"Um die Gewalt zu stoppen, nutzen wir die Macht der Daten"

Interview

Die Plattform Safecity ermöglicht es Frauen in Indien, ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt auf einer Karte zu teilen und sich darüber auszutauschen. So soll auch die breitere Gesellschaft für Gewalt zu sensibilisiert und besserer rechtlichen Schutz eingefordert werden.  Marion Kraske sprach mit Elsa Marie D'Silva, Aktivistin und Mitbegründerin von Safecity.

Karte mit verschiedenfarbenen Stecknadeln drauf

Laut Angaben der Regierung verzeichnete Indien 2021 die höchste Zahl von Verbrechen gegen Frauen aller Zeiten. Wo sehen Sie die Ursachen für diese weit verbreitete Gewalt?

D'Silva: Indien ist wirklich ein widersprüchliches Land. Einerseits steigen immer mehr Frauen in Führungspositionen auf. Wenn man sich aber andererseits Statistiken wie den Gender Gap Index und die Kriminalitätsstatistiken anschaut, dann fällt auf, dass Indien ziemlich weit unten auf der Liste steht. Alle 15 Minuten wird hierzulande eine Frau vergewaltigt. Laut einer kürzlich durchgeführten Umfrage finden es 75 Prozent der Frauen und Männer hinnehmbar, dass Frauen von ihren Ehemännern verprügelt werden. Wenn häusliche Gewalt akzeptiert wird, dann überträgt sich das automatisch auch auf den öffentlichen Raum, den Arbeitsplatz, das Straßenleben, öffentliche Verkehrsmittel usw. Diese Gewalt findet täglich statt; sie schafft eine Stimmung der Unsicherheit und eine Kultur, die die Gewalt aufrechterhält.

Sie sind Mitbegründerin von Safecity, einer Plattform, die sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum in mehreren Ländern kartiert. Das Projekt leistet echte Pionierarbeit, in der Form wie diese Thematik aufbereitet wird. Was war das Hauptanliegen bei der Entwicklung dieses Tools?

Unsere Idee war, nicht-betroffenen Personen die Alltagsgewalt näher zu bringen. Wir wissen ja, dass die Gewalt stattfindet. Aber sie ist nicht immer sichtbar. Deshalb haben wir Safecity im Dezember 2012 ins Leben gerufen, um anonyme Geschichten über sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt zu dokumentieren, als unmittelbare Reaktion auf die schreckliche Gruppenvergewaltigung von Jyoti Singh in einem Bus in Delhi. Wir wollten den Überlebenden den Raum geben, ihre Erlebnisse zu dokumentieren. Mehr als neunzig Prozent der Berichterstattenden gaben an, nicht zur Polizei gegangen zu sein - und dort auch nicht hingehen zu wollen. Also haben wir eine Plattform geschaffen, um ihnen eine Stimme zu geben.

Warum zeigen die Überlebenden die Gewalt nicht an? Liegt das an einem mangelnden Vertrauen in die Institutionen?

Es ist eine Kombination. Einerseits besteht mangelndes Vertrauen, insbesondere in die Polizei und das Justizsystem. Es kann bis zu 20 Jahre dauern, bis ein Fall aufgeklärt wird. Aber noch wichtiger ist das soziale und kulturelle Umfeld, in dem wir leben: Es ist immer noch Tabu, über bestimmte Dinge zu sprechen, und das hängt mit dem Konzept der Ehre zusammen. Demnach bringt man Schande und Entehrung über seine Familie, wenn man Gewalt erfahren hat. Anstatt der Täter werden häufig die Opfer verantwortlich gemacht: Warum warst du überhaupt an diesem Ort? Was hast du dafür getan, dass das passiert ist? Es ist letztendlich immer die Schuld der Frau. Das führt dazu, dass viele Frauen nicht zur Polizei gehen und nicht darüber sprechen wollen. Viele junge Frauen, die zwar den Mut hätten und bereit wären, über ihre Erfahrungen zu sprechen, werden von ihren Familien davon abgehalten, Anzeige zu erstatten, vor allem wenn sie noch nicht verheiratet sind. Ihre Eltern haben Angst, dass sie aufgrund des sexuellen Übergriffs auf ihre Tochter keinen geeigneten Ehepartner aus einer guten Familie zum Heiraten finden könnten.

Was sind die konkreten Erfolge von Safecity? Warum ist die Berichterstattung so wichtig?

Die wichtigste Errungenschaft ist, dass wir die Gewalt sichtbar gemacht haben. Wir sind das größte Archiv persönlicher Geschichten, wo Überlebende erzählen können, was ihnen widerfahren ist, was auch für ihren eigenen Heilungsprozess nach dieser traumatischen Erfahrung sehr wichtig ist. Sehr oft ist es das erste Mal, dass sie über das Geschehene sprechen, manchmal sprechen sie erst 20 Jahre später darüber. Außerdem haben wir die gesammelten Daten für Einzelpersonen und Communities zur Verfügung gestellt, die ihnen helfen können, sich für ihre eigene Sicherheit einzusetzen, eine bessere Infrastruktur und besseren rechtlichen Schutz zu fordern, z.B. in Form von mehr Polizeipräsenz im öffentlichen Raum oder Polizeischutz für bestimmte Anlässe. Kurz gesagt nutzen wir die Macht der Daten, um uns für konkrete Lösungen einzusetzen. Es geht uns um Aufklärung, und darum, die breitere Gesellschaft für Gewalt zu sensibilisieren. Teilweise haben wir sogar mit religiösen Führern zusammen gearbeitet. Wenn die Behörden in einer Sache eingreifen, werden auf einmal alle aufmerksam. Wenn man also die Mächtigen, vor allem Männer, davon überzeugen kann, Stellung zu beziehen, dann vermittelt das nach außen, dass Gewalt nicht akzeptiert wird.

