Bürgerbewegung“ verstanden, wollten ihre Fusion anders durchführen, als die deutsche Wiedervereinigung abgelaufen war. Kein „Anschluss a là Artikel 23“ (Weiß 1992) Grundgesetz, sondern ein gemeinsames, neues Ost-West-Projekt sollte es werden. Damit wollten sich die Befürworter*innen des Zusammenschlusses abgrenzen von der schnell verflogenen Beitrittseuphorie des Jahres 1990, als sich scheinbar „im Osten fast alles, dagegen im Westen fast nichts“ (Ther 2016, S. 13) geändert und sich die Regeln, Institutionen und Organisationen der Bundesrepublik auf das Gebiet der DDR ausgedehnt hatten. Generalstabsmäßig hatten Grüne und Bündnis 90 Verhandlungskommissionen, Delegiertenkonferenzen und Urabstimmungen geplant, damit niemand hinterher sagen konnte, es sei nicht fair, transparent und gleichberechtigt zugegangen auf dem Weg zum Fusionsparteitag in Leipzig 1993. Dort wählten sie schließlich das Ost-West-Sprecher*innen-Duo Marianne Birthler und Ludger Volmer und feierten sich auch ein wenig dafür, den eigenen Anspruch erfüllt zu haben. Das kleine Bündnis 90 erhielt einige Sonderrechte, wie einen vorteilhaften Delegiertenschlüssel für Parteitage, ein Veto-Recht im Länderrat und die Möglichkeit, sich weiterhin eigenständig im innerparteilichen „Forum Bürgerbewegung“ zu organisieren. Darüber hinaus orientierten sich der Tonfall und die Schwerpunkte der Assoziationspapiere ziemlich stark am Bündnis 90, deren rund 2.600 Mitglieder auf mehr als zehnmal so viele Grüne trafen.

Warum die Grünen das Bündnis 90 benötigten

Dass die Parteibasis der Grünen dem kleinen Bündnis 90 so viele Zugeständnisse einräumte, hatte mehrere Gründe. Die Grünen waren durch den Umbruch in der DDR und die deutsche Wiedervereinigung in eine tiefe Krise geraten. Bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 scheiterten sie an der Fünfprozenthürde. In dieser Phase verließen einige prominente Führungsfiguren die tief zerstrittene Partei, in der die Grabenkämpfe zwischen „Fundis“ und „Realos“ existenzbedrohende Ausmaße angenommen hatten. Die verbliebenen Grünen erkannten, dass tiefgreifende Parteireformen nötig waren, um das eigene politische Überleben zu sichern. Dazu gehörte die Suche nach Partner*innen in den „neuen“ Bundesländern. Darüber hinaus existierte in den westdeutschen links-alternativen Kreisen auch ein gewisser Respekt gegenüber den Gruppen der DDR-Bürgerbewegung, die sie als Träger des revolutionären Umbruchs gegen das autoritäre SED-Regime wahrnahmen. Thematische und ideelle Überschneidungen hatte es ja sowieso zwischen den Grünen und den politisch-alternativen Gruppen in der DDR gegeben, aus denen die Vorgängerorganisationen des Bündnis 90 hervorgegangen waren. Außerdem war der Größenunterschied zwischen Grünen und Bündnis 90 so eklatant, dass die Grünen die Partei inhaltlich auch trotz der Sonderrechte für das Bündnis 90 weitgehend dominieren konnten. Um die Unterstützung der westlichen Parteibasis für die Assoziation zu garantieren, hatten die Assoziationspapiere zudem eine strukturelle Hintertür eingebaut: Der neue Grundkonsens löste nicht die existierenden Grundsatzprogramme ab, sondern sollte parallel zu diesen existieren, sodass sich die Mitglieder im Prinzip je nach eigener Präferenz auf unterschiedliche Grundlagen berufen konnten (Vgl. Assoziationsvertrag, S. 29).

Was war eigentlich das Bündnis 90?

Doch mit wem genau fusionierten die Grünen vor dreißig Jahren eigentlich? Im Bündnis 90 versammelten sich vor allem die Vertreter*innen der DDR-Oppositionsgruppen, die sich im Herbst 1989 im Umbruch zur Bürgerbewegung zusammengetan hatten. Genau genommen handelte es sich um die Initiative Frieden und Menschenrechte, Demokratie Jetzt und ungefähr die Hälfte der Mitglieder des Neuen Forums, die im September 1991 die Partei Bündnis 90 gegründet hatten. In seiner Rede für das Zusammengehen mit den Grünen auf der Bündnis-90-BDK im Januar 1993 in Hannover zeichnete Gerd Poppe eine gerade Linie von den gemeinsamen Initiativen der Ost-Berliner Oppositionsszene mit Teilen der Grünen um Petra Kelly im Zuge der blockübergreifenden Friedensbewegung am Anfang der 1980er Jahre hin zum Assoziationsvertrag von 1993 (Poppe 2001, S. 87-96). Tatsächlich lagen die Wurzeln des Bündnis 90 im friedens- und umweltbewegten politisch-alternativen Milieu der DDR-Großstädte, das sich seit den frühen 1980er Jahren stark an den westdeutschen Grünen orientiert hatte. Doch die Partei Bündnis 90, die nun mit den Grünen zusammenging, war das Ergebnis eines komplizierten Prozesses der kontinuierlichen Ausdifferenzierung und Spaltung im Umfeld der Bürgerbewegungen des Herbstes 1989. Viele prominente Oppositionsvertreter*innen waren seitdem in anderen Parteien und Organisationen gelandet oder hatten der aktiven Politik den Rücken gekehrt. Dafür spielten im Bündnis 90 auch Personen eine Rolle, die eben nicht aus der aktiven oppositionellen Szene der 1980er stammten, sondern erst im Herbst 1989 politisiert oder aktiv geworden waren.

