USA: Der Krieg im Nahen Osten spaltet die amerikanische Linke - und könnte die Wiederwahl von Biden gefährden 

Hintergrund

In Teilen der amerikanischen Gesellschaft und Politik wächst die Kritik am Vorgehen der Biden-Administration und droht die alte Obama-Koalition zu spalten. Ohne diese kann Präsident Biden jedoch keine zweite Amtszeit gewinnen.

Washington Protest Ceasefire
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Demonstration in Washington am 9. November 2023.

Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober hat in den USA über alle Parteigrenzen hinweg Entsetzen ausgelöst und wird scharf verurteilt. Betont wird das völkerrechtlich verbriefte Recht Israels, sich gegen das Massaker der Hamas zu verteidigen. Das Ausmaß des militärischen Gegenschlags, die humanitäre Katastrophe in Gaza, die steigende Zahl ziviler Opfer sowie die Angriffe auf vermeintliche Schutzräume in UN-Schulen, Kirchen, Moscheen und Krankenhäusern haben in progressiven Teilen der Zivilgesellschaft und Politik jedoch auch massive Kritik ausgelöst. Sie richtet sich gegen die israelische, aber vor allem gegen die eigene Regierung. Inzwischen droht sie, die Demokratische Partei zu spalten.

Nicht auszublenden ist natürlich, dass Proteste zum Teil auch aus linksradikalen oder antisemitischen Gruppierungen kommen. So feierte beispielsweise der nationale Dachverband der Studentenorganisation Students for Justice in Palestine den Hamas-Terror als „historischen Sieg für den palästinensischen Widerstand“. Der Chicago-Ortsverband von Black Lives Matter veröffentlichte wenige Tage nach dem Angriff auf X die Graphik eines Gleitschirmfliegers. Auch der Brief der mehr als 30 Harvard-Studierendenorganisationen, indem die Unterzeichnenden die israelische Regierung für die sich entfaltende Gewalt „allein verantwortlich“ machten, sorgte für heftige Auseinandersetzungen im öffentlichen Diskurs.

Doch inzwischen sind es auch eine Vielzahl führender Stimmen aus dem links-progressiven Mainstream, die offen an dem Handeln der Administration zweifeln und einen Kurswechsel einfordern. So protestierten am 4. November hunderttausende Menschen in Washington, New York, San Francisco und an vielen anderen Orten in den USA. Auf den Straßen sah man Amerikaner*innen arabischer Herkunft und Muslim*innen aus aller Welt, aber auch progressive jüdische Stimmen, Schwarze Aktivist*innen, LGBTQ-Gruppen, internationale Stimmen aus antikolonialen Bewegungen, und vor allem Tausende junge Menschen. Zusammen bilden sie einen großen Teil der ehemaligen Obama-Koalition, ohne die Präsident Biden eine zweite Amtszeit in einem sowieso schon knappen Wahlkampf kaum gewinnen kann.

Breite Teile der amerikanischen Linken lesen den Nahost-Konflikt durch die Linse der eigenen Geschichte

Auf der Bühne des Palästinensischen Literaturfestivals in New York City reflektierte der renommierte US-amerikanische Autor Ta-Nehisi Coates am 1. November die Beobachtungen seines Besuchs in Israel und Palästina: „Ich habe festgestellt: Israel ist eine Demokratie, die einzige Demokratie im Nahen Osten, auf genau die gleiche Weise, in der die USA die älteste Demokratie der Welt ist.“ Für die 3.000 Teilnehmenden war die Bedeutung unmissverständlich: Coates versteht die klassische Beschreibung Amerikas als „älteste Demokratie“ als heuchlerisch, denn jahrhundertelang wurden Millionen Schwarze Amerikaner*innen unterdrückt, rechtlich ausgegrenzt, und brutaler Gewalt ausgesetzt. Ebenso heuchlerisch erscheint ihm heute, vor dem Hintergrund der aktuellen Lebensbedingungen der Palästinenser*innen, die Beschreibung Israels als Demokratie.

