Rede zur Lage der Union: Ursula von der Leyens Bewerbung für eine zweite Amtszeit

Analyse

In ihrer Rede hat EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen die Chance verpasst, mutige Zukunftsvorstellungen zu entwickeln. Dieser Beitrag analysiert ihre informelle Bewerbung für eine zweite Amtszeit entlang thematischer Schwerpunkte.

Ursula von der Leyen
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© European Union 2023 - Source: EP

Politische Reden gegen Ende der Amtszeit sind bilanzziehende Wohlfühl-, statt zukunftsgewandte Ruckreden. So war auch die Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Lage der Union. Darin lobte sie vor allem ihre Kommission. Während ihrer Amtszeit habe sich Europa seinem „historischen Auftrag“ gestellt. Entsprechend sprach sie von „historischen Errungenschaften“ und „historischen Beitritten“. Vergangenes Handeln stand also im Vordergrund. Zukunftsorientiertes Handeln blieb entsprechend zaghaft.

Damit war es eine vorsichtige, nach innen gerichtete Bewerbungsrede für ein weiteres Mandat. Adressaten waren die EU-Mitgliedstaaten und die demokratischen Fraktionen im Europaparlament. Keine Experimente, das Errungene mit ruhiger Hand umsetzen, und bloß keinen Ärger machen – das waren die Kernsignale ihrer Rede. Vor diesem Hintergrund klammerte sie zahlreiche europäische Herausforderungen aus – von den steigenden Lebenshaltungskosten der Bürgerinnen und Bürger und der wachsenden gesellschaftlichen Spaltung, bis zum bedrohlichen Zustand der europäischen Demokratie. Sie zeichnete ein positives Bild des bisher Erreichten, und verpasste die Chance darzulegen, wie sich Europa besser aufstellen kann, um die zahlreichen historischen Herausforderungen wirklich bewältigen zu können.

Unser EU-Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Brüssel hat die Rede zur Lage der Union entlang thematischer Schwerpunkte analysiert.

Zur Grünen Transformation

Europäischer Grüner Deal und internationale Klimapolitik

Auch wenn der European Green Deal (Europäische Grüne Deal (EGD)) zu Beginn ihrer Rede im Zentrum stand und Errungenschaften hervorgehoben wurden, haben wir eine erneuerte Vision für den EGD vermisst. Von der Leyen legte den Fokus auf Unterstützungsmaßnahmen für die Wirtschaft, nicht auf die Umsetzung bestehender Gesetze oder gar auf neue Gesetzesvorschläge. Dabei müssen Viele wichtige und strittige Dossiers des EGDs noch abgeschlossen werden, wie zum Beispiel die Methanregulierung zur Reduzierung der Erderwärmung. Keine Erwähnung fanden darüber hinaus die Kreislaufwirtschaft, der CO2-Grenzausgleichsmechanismus CBAM oder die COP28 und internationale Klimabemühungen der EU. Die Verkündung eines neuen CO2-Reduktionsziel für 2040 – aktuell geplant für Anfang 2024 – wäre ein wichtiges klimapolitisches Signal der EU gewesen.

Energiepolitik

Wer konkrete Pläne erwartet hatte, wie im kommenden Jahr die Klima- und Energieziele der EU für 2040 ausgestaltet werden, wurde von der Kommissionspräsidentin enttäuscht. Eine Strategie für ein 100 % erneuerbares Europa fehlte.

Von der Leyen plädierte dafür, die gebündelte Marktmacht der EU nicht nur auf den globalen Erdgasmärkten einzusetzen, sondern auch für Importe von Wasserstoff. Ohne klare Nachhaltigkeitskriterien besteht hier allerdings die Gefahr, dass die EU die Fehler fossiler Brennstoffimporte wiederholt und neue Abhängigkeiten schafft.

Die Rede blieb hier widersprüchlich. Einerseits betonte von der Leyen, die energiewirtschaftlichen Risiken für EU-Unternehmen reduzieren zu wollen. Andererseits adressierte von der Leyensie lieber Pläne von Wasserstoffpipelines und Stromnetzen in der Golfregion, anstatt den dringenden Netzausbau in Europa zu priorisieren.

Das Windenergiepaket, eines der wenigen neuen Vorhaben von der Leyens, könnte helfen, Hürden abzubauen. Doch das Paket blieb genauso vage wie die prinzipiell sinnvolle Idee, die Auktionssysteme für Windenergie zu verbessern – weil sich die Mitgliedstaaten noch nicht über die Reform des Strommarkts geeinigt haben.

Wirtschafts- und Sozialpolitik

Von der Leyens Ankündigung, einen Beauftragten für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) zu benennen und neue Dialogplattformen zwischen der EU-Kommission und Industriesektoren zu schaffen, ist zweifelsohne wichtig. Hier müssen sowohl Transparenz als auch die Einbindung aller Sozialpartner und der Zivilgesellschaft sichergestellt werden.

