"Was derzeit im Senegal geschieht, ist ein Konflikt der Generationen"

Interview

Die Verurteilung des senegalesischen Oppositionsführers Ousmane Sonko am 1. Juni 2023 hat in mehreren Städten des Landes zu gewalttätigen Ausschreitungen geführt. Wie kam es zu den gewaltsamen Protesten und warum gehen so viele junge Menschen auf die Straße und riskieren dabei sogar ihr Leben? Ein Gespräch mit Dr. Cheikh Ahmed Bamba Diagne.

Protest in Senegal März 2021

Anfang Juni erlebte der Senegal eine beispiellose Welle an Gewalt. Dabei kam es laut Amnesty International zu 23 Todesfällen, 390 Verletzten und über 500 Festnahmen durch die Sicherheitskräfte. Was war der Auslöser dieser tragischen Ereignisse?

Dr. Cheikh Ahmed Bamba Diagne: Am 1. Juni wurde der Oppositionsführer Ousmane Sonko zu einer zweijährigen Haftstrafe in einem langen und sehr umstrittenen Gerichtsverfahren verurteilt. Anfang 2021 erhob die junge Masseurin Adji Sarr schwere Vorwürfe gegen Ousmanke Sonko, den sie der Vergewaltigung und Morddrohungen bezichtigte. Obwohl das Gericht zu dem Schluss kam, dass weder Vergewaltigung noch Todesdrohungen vorlagen, wurde Sonko am Ende wegen "Verführung der Jugend" für schuldig befunden. Die Umsetzung des Urteils könnte erhebliche politische Konsequenzen haben, da Ousmane Sonko gemäß dem Wahlgesetz von den nächsten Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen wäre. Seine Verurteilung führte sofort zu Protesten. Das Urteil wird von vielen Senegales*innen als ungerechtfertigt angesehen und sie vermuten dahinter eine politische Intrige. In vielen Städten im Senegal brachen deshalb gewaltsame Unruhen aus.

Es handelt sich um einen Strafprozess zwischen zwei Privatpersonen mit schweren Anschuldigungen seitens des Opfers. Wie konnte sich dieser private Rechtsstreit zu einem derartigen Politikum entwickeln?

Viele Senegales*innen vermuten, dass Präsident Macky Sall die politische Strategie verfolgt, mithilfe des Justizsystems aussichtsreiche politische Gegner auszuschalten. Bei den Wahlen 2019 wurden zum Beispiel 19 Kandidat*innen aufgrund der erforderlichen Unterstützungsunterschriften ausgeschlossen. Zwei der Hauptkonkurrenten, Karim Wade und Khalifa Sall, wurden im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen aus rechtlichen Gründen ausgeschlossen, während andere Gegenspieler wie Idrissa Seck, Cheikh Issa Sall oder Madické Niang nach den Wahlen zum Regierungslager überliefen. Viele Menschen finden es auffällig, dass Ousmane Sonko, der bei den Präsidentschaftswahlen 2019 aus dem Stand knapp 16 Prozent der Stimmen holte, immer wieder mit juristischen Klagen konfrontiert wird, sobald er eine seiner Bürgerkonsultationen abhält (in Wolof: "Némekoutour"). Ein Muster scheint sich abzuzeichnen: Entweder geraten Oppositionelle in juristische Konflikte oder sie schließen sich der Regierungspartei an. Ein starker politischer Gegenspieler wird vom Präsidenten hingegen nicht toleriert. Daher wurde dieser ursprünglich private Fall zu einer politischen Angelegenheit im Senegal.

Warum weckt der Politiker Ousmane Sonko so große Hoffnungen in der senegalesischen Bevölkerung? Insbesondere von der Jugend wird er verehrt und sie folgen seinen Aufrufen, sich zur Wehr zu setzen und Widerstand zu leisten.

In einer Zeit, in der der Anteil der unter 20-Jährigen die Hälfte der Bevölkerung ausmacht und die politische Klasse vielfach überaltert ist, fühlen sich zahlreiche junge Menschen nicht ausreichend repräsentiert. Was derzeit im Senegal geschieht, ist im Grunde ein Generationenkonflikt. Diejenigen, die an der Macht sind, verstehen die junge Generation nicht mehr. Ousmane Sonko ist dagegen mit seinen 48 Jahren ein vergleichsweise junger Politiker. Er spricht die Sprache der Jugend, genießt ihr Vertrauen und hat die sozialen Medien erobert. Die jungen Menschen sehen in ihm einen integren Mann, der gegen Korruption und soziale Ungerechtigkeit kämpft und eine andere Gesellschaftsvision verkörpert.