Haben Sie strategische Partner in der Politik?

Wir haben keine spezielle Kooperation mit der Politik, denn sobald es einen politischen Wechsel gibt, wird die Zusammenarbeit oft auf Eis gelegt. Aus diesem Grund haben wir einen anderen Ansatz gewählt und arbeiten hauptsächlich mit lokalen Organisationen zusammen. Auf der institutionellen Ebene arbeiten wir auch mal top-down. Mit diesem Ansatz und durch die Weitergabe der Daten befähigen wir Überlebende, sich für ihr Recht einzusetzen. Wir teilen die Daten auch mit fünf Polizeibehörden, und arbeiten sehr eng mit einer der wichtigsten Bahnbetriebe in Mumbai zusammen. Außerdem kooperieren wir mit 300 Bildungseinrichtungen. Frauen und Mädchen sind unser Hauptaugenmerk. Auf den College-Campus arbeiten wir allgemein mit jungen Menschen zusammen, und in einem weiteren Ansatz konzentrieren wir unsere Arbeit auf Jungen und Männer. Wir müssen immer wieder hervorheben, dass Frauen nicht verantwortlich für die Gewalt sind. Das Problem, dass diese Gewalt erst möglich macht, ist ein gesellschaftliches. Wir müssen insbesondere Männer und Jungen, aber auch die Gesellschaft als Ganzes aktiver einbeziehen, damit sich etwas ändert. Viele Menschen sind schon bereit, ihren Teil zur Lösung beizutragen.

Vergewaltigungen sind ein weltweites Problem. In Indien allein wurden 2021 mehr als 31.000 Fälle dokumentiert. Abgesehen von der Gewalt zeigt sich die Tendenz, dass Menschen eher zuschauen, anstatt einzugreifen, um den Opfern zu helfen. Was sind die Gründe dafür, und wie kann das Problem angegangen werden?

Das ist ein weltweiter Trend. Wir finden ihn überall, in den USA und in anderen Ländern. Einerseits leben wir in einer Zeit, in der Menschen das Bedürfnis haben, alles mögliche in den sozialen Medien zu veröffentlichen. Leute beobachten und dokumentieren, was sie sehen. Aber sie versäumen es, wenn notwendig, die Polizei zu rufen, was als allererstes geschehen sollte. Danach kann man immer noch dokumentieren. Manchmal haben die Leute Angst, in eine Situation einzugreifen; manchmal wissen sie nicht, ob es überhaupt in ihrer Verantwortung liegt, etwas zu tun. Oft ist ihnen nicht klar, was sie aktiv tun können, um die Gewalt zu stoppen. Deshalb brauchen wir ein Gesetz, das zur Hilfestellung für Gewaltopfer verpflichtet. Außerdem gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, bei Gewalttaten einzulenken, z.B. durch Ablenkungsmanöver. Wenn man Zeug*in einer häuslichen Gewalttat wird, kann man an der Tür der Betroffenen klingeln und somit signalisieren: "Hey, wir sind hier, und wir kriegen mit, was passiert!" Wir brauchen mehr Trainings, um Menschen zu befähigen, im Fall der Fälle einzugreifen und klare Ansprachen im öffentlichen Raum. Damit meine ich sichtbare Schilder, auf denen steht: "Schreiten Sie sofort ein, wenn Sie Zeug*in von Gewalt werden!" Alles in allem ist es eine Frage der Aufklärung und wie das Selbstbewusstsein von Menschen gestärkt werden kann, um sich einzumischen. Und auch um das Selbstbewusstsein der Opfer zu stärken und ihnen klar zu machen: Ich habe das Recht, meine Stimme zu erheben!

Einem aktuellen Bericht von Amnesty International zufolge gibt es derzeit weltweit mehr als 640 Millionen dokumentierte Kinderehen. Wie beurteilen Sie die Situation in Indien?