Coates erzählte in seiner Rede von dem jüdischen Viertel Hebrons im Westjordanland, das von Palästinenser*innen nicht betreten werden darf; von der Machtlosigkeit, mit der er und sein palästinensischer Begleiter stundenlang vor dem Eingang zur Al-Aksa Moschee warten mussten, weil israelische Soldaten ihnen den Zutritt verweigerten; von den getrennten Straßen für israelische Siedler*innen und Palästinenser*innen in den besetzten Gebieten – all dies sei ihm furchtbar vertraut vorgekommen. Es erinnerte ihn, so Coates, an die Zeiten seiner Eltern, seiner afroamerikanischen Vorfahren, und an den rechtlich verankerten Rassismus Amerikas.

Spätestens seit dem Mord an George Floyd findet in progressiven Teilen der amerikanischen Gesellschaft eine engagierte Aufarbeitung der eigenen Geschichte statt. Das Bewusstsein für strukturellen Rassismus ist gewachsen. Dieses Verständnis prägt auch die derzeitige Debatte um Israel, das in Teilen der amerikanischen Linken als „Apartheid-Staat“ wahrgenommen wird. Die Bestrebung um einen palästinensischen Staat wird mit Black Liberation, LGBTQ Liberation und anti-kolonialen Bewegungen in Verbindung gebracht.

Es ist diese Sichtweise auf die eigene Geschichte, die  inzwischen die Perspektive führender Intellektueller der progressiven Community wie Coates, Michelle Alexander, und Nikole Hannah-Jones, sowie  junger progressiver Politiker*innen wie Cori Bush, Jamal Bowman, Alexandria Ocasio-Cortez, Ayanna Presley, und Maxwell Frost prägt und dazu bewegt, das aktuelle Handeln der Biden-Administration zu kritisieren. Sie sind die neue Generation, die den Diskurs im progressiven Raum gestalten: Autor*innen, deren Bücher monatelang auf der New York Times-Bestsellerliste stehen, preistragende Podcaster*innen mit nationaler Reichweite, die neue Garde inspirierender junger Mandatsträger*innen. Für viele – insbesondere viele junge – Menschen im linken Lager sind diese Stimmen richtungsweisend für die Zukunft des progressiven Denkens.

Kritik kommt auch von neuen jüdischen Organisationen der amerikanischen Linken

Die innenpolitischen Folgen des Terrorangriffs und des anschließenden Israel-Hamas-Kriegs machen in den USA auch eine grundlegende politische Verschiebung in der jüdisch-amerikanischen Bevölkerung sichtbar. Lange Zeit galt die pro-israelische Lobbyorganisation AIPAC (American Israel Public Affairs Committee) als Stimme der amerikanischen Juden: Sie war überparteilich und konsequent Pro-Israel. Doch der Rechtsruck der israelischen Regierung und der wachsende Einfluss der Siedlerbewegung spalteten die jüdische Gemeinde in den USA. Heute gilt AIPAC mit ihrer Unterstützung der Netanjahu-Regierung für viele amerikanische Jüdinnen und Juden als reaktionär; sie finden sich stattdessen in neuen Organisationen wie J-Street, Jewish Voice for Peace, und If Not Now wieder.

J-Street, eine nationale Organisation, deren Mitglieder sich als „Pro-Israel, Pro-Frieden, und Pro-demokratisch“ verstehen, setzt sich für eine Zwei-Staaten Lösung ein. Nach der umgehenden Solidaritätserklärung mit den israelischen Opfern des Terrorangriffs veröffentlichte die Organisation im Folgenden auch immer dringlichere Appelle für eine humanitäre Pause und forderte die Biden-Administrationen dazu auf, die humanitäre Krise in Gaza zu beenden. Auch Senator Bernie Sanders, der schon oft bei J-Street Konferenzen auftrat, unterstützte frühzeitig diese Forderungen.

Noch kritischer sind die Appelle von Jewish Voice for Peace (JVP) und If Not Now, den links-progressiven jüdischen Organisationen, die seit Wochen an der Spitze von Protestbewegungen im ganzen Land stehen. Ende Oktober legten Mitglieder von JVP in New York die Ankunftshalle der Grand Central Station lahm und forderten einen Waffenstillstand; am 7. November organisierten hunderte Mitglieder eine Aktion am Fuß der Freiheitsstatue. Wenige Tage später wurden mehr als 300 Aktivist*innen aus beiden Organisationen bei einer Kundgebung für einen Waffenstillstand im Kapitol verhaftet.

