Guatemala: Wahlputsch gegen den Überraschungssieger Arévalo?

Analyse

Die als „Pakt der Korrupten“ bekannten Parteien ziehen angesichts des unerwarteten Wahlsieges von Bernardo Arévalo nun die Notbremse: Sie wollen verhindern, dass der Präsidentschaftskandidat, der sich die Bekämpfung der Korruption auf die Fahnen geschrieben hat, erfolgreich aus dem zweiten Wahlgang hervorgeht. Die drohende Annullierung der Wahlergebnisse könnte zum Kollaps der ohnehin fragilen Nachkriegsdemokratie führen.

Das Foto zeigt den Kandidaten Bernardo Arévalo und besorgte Bürger*innen, die sich am Samstag vor dem Verfassungsgericht versammelten.

Sechs Tage nach den Präsidentschaftswahlen am 25. Juni, bei denen Bernardo Arévalo von der Partei Movimiento Semilla entgegen aller Prognosen der Meinungsumfragen unerwartet den zweiten Platz belegte, reichten neun Parteien beim Verfassungsgericht eine einstweilige Verfügung ein. Sie machten Unregelmäßigkeiten in den Protokollen der Wahlvorstände auf der Ebene der Departements und des Hauptstadtdistrikts geltend. Das Verfassungsgericht - hierfür eigentlich gar nicht zuständig - stimmte der Klage am 1. Juli in einem Eilverfahren zu und ordnete das Oberste Wahlgericht (TSE) an, die Veröffentlichung der amtlichen Endergebnisse vorläufig einzustellen und eine Revision der Protokolle der Wahlvorstände vorzunehmen. Betroffen von der Überprüfung sind nicht nur die Präsidentschafts- und Vizepräsidentschaftswahlen, sondern alle zur Wahl stehenden 4.336 öffentlichen Ämter auf Parlaments- und Gemeindeebene und für das Zentralamerikanische Parlament (PARLACEN). Zahlreiche Beobachter*innen fürchten, dass der worst case eintreten könnte und die als „Pakt der Korrupten“ bekannten Parteien angesichts des unerwarteten Wahlsieges von Bernardo Arévalo nun die Notbremse ziehen: sie wollen verhindern, dass der Präsidentschaftskandidat, der sich die Bekämpfung der Korruption auf die Fahnen geschrieben hat, erfolgreich aus dem zweiten Wahlgang hervorgeht. Arévalo hätte durchaus Chancen, wenn es ihm gelingt, Teile der Stimmen der Protest-und Nichtwähler*innen zu gewinnen, die zusammen fast 65 Prozent der insgesamt fast 9,4 Millionen Wahlberechtigten ausmachten. Gemeinsam mit Sandra Torres von der Unidad Nacional de la Esperanza (UNE) soll Arévalo bislang am 20. August in die Stichwahl zum Präsidentenamt kommen.

Die Drahtzieher des Beschwerdeverfahrens vom 1. Juli

Offizieller Sprecher der Beschwerdeallianz ist Jorge Eduardo Baldizón Vargas, Sohn des ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Manuel Baldizón, der 2019 in den USA zu vier Jahren Haft wegen Geldwäsche verurteilt worden war. Gemeinsam mit seinen beiden Söhnen Jorge und Manuel gründete er die Partei Cambio (Wandel), um sich bei den Wahlen 2023 politische Posten im Parlament zu sichern. Die Rechnung ging aber nicht auf. Die Partei Cambio erreichte nach den bisherigen amtlichen Ergebnissen, mit Esduin Javier, besser bekannt als 3K („3 Kiebres = 3 Brüche“), landesweit nur ein einziges Mandat. Die CICIG (Internationale Kommission gegen die Straflosigkeit in Guatemala) erwähnt 3K in einem Bericht von 2015 als perfektes Studienobjekt für die Netzwerke zwischen dem organisierten Verbrechen, Bauunternehmen und illegaler Wahlkampffinanzierung. Angekündigt wurde die legale Beschwerde von der Kommunikationsabteilung der ultra-konservativen Zury Ríos, einer der großen Verlierer*innen der Wahlen der Wahlen vom 25. Juni, da sie lediglich auf dem sechsten Platz landete. Getragen wird das Verfahren auch von der anderen Wahlsiegerin, Sandra Torres und ihrer Partei UNE, sowie der Regierungspartei Vamos, deren Kooptationsstrategie auf Parlaments- und Gemeindeebene sehr erfolgreich war und CABAL, der Partei, die die Kandidatur des Mitte-Rechts-Kandidaten Edmond Mulet unterstützt hatte.