Wir hatten kürzlich den Fall eines 11-jährigen Mädchens, das mit einem älteren Mann verheiratet wurde, weil ihre Familie Schulden hatte. Nach indischem Recht ist das ein Verbrechen. Wie ist das denn möglich? Es kann nicht angehen, dass die Mehrheit der Gesellschaft ihre Augen vor diesen Problemen verschließt. Laut Verfassung sind alle Menschen gleich. In der Realität werden Frauen aber nicht gleichwertig behandelt. Viele Familien haben nicht genug Geld; sie denken, dass mit der Heirat ihre Verantwortung für ihre Töchter endet. Sie glauben, dass eine Heirat das Beste für ihr Kind ist. Mädchen werden viel zu häufig als Eigentum betrachtet. Nach dieser Logik kann man sie verkaufen, mit ihnen handeln, sie ohne Respekt behandeln. Auch hier liegt der Schlüssel in der Bildung und Aufklärung: Durch unsere Arbeit vermitteln wir Mädchen Verhandlungskompetenzen, mit denen sie den Zeitpunkt ihrer Heirat bei ihren Eltern hinauszögern können: Gebt mir bitte noch ein Jahr, damit ich studieren kann. Dann noch ein Jahr - und so weiter. Mit unserem Mentoring-Programm verhelfen wir den Mädchen zu mehr Freiheit. Wenn es uns gelingt, diese Generation zu beeinflussen, dann werden auch sie später als Eltern besser handeln. Nur so lässt sich Veränderung nachhaltig gestalten.

Sie haben viele Auszeichnungen für Ihre herausragende Arbeit erhalten. UN-Generalsekretär Antonio Guterres hat Sie dafür gelobt, Tausende von jungen Menschen auf der ganzen Welt mobilisiert zu haben, um das Schweigen zu brechen und geschlechtsspezifische Gewalt anzuprangern. Von welchen Netzwerken oder Organisationen wünschen Sie sich mehr finanzielle und organisatorische Unterstützung, um geschlechtsspezifische Gewalt nachhaltig zu bekämpfen?

Alle lokalen Organisationen weltweit brauchen mehr Unterstützung. Geschlechtsspezifische Gewalt ist immer noch ein Tabuthema, selbst für potentielle Spender*innen und Geldgeber*innen. Sie erkennen die Dringlichkeit nicht, in Bildung und Aufklärung von Menschen zu investieren. Sie verstehen nicht das Spektrum der Gewalt, und den sozialen und kulturellen Kontext von geschlechtsspezifischer Gewalt. Bildung ist also absolut notwendig, und wir müssen ganz grundlegend in sie investieren. Erstaunlicherweise sind sich die Menschen in Indien, wo es für alles geltende Gesetze gibt, ihrer Rechte nicht bewusst. Wir müssen die Institutionen dabei unterstützen, öffentliche Kampagnen zu verbreiten; in etwa so wie bei der Nicht-Raucher-Kampagne. Vor zwanzig Jahren war das Rauchen in der Öffentlichkeit weitgehend akzeptiert. Durch massive Werbung und Aufklärung ist es uns gelungen, das zu ändern. Ähnliche positive Erfahrungen erfuhren die Kampagnen für die Impfung gegen Kinderlähmung. Mit dem gleichen Ansatz können wir auch die geschlechtsspezifische Gewalt bekämpfen, die im weitesten Sinne ebenfalls eine Pandemie ist. Auch Männer sind von Gewalt gegen Frauen und Mädchen betroffen; es liegt also im Interesse aller, dieses Problem strategisch zu aufzubrechen.

Die deutsche Regierung wirbt für eine feministische Außenpolitik. Was ist Ihre Meinung dazu?

Ich denke, das ist ein großartiger Schritt Deutschlands, der ein Beispiel dafür sein kann, wie feministische Außenpolitik nicht nur Deutschland, sondern auch anderen Ländern zugute kommen kann. Während des letzten G7-Gipfels, als Deutschland die Präsidentschaft innehatte, wurden weltweit Berater*innen aus dem globalen Süden gesucht. Ich habe mich auf die Ausschreibung beworben und wurde angenommen. Für mich bedeutet das geteilte Macht: Auch wenn das Land, aus dem die Berater*innen stammten, nicht Mitglied der G7 war, haben sie unsere Anregungen aufgenommen und uns die Chance gegeben, unsere Empfehlungen einzubringen. Die Umsetzung war so großartig, ich war wirklich beeindruckt. Wenn man Raum für Impulse von außen gibt und externe Empfehlungen integriert, ist das meiner Meinung nach ein Schritt in die richtige Richtung.

Was waren Ihre wichtigsten Anliegen?

Ich war Teil des Unterausschusses für Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Darin haben wir die Freigabe wirtschaftlicher Mittel für einen Fonds gefordert, der vor allem Bildung fördern soll. Wie schon gesagt, dieser Bereich ist besonders wichtig. Wir haben vorgeschlagen, dass die G7 Staaten jeweils zwei Prozent ihres BIP in diesen Fonds einzahlen. Investitionen in eine funktionierende Infrastruktur für Überlebende von Gewalttaten werden zusätzlich benötigt; davon gibt es einfach nicht genug. Außerdem haben wir in unseren Empfehlungen betont, wie wichtig es ist, geltendes Recht tatsächlich auch umzusetzen. Dort, wo es keine Gesetze gibt, muss die Rechtslage verbessert werden. Vielen Ländern fehlt es an rechtlichem Schutz vor Gewalt für Mädchen und Frauen. Entscheidend für eine Lösung ist nicht zuletzt, dass Gewalt und ihr epidemisches Ausmaß anerkannt werden.

Frau D'Silva, vielen Dank für das anregende Gespräch.