Die Ankündigung, eine Untersuchung von möglichen wettbewerbsverzerrenden Subventionen von chinesischen Elektroautos zu starten, sorgte für einiges Aufsehen in Brüssel. Vernachlässigt wurde dabei, dass europäische Autobauer durch unterschiedliche Förderprogramme auch Unterstützung erhalten. Unklar blieb auch, wie man mit Subventionsprogrammen auch in anderen Ländern, zum Beispiel den USA mit dem Inflation Reduction Act (IRA), umgehen möchte -– ein  Thema, das zahlreiche Sektoren umtreibt, vor allem im Bereich grüner Technologien.

Neben Bürokratieabbau betonte von der Leyen die Notwendigkeit, den Fachkräftemangel in Europa ernst zu nehmen. Zugleich adressierte sie die hohe Jugendarbeitslosigkeit in einigen Mitgliedstaaten -– 8  Millionen junge Europäer*innen sind weder in Ausbildung noch haben sie Arbeit. Jugendarbeitslosigkeit ist eine strukturelle Ungleichheit in der EU, während Deutschland beispielsweise eine niedrige Quote mit 5,6% verzeichnet, hat Spanien einen Anteil von 27%. Da es aber bisher leider an klaren Konzepten fehlt, wie strukturelle Ungleichheiten überwunden werden können, sind die Erwartungen an einen neuen Sozialgipfel in Val Duchesse hoch.

Biodiversität und Landwirtschaft

Obwohl Ursula von der Leyen die „einzigartige biologische Vielfalt“ Europas lobte, erwähnte sie weder die so wichtige Verordnung zur Wiederherstellung der Natur – welche sich aktuell in den Trilog-Verhandlungen befindet – noch die Richtlinie zum Bodenschutz. Positiv hervorgehoben werden muss, dass sie die Wichtigkeit von Mooren und auch die entscheidende Rolle von Wäldern thematisierte.

„Ernährungssicherheit im Einklang mit der Natur“ deklarierte sie als „wesentliche Aufgabe“ und kündigte einen „strategischen Dialog zur Zukunft der Landwirtschaft in der EU“ an. Ob dies allerdings wirklich als Signal für die dringend notwendige Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) gewertet werden kann, darf bezweifelt werden.  
Die Bedeutung, die ein nachhaltiges Ernährungssystem im Kampf gegen den Klimawandel und auch die Biodiversitätskrise innehat, erwähnte sie nicht explizit.

Digitalpolitik und künstliche Intelligenz

Von der Leyen lobte die EU zurecht als „weltweite Vorreiterin bei den Online-Rechten”. Nicht verschwiegen werden darf jedoch, dass auch regelmäßig Gesetzgebung von der EU-Kommission vorgeschlagen wird, die gegen die Grundrechte der Bürger*innen verstößt oder wichtige Reformen jahrelang verschleppt werden (z.B. die e-Privacy-Verordnung).
 
Als Wegbereiterin sieht die Kommission die EU im Bereich künstlicher Intelligenz. Von der Leyen zitierte aus einem offenen Brief, den unter anderem Sam Altman, CEO von Open AI, unterzeichnet hat, dass KI zum Aussterben der Menschheit führen könne.
Leitplanken dazu, was KI darf und was nicht und wie international zu KI zusammengearbeitet werden kann, könnten nach dem Vorbild des Weltklimarats entwickelt werden, so von der Leyen. Allerdings will die Kommissionspräsidentin auch Tech-Unternehmen in diesem Gremium sehen, was die wissenschaftliche Unabhängigkeit eines solchen Rates ad absurdum führen würde.

Geschlechtergerechtigkeit

In ihrer Rede betonte von der Leyen die unerlässliche Verbindung von Gleichberechtigung und Freiheit von Gewalt, insbesondere gegen Frauen. Sie forderte energisch die Aufnahme des Prinzips „Nein heißt Nein“ in die Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Der Vorschlag zur Richtlinie, der ein Mindestmaß an Schutz vor solchen Gewalttaten gewährleisten soll, wurde bisher allerdings noch nicht verabschiedet.

Trotzdem verzeichnet die EU einige Fortschritte in Sachen Geschlechtergleichstellung: Eine Richtlinie zur Frauenquote in Aufsichtsräten verlangt, dass bis 2026 mindestens 40 Prozent der Sitze von Frauen besetzt sein sollen. Im Juni 2023 trat die EU der Istanbul-Konvention bei, was ein wichtiger Schritt zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist. Im April 2023 wurde zudem die Lohntransparenz-Richtlinie verabschiedet, um Lohndiskriminierung zu bekämpfen und das geschlechtsspezifische Lohngefälle innerhalb der EU abzubauen.

Europäische Erweiterung und Außen, Sicherheits- und Asylpolitik

Europäische Erweiterung

Insbesondere nach der russischen Invasion in die Ukraine hat die EU-Erweiterung an strategischer und sicherheitspolitischer Relevanz gewonnen. Von der Leyen hob hervor, dass Erweiterung immer auch eine politische Vertiefung der Union bedeute, „notfalls auch“ durch die Einberufung eines Europäischen Konvents und eine Änderung der Verträge.
 
