11. Europäisches Geschichtsforum: Dekolonisiert Euch!

Konferenzbericht

Geschichtsdeutung ist ein machtvolles Instrument. Mit ihm werden politische Ziele verfolgt und sogar Angriffskriege begründet, wie Russland derzeit demonstriert. Das 11. Europäische Geschichtsforum griff die hochaktuelle Debatte um Dekolonialisierung in Bezug auf die Sowjetunion, Russland und auf den Westbalkan auf.

Teilnehmende des Europäisches Geschichtsforums sitzen in einem mehrreihigen Stuhlkreis

Dekolonialisierung ist einerseits ein Kampfbegriff von Unabhängigkeitsbewegungen, die sich gegen imperiale und koloniale Formen von Herrschaft und Ausbeutung richten. Zugleich ist er in Forschung und historischer Debatte mittlerweile etabliert als Auseinandersetzung mit überkommenen Formen von Wissenschaft, die koloniale Herrschafts- und Wissensstrukturen nicht kritisch analysieren, sondern selbst befestigen oder sogar produzieren.

Die Forschung und historische Debatte über die Dekolonisierung von jahrhundertealter russischer Vorherrschaft nach dem Zerfall der Sowjetunion sind noch jung. Deshalb ist dieses Forschungsfeld auch noch umstritten, weshalb der Begriff „russische Koloniestaaten“ auch nicht a priori verwendet werden sollte. Viele Wissenschaftler*innen in den nun unabhängigen ehemaligen Republiken der Sowjetunion sehen jedoch eine „dekoloniale Geschichtsschreibung“ als wichtiges Instrument, um sich gegen revanchistische Ansprüche Russlands zu wappnen. Denn oft rechtfertigt Moskau die aggressive Politik gegenüber seinen Nachbarstaaten damit, dass Freiheitsstreben und Unabhängigkeit vormaliger Sowjetrepubliken keine historische Grundlage hätten.

Russlands Krieg gegen die Ukraine bezeugt in all seiner Brutalität Putins neo-imperiale Vision von der Wiederherstellung Russlands als "euro-asiatische Supermacht". Russlands versuchte Landnahme macht deutlich, wie überfällig die Aufarbeitung der Geschichte der Nachfolgestaaten, aber auch der Regionen der Russischen Föderation, aus dekolonialer Perspektive ist. Dadurch sollte deutlich werden: Imperialismus und Kolonialismus sind keineswegs Phänomene vergangener Jahrhunderte - sondern manifestieren sich in Denkstrukturen, die unsere Gegenwart prägen. Wie in früheren Zeiten von verschiedenen Mächten in anderen Teilen der Welt wird wieder ein Angriffskrieg auf Grundlage historischer Narrative geführt.

Wie Jan Philip Albrecht, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, zu Beginn deutlich machte, hat das 2011 gemeinsam mit Memorial initiierte Europäische Geschichtsforum zum Ziel, Perspektiven auf aktuelle geschichts- und erinnerungspolitische Themen aus Ost- und Südosteuropa zusammenzubringen und damit eine pluralistische europäische Erinnerungskultur zu fördern.
Deshalb sollten die teilnehmenden Historiker*innen, Museumsmitarbeiter*innen, Forscher*innen und Journalist*innen der Frage nachgehen, ob und in welcher Weise die internationale Dekolonisierungsdiskussion für die Geschichtsschreibung zu Ost- und Südosteuropa relevant und produktiv sein kann: für ein Überdenken und die Erweiterung des eigenen Standpunktes.

Ebenso sollte der Russland-Fokus, der seit Jahrzehnten in Westeuropa Politik, Wirtschaft, Medien, aber auch Kultur- und Sozialwissenschaften dominiert, als Ergebnis kolonialer Denkmuster untersucht werden. Denn hier zeige sich eine tief verwurzelte Ignoranz gegenüber der politischen, kulturellen und historischen Vielfalt Osteuropas.

Da es um den Zusammenhalt in Europa gehe, ging es auf dem Forum auch um grundsätzliche Fragen dazu: Welchen Beitrag kann die Geschichtsschreibung in und über Ost- und Südosteuropa leisten, um fortbestehende koloniale Denkmuster aufzubrechen? Welche Chancen und Gefahren birgt die Deutung der ost- und südosteuropäischen Geschichte in Bezug auf Imperialismus und Kolonialismus?

Dekolonisation: Die Auflösung des russischen Imperiums

Die erste Fishbowl-Debatte unter Leitung von Stefan Meister von der DGAP verdeutlichte: Dekolonialisierung benötigt die Auseinandersetzung mit dem Konzept von Kolonialismus im Kontext der Sowjetunion.Die umfangreichen Forschungen dazu werden bisher insbesondere in Westeuropa zu wenig beachtet, wohingegen die unzähligen Studien zu britischem, französischem, niederländischem oder amerikanischem Kolonialismus durchaus geläufig sind. Das zeigt, wie die westliche Wissenschaft und auch die politischen Eliten an dieses Thema herangegangen sind, nämlich vornehmlich unter der Prämisse eines mehr oder weniger legitimen russischen bzw. sowjetischen Großreiches.

Dabei gab es auch in früheren Jahrhunderten bereits eine Form von Kolonialismus durch das Zarenreich. Diese geht auf das 16. Jahrhundert zurück und Mitte des 19. Jahrhunderts war Russland das größte Landimperium der Welt. Dieses russische Imperium war in Form der Sowjetunion weiter vergrößert worden durch die Eroberung neuer, aber nur für kurze Zeit unabhängiger Staaten wie der Ukraine, Georgien, Armenien oder Aserbaidschan. Der Kreml ließ die einheimische Nomenklatura entmachten und ganze ethnische Gruppen gewaltsam umsiedeln. Besonders schwer betroffen von der gewaltsamen Russifizierung waren aber auch die heute sogenannten fünf Stan-Republiken, wie etwa das Musterbeispiel Kasachstanmit teils genozidalen Maßnahmen gegen die indigene Bevölkerung.
 