Je länger der Israel-Hamas Krieg anhält, desto intensiver werden die Auseinandersetzungen: Aufnahmen eines Protests am 17. November deuten darauf hin, dass die Polizei gewalttätig gegen links-jüdische Demonstrant*innen vorging, die aus Anlass eines Treffens des Democratic National Committee (DNC) protestierten, um einen Waffenstillstand, einen Austausch von israelischen Geiseln und palästinensischen Gefangenen, und die Deeskalation des militärischen Konflikts zu fordern. JVP-Mitglieder, darunter führende linke Rabbiner, kritisierten in einem Statement, dass „die US-amerikanische und die israelische Regierung unsere Trauer […] benutzen, um die völkermörderische Gewalt gegen die Menschen in Gaza zu rechtfertigen.“

Auch innerhalb der Regierung, dem Parlament, den Ministerien und der Demokratischen Partei herrscht Unmut

Josh Paul, ein hochrangiger Beamter im State Department, gab am 19. Oktober seinen Rücktritt bekannt. Er könne das Handeln der Administration nicht länger mittragen und wertete die Waffenlieferungen an Israel als „kurzsichtig, destruktiv, ungerecht und im Widerspruch zu den Werten, die wir öffentlich vertreten.“ Berichte aus dem State Department deuten auf eine zunehmend frustrierte Mitarbeiterschaft hin. Inzwischen wurden schon drei verschiedene Dissens-Depeschen organisiert — eine Form des internen Protests, die Mitarbeitenden die Möglichkeit gibt, ernsthafte Meinungsverschiedenheiten auszudrücken. Viele sind der Ansicht, dass die Expertise des Ministeriums ignoriert werde: So hätte es beispielsweise Wochen gedauert, bis der Arbeitsstab für die Prävention von Gräueltaten zusammengerufen wurde.

Auch im Entwicklungsministerium unterzeichneten am 10. November mehr als 1.000 Mitarbeitende einen offenen Brief, in dem sie die Regierung aufforderten, einen sofortigen Waffenstillstand zu unterstützen und  sich „beunruhigt und entmutigt über die zahlreichen Verstöße gegen das Völkerrecht“ äußerten. Darauf folgte ein weiterer Brief an den Präsidenten mit den Unterschriften von mehr als 500 Mitarbeitenden aus 40 verschiedenen Regierungsbehörden, die einen sofortigen Waffenstillstand und die Vermittlung humanitärer Hilfe nach Gaza forderten.

Im Kongress steht die überwiegende Mehrheit der Abgeordneten weiterhin geschlossen hinter der israelischen Regierung und dem Handeln der Biden-Administration. Doch unter den jungen, progressiven Mitarbeitenden wächst der Unmut. Am 8. November organisierten junge Mitarbeitende aus dem Haus und dem Senat einen Streik, in dem sie an die Mandatsträger*innen appellierten: „Unsere Wähler*innen fordern einen Waffenstillstand, und wir sind die Mitarbeitenden, die auf ihre Anrufe antworten. Die meisten unserer Chefs im Kapitol hören nicht auf die Menschen, die sie vertreten.“

Tag um Tag bröckelt die Einigkeit auch im linken Lager der Abgeordneten: Angeführt von Alexandria Ocasio-Cortez unterschrieben am 15. November 24 Abgeordnete einen Aufruf für einen Waffenstillstand. Unter ihnen sind die Vorsitzende und fast ein Viertel der Mitglieder des linken Progressive Caucus. Noch sind sie eine Minderheit, doch die Stimmung in der Partei ist angespannt und die Kluft droht sich auszuweiten.

Die Spaltung könnte Bidens Wiederwahl gefährden

Die Entfremdung im linken Lager könnte gravierende Konsequenzen für Bidens Präsidentschaftskandidatur mit sich bringen. In den USA wird im November kommenden Jahres der Präsident neu gewählt. Schon vor dem 7. Oktober deuteten Umfragen darauf hin, dass Biden in den wichtigsten Swing States an Zustimmung verloren hatte und hinter seinem Hauptrivalen, Ex-Präsident Donald Trump, lag – nicht, weil dieser an Unterstützung gewonnen hätte, sondern weil Biden aufgrund seines Alters und der Wahrnehmung, dass die Wirtschaft unter seiner Führung schwächele, insbesondere bei jungen Menschen und bei Schwarzen- und Latino-Wählergruppen an Rückhalt verliert.