Internationaler Apell: Respekt vor den Ergebnissen des 1. Wahlgangs!

Noch drei Stunden vor der einstweiligen Verfügung des Verfassungsgerichts hatte die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ein Kommuniqué veröffentlicht, in dem sie an die drei Staatsgewalten appelliert, “die Ergebnisse des ersten Wahlganges“ zu respektieren. Die Wahlbeobachtungsmission der Europäischen Union rief ihrerseits dazu auf, den Willen der Wähler*innen zu respektieren und fordert die politischen Parteien auf, sich an die vom Obersten Wahlgericht (TSE) erlassenen Beschlüsse zu halten. US-Außenminister Blinken erklärte: „Die Vereinigten Staaten unterstützen das verfassungsmäßige Recht des guatemaltekischen Volkes, seine Regierung in freien und fairen Wahlen zu wählen“ […] "die Wahlen vom 25. Juni zu unterminieren würde eine große Gefahr für die Demokratie mit weitreichenden Folgen“ darstellen. Besorgte Bürger*innen versammelten sich am Samstagabend vor dem Verfassungsgericht, um ihrer Sorge über eine mögliche Wahlmanipulation Ausdruck zu verleihen. „Wir haben keine Angst!“ riefen die Demonstrierenden. Am Sonntag, den 2. Juli verlagerten sich die Proteste von der Straße in die sozialen Netzwerke. Hunderte von Bürger*innen veröffentlichen die Auszählungsergebnisse der Wahllokale in den sozialen Netzwerken, um zu dokumentieren, dass es keine Abweichungen zwischen den vom TSE dokumentierten Ergebnissen und den Wahlakten in den einzelnen Wahllokalen gibt. Die hashtags #NoHuboFraude (#esgabkeinen Wahlbetrug) und #enlasurnasnoenlacorte (#indenUrnennichtimGericht) waren stundenlang trending topic auf Twitter, noch vor König Fußball, der sonst am Wochenende Hauptthema ist.

Wahlmanipulationen fanden vor, nicht während der Wahlen statt

Die konzertierte Aktion der neun Parteien kam überraschend. Die Wahlen waren, mit einzelnen Ausnahmen weitgehend friedlich verlaufen. Bei den Bürgermeister*innenwahlen in der Hauptstadt Guatemala-Stadt und ca. einem Dutzend von Gemeinden wurden zwar Unregelmäßigkeiten berichtet, diese betrafen aber insgesamt weniger als 0,1 Prozent der abgegebenen Stimmen. Die Manipulationen der Wahlen fanden nach Einschätzung der unabhängigen Wahlbeobachtungsmissionen weniger während des Wahlprozesses, sondern vielmehr vor dem Wahltag statt. Im Vergleich zu den massiven Verzerrungen des Wählerwillens im Vorfeld der Wahlen, verlief der eigentliche Wahlprozess größtenteils geordnet. Diese Einschätzung hatten ironischerweise bisher auch alle unterzeichnenden Parteien geteilt und die Wahlergebnisse in den Tagen nach der Wahl bestätigt. Anscheinend sind sie zwischenzeitlich zu der Überzeugung gekommen, dass das Risiko eines Wahlsieges von Bernardo Arévalo doch höher sein könnte, als ursprünglich angenommen. In seiner Rede nach Verkündigung der Wahlergebnisse am Sonntag hatte Arévalo bereits angekündigt, dass er sich im Falle seines Sieges für die Rückkehr der exilierten Richter*innen und Staatsanwält*innen einsetzen und den Rücktritt der korrupten Staatsanwältin Consuelo Porras fordern wird.