Im Jahr 2021 gab es bereits umfangreiche Proteste im Senegal, die zu tödlichen Ausschreitungen führten. Welche Gründe liegen den aktuellen Protesten der Menschen im Senegal zugrunde und welche politischen Forderungen stellen sie diesmal?

Viele Menschen stellen fest, dass unter der aktuellen Regierung die versprochenen Verbesserungen ihrer Lebensumstände ausbleiben, während die politische Elite sich auf Kosten des Gemeinwohls bereichert und sich ungestraft in Korruption verstrickt. Ousmane Sonko greift den Wunsch nach einem Bruch mit diesem System auf. Die jungen Menschen fordern eine Veränderung, die sie in seinen Vorschlägen zu finden glauben. Die Gewalt auf den Straßen ist daher auch als eine Reaktion auf die Ungerechtigkeiten zu verstehen, die viele junge Menschen von staatlichen Institutionen erfahren. Sie sind bereit, für ihre gesellschaftliche Teilhabe auch mit Gewalt zu kämpfen.

Sie sind Professor an der Universität Cheikh Anta Diop, an der sich gewalttätige Szenen ereigneten. Protestierende versuchten, mehrere Institute auf dem Campus in Brand zu setzen. Warum richtet sich dieser Zorn so gewaltsam gegen Bildungseinrichtungen und wie erleben sie das als Professor?

Es ist eine äußerst schmerzliche Erfahrung. Obwohl die Universität geschlossen wurde, besuche ich den Campus regelmäßig und sehe die verheerenden Schäden. Die Bindung ist so stark, da ich meine gesamte Ausbildung an dieser Universität absolviert habe und dort auch als Dozent tätig bin. Ich glaube, dass die Juristische Fakultät und das Centre d'Études des Sciences et Techniques de l'Information (CESTI), das Journalisten ausbildet, möglicherweise als Symbol ins Visier genommen wurde, um gegen das Justizsystem und die Presse im Senegal zu protestieren. Die Studierenden werfen der Presse im Senegal vor, nicht frei und unabhängig zu berichten und damit ihrer Kontrollfunktion in einer Demokratie nicht nachzukommen. Viele gehen davon aus, dass ein Teil der Medien der Regierung nahesteht und bestimmte Kandidaten bevorzugt. Die Studierenden haben daher das CESTI bestraft, und dies war ihre Art, ihren Unmut und ihre Wut zum Ausdruck zu bringen. Das ist sehr unfair, denn es bestraft alle Studierenden und auch Wissen, das der Allgemeinheit zugänglich ist und in Archiven lagerte, wurde durch die Brände unwiederbringlich vernichtet. Aber die Situation ist außer Kontrolle geraten aufgrund der Massenmobilisierung.

Die Regierung hat als Reaktion auf die Proteste strenge Maßnahmen ergriffen: Für mehrere Tage war der Zugang zu sozialen Medien blockiert, und selbst das mobile Internet wurde zeitweise abgeschaltet. Warum hat der Staat solch drastische Maßnahmen ergriffen?

Mit den Maßnahmen wollte die senegalesische Regierung die Lage schnell wieder unter Kontrolle bringen. Die Regierung verdächtigt vor allem im Ausland lebende Senegales*innen, Informationen zu verbreiten und junge Menschen zu Gewalttaten wie Brandstiftungen und Ungehorsam anzustiften. Durch diese Freiheitseinschränkungen sollte ihnen ein Riegel vorgeschoben werden. Doch die jungen Senegales*innen beherrschen moderne Kommunikationstechnologien wie VPN-Anwendungen und finden immer neue Wege, um Auflagen des Staates zu umgehen. Es besteht eine erhebliche Kluft zwischen dem Staat und der Jugend, und das Verständnis der Regierung für neue Technologien und ihre Anwendungsmöglichkeiten ist sehr begrenzt.

Aus Angst vor Plünderungen wurden Geschäfte, Banken und Tankstellen für mehrere Tage geschlossen. Dakar, eine Stadt, die normalerweise von Geschäften und regem Verkehr brummt, war wie ausgestorben. Welche Auswirkungen haben diese Proteste auf die senegalesische Wirtschaft?