2020 gewann Biden den Swing-State Michigan mit 155.000 Stimmen Vorsprung. In Michigan leben um die 240.000 Amerikaner*innen arabischer Herkunft. Auch in Pennsylvania und Georgia bildeten sie einen wichtigen Teil der demokratischen Koalition. In der ersten Umfrage seit dem Israel-Hamas-Krieg sackte die Unterstützung für Biden in dieser Bevölkerungsgruppe von 59 Prozent in 2020 auf nur noch 17 Prozent ab. Zum ersten Mal gab eine Mehrheit der Befragten an, sich nicht mit der Demokratischen Partei zu identifizieren. In einer Rede bei der Pro-Palästina-Demonstration in Washington am 4. November brachte Nihad Awad, Leiter des Council on American-Islamic Relations, die neue Haltung der Community auf den Punkt: „Unsere Botschaft ist: kein Waffenstillstand, keine Stimmen. Keine Stimmen in Michigan, keine Stimmen in Arizona, keine Stimmen in Georgia, keine Stimmen in Nevada, keine Stimmen in Wisconsin, keine Stimmen in Pennsylvania.“
 
Junge Amerikaner*innen waren manchen Studien zufolge die entscheidende Wähler*innengruppe für die Biden-Kampagne im letzten Wahlkampf. 2020 stimmten sie mit einem Vorsprung von 20 Prozentpunkten für Biden. Doch gerade diese Gruppe hat eine andere Sicht auf den aktuellen Krieg: Mitte Oktober gaben 51 Prozent der Wähler*innen zwischen 18 und 34 an, gegen weitere Waffenlieferungen an Israel zu sein; 52 Prozent waren mit Israels Handeln seit dem 7. Oktober unzufrieden; und nur 27 Prozent sahen die Reaktion der israelischen Regierung als gerechtfertigt.

Die Mahnungen vier führender Jugendbewegungen – March for our Lives, United We Dream, Gen-Z for Change, und Sunrise Movement – werden immer lauter und dringlicher. Am 7. November veröffentlichten sie ein gemeinsames Plädoyer an den Präsidenten: „Wir schreiben Ihnen eine sehr deutliche und unmissverständliche Warnung: Sie und Ihre Regierung riskieren mit ihrer Haltung gegenüber Gaza, dass Millionen junger Wähler*innen im nächsten Jahr zu Hause bleiben oder Dritt-Parteien wählen. Wir bitten Sie, alle Ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um jetzt einen Waffenstillstand auszuhandeln und den Friedensprozess wiederzubeleben.“

Es sind nicht nur die jungen, progressiven Wähler*innen, die Biden durch seine Unterstützung der Netanjahu-Regierung verlieren könnte, sondern auch die vielen überwiegend jungen Mitarbeitenden und Ehrenamtlichen, die den Motor einer erfolgreichen Wahlkampagne bilden. Am 8. November veröffentlichten mehr als 500 Alumni der letzten Präsidentschaftskampagne einen Aufruf, in dem sie den Präsidenten davor warnten, dass ein Versagen in dieser Krise das entscheidende Vermächtnis seiner Amtszeit werden könnte. Sein Handeln reflektiere nicht die Meinung der Demokratischen Wählerschaft. Aus dem Schreiben wird deutlich, dass die reale Gefahr besteht, dass hunderte erfahrene politische Organisator*innen und Aktivist*innen in Schlüsselstaaten wie Arizona, Florida, Georgia, Michigan, Nevada, Pennsylvania und Texas sich weigern könnten, ein zweites Mal für die Biden-Kampagnen zu arbeiten.

Tatsächlich befürworteten in einer Umfrage vom 20. Oktober 80 Prozent der demokratischen Wählerschaft einen Waffenstillstand. Der öffentliche Druck wirkt sich auf die Biden-Administration aus, die sich nun seit einigen Wochen für humanitäre Gefechtspausen einsetzt und für einen Austausch von israelischen Geiseln und palästinensischen Gefangenen wirbt. Doch ob diese Entwicklungen ausreichen, um progressive Wähler*innen zu überzeugen und wie viele ihre Wahl am 5. November 2024 von Bidens Nahost-Politik abhängig machen, ist eine offene Frage. Schon vor dem 7. Oktober war klar, dass es schwierig sein würde, die junge, multikulturelle, demokratische Koalition ein zweites Mal für Biden zu mobilisieren. Bei der nun ohnehin schon knappen Wahl zählt jeder Prozentpunkt.