Bernardo Arévalo: Überraschungssieg und fragile Hoffnung auf einen zweiten demokratischen Frühling

Wer ist Bernardo Arévalo, der derartige Kurzschluss- und Panikreaktionen seitens der Allianz der Korrupten ausgelöst hat? Der promovierte Soziologe und ehemalige Diplomat ist der Sohn des Ex-Präsidenten Juan José Arévalo Bermejo, der nach der Oktoberrevolution von 1944 ins höchste Staatsamt gewählt wurde und sich im sog. „demokratischen Frühling“ zwischen 1945 und 1951 für Sozialreformen, die Pressefreiheit und die organisierte Arbeiterschaft einsetzte. Dies führte sein Nachfolger Jacobo Arbenz fort, bis er gewaltsam aus dem Amt geputscht wurde.

Die Partei Semilla entstand aus den sozialen Bewegungen, die 2015 die Massenproteste gegen die korrupte Regierung von Präsident Otto Pérez Molina angeführt hatten. 2019 beteiligten sie sich erstmals an den Parlamentswahlen und erhielten auf Anhieb sieben Abgeordnetenmandate. An den damaligen Präsidentschaftswahlen durfte die Partei hingegen nicht teilnehmen, da die Kandidatur von Thelma Aldana, eine auf Korruptionsbekämpfung spezialisierte ehemalige Staatsanwältin, vom Obersten Gerichtshof auf Druck derjenigen, deren illegale Aktivitäten sie zuvor untersucht hatte, blockiert wurde.

Die letzten Prognosen der Meinungsumfragen kurz vor der Wahl 2023 hatten Arévalo ohne Chancen, weit abgeschlagen auf dem achten Platz gesehen, mit gerade einmal zwei Prozent der Wähler*innenpräferenzen. Trotz knapper Wahlkampffinanzierung gelang es ihm fast 11,8 Prozent der Stimmen auf sich zu vereinigen. Noch am Samstagabend hätte niemand in Guatemala damit gerechnet, dass Arévalo es in den zweiten Wahlgang schaffen könnte. Die Partei erreichte vor allem junge Wähler*innen in der Hauptstadt Guatemala-Stadt, aber auch in anderen städtischen Wahlbezirken im Zentrum und Westen des Landes. Areválo, dessen Wahlprogramm sich vor allem auf die Bekämpfung der Korruption und der eklatanten sozialen Ungleichheit konzentriert, konnte einen beachtlichen Teil der Proteststimmen kanalisieren. Mit 655.000 „Stimmen für die Würde“, so ein Slogan der Wahlkampagne, erreichte Arévalo mehr Wähler*innen als progressive, systemkritische Kandidaten in den letzten Jahrzehnten je erhalten hatten.

Panikreaktion trotz Parlamentsmehrheit für die Verteidigung des korrupten Status quo?

Der Schulterschluss der neun Parteien überrascht, da die bisher veröffentlichten Wahlergebnisse eigentlich klar darauf hinweisen, dass Bernardo Arévalo selbst dann, wenn er den zweiten Wahlgang gewinnen sollte, nur über geringe Gestaltungsmöglichkeiten verfügen wird. Der „Pakt der Korrupten“ verfügt sowohl auf Parlaments- wie auch Kommunalebene über Mehrheiten. Nach den bisherigen, aber nun auf Eis gelegten, Ergebnissen wächst die Partei des noch amtierenden Präsidenten Alejandro Giammattei von 17 auf voraussichtlich 39 Abgeordnete und wird damit zur stärksten Fraktion. UNE, die Partei der Präsidentschaftskandidatin Sandra Torres, musste hingegen eine Wahlschlappe hinnehmen und wird voraussichtlich 45 Prozent ihrer parlamentarischen Vertretungen verlieren und auf 28 Abgeordnete schrumpfen, stellt damit aber immer noch die zweitstärkste Fraktion. CABAL von Edmond Mulet stellt mit 18 Abgeordneten die vierstärkste Fraktion, gefolgt von Zury Rios´ Valor Unionista mit 12 Sitzen. Nach den vorläufigen Wahlergebnissen werden 17 Parteien im Kongress vertreten sein. Die Fraktion von Semilla wächst auf 23 Abgeordnete an, darunter elf Frauen, und wird damit zur drittstärksten Kraft im Parlament. Die große Mehrheit der Abgeordneten wird jedoch - wie bereits in der vergangenen Legislaturperiode - für die Verteidigung des Status quo und im Sinne des Paktes der Korrupten abstimmen. Die Partei der willkürlich ausgeschlossenen Präsidentschaftskandidatin Thelma Cabrera konnte keinen Parlamentssitz erreichen und verliert deshalb die Rechtspersönlichkeit.