Seit den Protesten ist die Wirtschaft der Stadt Dakar, dem wirtschaftlichen Zentrum des Senegals, stark beeinträchtigt. Die Blockade des Internetzugangs hat direkte Auswirkungen auf die wirtschaftliche Aktivität der Menschen. Zusätzlich basiert 90 Prozent der Landeswirtschaft auf dem informellen Sektor, und aufgrund der politischen Unruhen können viele Menschen ihren Tätigkeiten nicht nachgehen. Die Situation wird durch die Schließung der Banken verschärft, wodurch Transaktionen zum Erliegen kamen und es aufgrund geschlossener Geldautomaten an Bargeld mangelte. Diese Situation hat erhebliche finanzielle Auswirkungen, mit einem geschätzten täglichen Verlust zwischen 50 und 60 Milliarden Francs für ein bereits stark verschuldetes Land. Der Staat muss seine Ausgaben sicherstellen, während seine Einnahmen aufgrund der ständigen Einstellung von Aktivitäten zurückgehen. Aus Angst vor erneuten Krawallen gingen viele Senegales*innen in den vergangenen Tagen nicht zur Arbeit. Ein Großteil der Senegales*innen in Dakar wohnt in Vororten, wo die Straßen bei erneuten Protesten schnell blockiert sind und ein Durchkommen unmöglich ist. Ich denke nicht, dass sich der Senegal diese wirtschaftliche Instabilität bis zu den Präsidentschaftswahlen 2024 leisten kann.

Der Senegal wird oft als ein stabiles und demokratisches Land inmitten einer von Krisen erschütterten Region angesehen. In welchem Zustand befindet sich die senegalesische Demokratie derzeit?

Kürzlich wurde ich bei einer Konferenz in Abidjan mit Sonderausgaben der Presse über die politische Situation im Senegal konfrontiert, was für mich als Senegalese schmerzhaft war. Ich dachte, dass Krisen anderen Ländern vorbehalten sind. Schließlich hat der Senegal in seiner Geschichte noch nie einen Putsch erlebt. Im Senegal haben wir unsere Probleme immer demokratisch und auf friedlichem Wege gelöst. Die aktuellen Proteste spiegeln aber auch wider, dass der Senegal von Natur aus ein demokratisches Land ist, in dem politische Meinungsverschiedenheiten üblich sind. Es scheint jedoch, dass der Präsident der Republik diese Meinungsvielfalt nicht wünscht. Heute haben alle im Senegal Angst, und die Menschen glauben, dass sich die Situation weiter verschlechtern könnte. Aktuell lässt sich über den Zustand der Demokratie im Senegal feststellen, dass sie nicht mehr frei atmen kann. Die Behörden verbieten Proteste und schränken Meinungsäußerungen ein. Als zum Beispiel das zivilgesellschaftliche Bündnis F24 versuchte, einen Dialog in den Parcelles Assainies (einem Stadtteil von Dakar) zu organisieren, lehnten die Behörden dies ab. In Dakar wurden alle Kundgebungen und Versammlungen vorerst bis zum 18. Juni untersagt.

Welche Lösung sehen Sie, um die aktuelle Krise im Senegal zu bewältigen?

Die Besonderheit dieser Krise besteht darin, dass das eigentliche Problem auch die Lösung ist. Daher könnte diese Krise leicht bewältigt werden, indem allen Kandidat*innen die Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen ermöglicht wird. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, was passiert, wenn Präsident Macky Sall sich dazu entschließt, eine dritte Amtszeit anzustreben. Der Präsident hat bereits zwei Amtszeiten absolviert, und es ist nun an der Zeit, dass er die Macht abgibt und anderen Kandidat*innen die Möglichkeit gibt, anzutreten. Um dem Senegal zu helfen, sei es durch die senegalesische oder internationale Öffentlichkeit, ist es entscheidend, der Demokratie den nötigen Raum zur Entfaltung zu geben und sie gedeihen zu lassen. Die Senegales*innen werden es niemals tolerieren, dass ein Präsident entscheidet, wer an den Wahlen teilnehmen darf. Das Volk strebt danach, in einer Demokratie mit freien Wahlen zu leben. Nur dadurch könnte die derzeitige Kluft zwischen den Erwartungen des Volkes und den Handlungen des Präsidenten überwunden werden.

 


Dr. Cheikh Ahmed Bamba Diagne ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften, Dozent und wissenschaftlicher Leiter des LAREM (Laboratoire de Recherches Economiques et Monétaires) an der Université Cheikh Anta Diop de Dakar (UCAD).