Im Gegensatz zu Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, schlug die Kommissionspräsidentin einen zurückhaltenden Ton bezüglich möglicher Zeitpläne und des Umfangs zukünftiger Erweiterungen an. Positiv hervorzuheben ist die Absicht, den Bericht über die Rechtsstaatlichkeit für Beitrittskandidaten zugänglich zu machen. Bedauernswert ist allerdings, dass von der Leyen sich kaum zum Zustand der europäischen Demokratie und Rechtstaatlichkeit äußerte. Das steht im Gegensatz zu ihren vorherigen Reden zur Lage der Union, bei denen sie einen besonderen Fokus auf dieses Thema legte.

2021 betonte sie den Kampf gegen Korruption, die Verteidigung der Medienfreiheit und die Notwendigkeit, die europäische Demokratie zu stärken. Auch die Unterstützung von Demokratiebewegungen außerhalb der EU unterstrich von der Leyen in vorherigen Reden. Angesichts des globalen Rückzugs der Demokratie und der erodierenden Rechtsstaatlichkeit in EU-Mitgliedstaaten wie Ungarn und Polen, ist es bedauerlich, dass die Kommissionspräsidentin kaum Beachtung dafür fand.

Außen- und Sicherheitspolitik

Von der Leyen betonte, dass die uneingeschränkte Unterstützung für die Ukraine „so lange es nötig ist“ weiterhin garantiert werden muss – eine klare und starke Nachricht an die Ukraine – und den Kreml. Nicht nur mit zusätzlichen finanziellen Mitteln, sondern auch mit dem Vorschlag zur Verlängerung des vorübergehenden Schutzes für Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine und dem Versprechen, dass „die Zukunft der Ukraine in der Union ist“, steht die Kommission an der Seite der Ukraine.

Mit Blick auf China positionierte sich von der Leyen klar: De-risking statt De-coupling stand im Zentrum. Doch welche konkreten Strategien hinter De-risking und wirtschaftlicher Sicherheit genau stehen, und welche Mitgliedstaaten sie von den Maßnahmen überzeugen kann, bleibt im Dunklen.

Einen besonderen Fokus legte von der Leyen auf Länder des Globalen Südens, von Lateinamerika und Afrika zum Indopazifik. So soll ein neues Strategiekonzept für Afrika erstellt werden, das beim nächsten EU-AU-Gipfel vorgelegt werden soll. Sie unterstrich, dass diese Partnerschaften von beidseitigen Nutzen sein müssen und sieht die EU an der Seite des Globalen Süden im Bestreben, „die auf Regeln basierende Ordnung gerechter zu gestalten und für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen“. Doch um ihren Worten gerecht zu werden muss die EU diese Versprechen, genauso wie die EU-Global Gateway Initiative, mit Leben füllen. Der geplante Wirtschaftskorridor Indien – Naher Osten – Europa ist eine begrüßenswerte Initiative, wenn auch noch viele Fragen offen bleiben.

Migrations- und Asylpolitik

Beim Migrations- und Asylpaket forderte von der Leyen eine schnelle Einigung bei den Trilog-Verhandlungen. Doch was von der Leyen als „historische Möglichkeit“ sieht, um die europäische Migrations- und Asylpolitik effizient zu machen, ist eine verpasste Chance, eine menschenrechtsbasierte Migrations- und Asylpolitik in der EU zu etablieren. Denn die von ihr beschriebene neue Balance „zwischen Schutz von Grenzen und Schutz von Menschen“ ist im Ungleichgewicht zum Nachteil letzterer.

Es wird geschwiegen, wenn Regierungen in der EU Solidarität mit Schutzsuchenden kriminalisieren, und es zu illegalen Pushbacks an den EU-Außengrenzen kommt. Darüber hinaus wird versucht, die Verantwortung für Geflüchtete an Drittstaaten abzugeben. Diese Externalisierungsagenda verlagert nicht nur Solidarität und die Verantwortung für den Schutz von Menschenrechten aus, sondern bringt auch Fragen der Transparenz und Rechenschaftspflicht mit sich – Werte und Prinzipien, die die EU eigentlich ausmachen.

Fazit

In ihrer Rede wollte von der Leyen Sicherheit vermitteln. Angesichts der zahlreichen Herausforderungen, vor denen Europa steht, ist dieses Ansinnen verständlich, aber es wird dem „historischen Auftrag“ Europas, von dem von der Leyen sprach, nicht gerecht. Es fehlte an ehrlicher Analyse und mutigen Vorstellungen zur EU. Damit wäre sie aber dem Risiko ausgesetzt gewesen, Kritik von einigen EU-Mitgliedstaaten oder politischen Fraktionen im Europäischen Parlament zu ernten. In diesem Sinne war es die Rede einer Kommissionspräsidentin, die sich indirekt wieder für dieses Amt bewirbt.

Dass sie sich angeblich nicht als Spitzenkandidatin der CDU/CSU für einen Sitz im Europaparlament aufstellt, zeigt, dass sie sich weiterhin außerhalb des bestehenden Spitzenkandidat*innen-Systems bewegen möchte. Ursula von der Leyen geht ihren eigenen Weg zur Wiederwahl. Mit ihrer Rede hat sie dafür den Grundstein gelegt und inoffiziell den Wahlkampf für die Europawahl im Juni 2024 eröffnet.