Ein Heer von Bürgermeister*innen im Dienste der Regierungspartei

Das überraschend gute Abschneiden von Manuel Conde, der bei den Präsidentschaftswahlen den dritten Platz nach Arévalo belegte und der Regierungspartei Vamos - trotz der katastrophalen Zustimmungswerte für den amtierenden Präsidenten Alejandro Giammattei - erklärt sich vor allem aus einer erfolgreich umgesetzten dreigleisigen Kooptationsstrategie auf kommunaler Ebene: 1) der Beschleunigung der Freisetzung von Regierungsgeldern für öffentliche Aufträge auf kommunaler Ebene, 2) der Erhöhung der Zuweisungen an die regionalen Entwicklungsräte (CODEDEs), die für die Vergabe von Mitteln für staatliche Infrastrukturprojekte zuständig sind und 3) der drastischen Erhöhung des Budgets für die kommunale Sozialhilfe von Senior*innen. Allein im Monat vor den Wahlen hat der Kongress zusätzliche 43 Millionen US $ für die kommunalen Hilfsprogramme lockergemacht. Die Gelder flossen gezielt an Bürgermeister*innen, die sich bereit erklärten, unter dem Banner der Regierungspartei Vamos anzutreten und deren Parlaments- und Präsidentschaftskandidat*innen im Wahlkampf zu unterstützen. Die Strategie zeigte Erfolg. Vamos konnte 144 Bürgermeister*innen kooptieren, die an einer Wiederwahl interessiert waren und gewann - voraussichtlich - 131 der insgesamt 340 Bürgermeister*innenämter, d.h. vier von zehn Gemeinden.

Entscheidende Tage für Guatemalas demokratische Zukunft

Die guatemaltekische Regierung hat inzwischen die USA und die Europäische Union aufgefordert, die Souveränität Guatemalas, insbesondere seiner Wahlaufsichtsbehörde und der Gerichte zu achten. Was auf dem Spiel steht, ist jedoch nicht die nationale, sondern die Volkssouveränität, ausgedrückt in der Entscheidung der Wähler*innen am Sonntag, den 25. Juni. Die Befürchtungen sind, dass die Parteien, die von der Aufrechterhaltung der korrupten und kriminellen Strukturen profitieren, die Wahlfälschungskarte ziehen, d.h. die Überprüfung der Protokolle der Wahlvorstände als Vorwand nutzen, um mit falschen Anfechtungen eine Öffnung der Urnen und Neuauszählung aller 122.293 Akten der Wahllokale zu veranlassen. Dies könnte zu einer Annullierung der Wahlergebnisse und zur Verhinderung der für den 20. August angesetzten Stichwahl führen und zum Kollaps der ohnehin fragilen Nachkriegsdemokratie führen. Guatemala wäre dann endgültig auf dem Weg, sich zu einem zweiten Nicaragua zu entwickeln.

Dank der exzellenten Arbeit der unabhängigen Medien, die sich trotz der Verhaftung und Verurteilung des Journalisten Rubén Zamora, des Präsidenten der mittlerweile geschlossenen Tageszeitung El Periódico, nicht einschüchtern ließen, ist ein Großteil der Wähler*innen gut informiert und im Alarmzustand. Wichtig ist, dass die internationale Gemeinschaft, insbesondere auch die Europäische Union und die Bundesrepublik Deutschland, ebenso wachsam bleibt und weiterhin klar Position für die Verteidigung des souveränen Wähler*innenwillens bezieht.