Nach der Fusion: schnelle Ernüchterung und nachhaltige Wirkung

Nach der Assoziation im Jahr 1993 gelangte die fusionierte Partei zurück in die Erfolgsspur. 1994 gelang die Rückkehr in Fraktionsstärke in den Bundestag. Vier Jahre später schaffte sie die erste Regierungsbeteiligung auf Bundesebene. Bei den ostdeutschen Landesverbänden und den vormaligen Bündnis-90-Mitgliedern machte sich dagegen schnell Ernüchterung breit. Die Wahlergebnisse im Osten waren schlecht. Die klassischen Grünen-Wähler*innen-Milieus waren im Osten viel kleiner als in den „alten“ Bundesländern. Mitte der 1990er gab es fast keine bündnis-grünen Landtagsfraktionen in den „neuen“ Bundesländern. Die ostdeutschen Landesverbände blieben schwach. Die Partei wurde personell und inhaltlich weiter von West-Grünen dominiert. Es zeigten sich schnell mehrere grundlegende Probleme für Bündnis 90/Die Grünen im Osten. Zum einen hatte die Assoziation den Konstruktionsfehler, dass sie von Bundesverbänden verhandelt und durchgesetzt worden war – aber umsetzen mussten sie nun die kleinen Landesverbände vor Ort, die oftmals zerstritten waren. Die in den Fusionsdokumenten eingeräumten innerparteilichen Sonderrechte für die Ost-Verbände entfalteten so kaum ihre erhoffte Wirkung. Der Ost-Teil der Partei war auf Entwicklungshilfen der Partei aus dem Westen angewiesen.

Erst im Rückblick mit einigem zeitlichen Abstand zeigten sich auf manchen Gebieten nachhaltige Wirkungen des Bündnis 90 auf die Partei. Der Wandel der Grünen von einer Friedens- zu einer entschiedenen Menschenrechtspartei etwa ist unter anderem eng verbunden mit dem Wirken von Gerd Poppe im Bundestag über die 1990er Jahre hinweg. Die Öffnung der Grünen für Themen wie Industrie- und Standortpolitik verdankten sie unter anderem Werner Schulz, der sich im Bundestag mit den Folgen der ostdeutschen Deindustrialisierung beschäftigte.

Insgesamt spielte das Zusammengehen mit dem Bündnis 90 eine Rolle im größeren Reformprozess der Grünen, der die Partei zu einer berechenbaren politischen Kraft machte, die in verschiedenen Bündnis-Konstellationen anschlussfähig an gesamtgesellschaftliche Mehrheiten wurde. Die meisten Vertreter*innen des Bündnis 90 hatten die Partei jedoch bereits enttäuscht verlassen oder ihre parteipolitischen Karrieren beendet, als diese Auswirkungen der Fusion voll zum Tragen kamen.


Literaturhinweise

Habeck, R. (2019): Sich öffnen ist die Stärke. Orientierung geben und handlungsfähig werden für die Zeit nach den Volksparteien: ein Blog zum Zwischenbericht unseres Grundsatzprogramms [Stand: 30.05.2023].

Schulz, W. (2001): Ach, du grüne 90! In: Schulz, W./Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Der Bündnis-Fall. Politische Perspektiven 10 Jahre nach der Gründung des Bündnis 90. Bremen: Edition Temmen, S. 135-143.

Weiß, K. (1992): Pressemitteilung „Zur Äußerungen [sic] der Politischen Geschäftsführerin der GRÜNEN zu Bedingungen des Zusammenschlusses mit BÜNDNIS 90“ vom 30.04.1992. In: Archiv Grünes Gedächtnis B.II.2 Signatur 282.

Ther, Ph. (2016): Neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. Berlin: Suhrkamp.

Assoziationsvertrag zwischen BÜNDNIS 90 und DIE GRÜNEN. In: Archiv Grünes Gedächtnis B.II.2 Sign. 122.

Poppe, G. (2001): Nicht nur eine Addition … In: Schulz, W./Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.): Der Bündnis-Fall. Politische Perspektiven 10 Jahre nach der Gründung des Bündnis 90. Bremen: Edition Temmen, S. 87-96.