In der sowjetischen Propaganda wurden diese Kolonialzüge als notwendig auf dem Weg in die Moderne verbrämt: Fortschritt durch Befreiung anderer Nationen und die Gewährung gewisser nationaler Rechte, sichtbarer Fortschritt auch in Form von Infrastrukturen wie des Schienennetzes. Diese Erzählung, so die einhellige Meinung auf dem Panel, wurde weitläufig im Westen akzeptiert und übernommen.

Post-kolonial vs. post-sowjetisch

Die an der Tbilisi State University lehrende Wissenschaftlerin Maia Barkaia riet dazu, zwischen post-kolonial und post-sowjetisch zu unterscheiden. Denn im Gegensatz zu ehemaligen westlichen Koloniemächten erkenne Russland seine koloniale Vergangenheit bis heute nicht an. Der Zerfall der Sowjetunion markiere in dieser Ignoranz bloß den Verlust eigener Territorien, die Teil des vormals zusammenhängenden Imperiums gewesen seien. Viele Russen identifizierten sich bis heute mit der Sowjetunion und hielten kontinuierlich an dem Mythos dieses Großreiches fest.
 
Einen weiteren Unterschied zu der westlichen Kolonialgeschichte verdeutlichte die in Basel lehrende Historikerin Botakoz Kassymbekova: Im Gegensatz zu den westlichen Übersee-Kolonien war das russische Imperium ein Landimperium. Es grenzte an seine Kolonien. Durch die unterschiedlichen Interessen und Ausgangslagen war ein grundlegend anderer Umgang zwischen den Kolonialmächten und den Kolonialisierten vorherrschend. Der westliche Übersee-Kolonialismus hatte als Ziel die Ausbeutung von Arbeitskräften. Bei der kolonialen Ausbeutung durch Siedler hingegen sei die Erweiterung des eigenen und verbundenen Territoriums das Ziel gewesen.

Das wiederum habe zu anderem Umgang mit den dort lebenden Menschen geführt - zur „Russifizierung“. Dies sei eine „imperiale Logik, die nach wie vor im Denken der russischen politischen Elite verwurzelt ist“, so Kassymbekova, die über die sowjetische Invasion in Zentralasien, den russischen Kolonialismus und das Erbe des Stalinismus forscht.

„Der Diskurs wurde genau zu der Zeit entwickelt, als russische Ethnographen schrieben, dass einheimische Männer russische Frauen heiraten sollten.“

So sei „die russische ethnographische Schule“ gewesen.

„Man entschied, dass es besser sei, russische Frauen zu heiraten, weil die Kinder sich dann eher als Russen fühlen würden. Diese Art der Assimilierung war also Teil des kolonialen Wissens.“

Bei ihren Recherchen in den Archiven habe sie in Militärberichten festgestellt, dass die Militärs bei ihrer Ankunft in Zentralasien als erste Maßnahme Waisenhäuser ausfindig machten; wohl um die ethnischen Wurzeln etwa durch erzwungene Adoption an Russ*innen zu tilgen. Das sei „kultureller Völkermord“ gewesen.

Situation in Russland

Elena Zhemkova, Vorstandsmitglied und Vorsitzende des historisch-wissenschaftlichen Aufklärungs-Zentrums der Internationalen Gesellschaft Memorial berichtete von politisch gelenkter Geschichtsschreibung in Russland: Statt einer ernsthaften, landesweiten Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit erlebe man zurzeit die Wiederauferstehung eines patriotisch begründeten Großmacht-Mythos. Ein Mythos, der die Geschichte Russlands als eine Abfolge glorreicher, heldenhafter Taten sehe. Laut Zhemkova würden Schuld und Verantwortung gänzlich ausgespart – auch mit Blick auf den Krieg gegen die Ukraine

Der westliche Blick auf die Sowjetunion

Das im Westen produzierte Wissen über die Sowjetunion war eurozentrisch. Darauf wies die Wissenschaftlerin Franziska Davies hin, die an der LMU in München über imperiale Verflechtungen und Modernität im Kaukasus und Asien des 19. und 20. Jahrhunderts forscht. Von vielen Linken sei die Sowjetunion demnach als Projektionsfläche für Kritik am westlichen Kapitalismus und Imperialismus gesehen und die Gewalt in der UdSSR gegen vermeintliche nationalistische und ethnische Gruppen entweder ignoriert oder später gar als notwendiges Übel für den möglichen Übergang vom Kommunismus zur Demokratie abgetan worden. Dieser akademische Eurozentrismus sei erst allmählich in den neunziger Jahren erkannt worden, wie auch der Gedanke, dass die Geschichte Russlands nicht die Geschichte eines Nationalstaates sei, sondern die Geschichte eines multiethnischen Imperiums.

Oppositionelle Stimmen

Die Forschung werde allerdings durch dieses überkommene Denken noch immer erschwert, sagte Davies. Den dekolonisierenden Ansatz ernst zu nehmen und zu versuchen, die unterdrückten Stimmen zu berücksichtigen, führe zu „immensen Herausforderungen“. Denn Archive und das Material selbst seien immer noch nach imperialen Gesichtspunkten organisiert und geordnet. Der Zugang zu Archiven und Quellen über die Geschichte der ehemaligen Kolonien läge in Russland. Natürlich müssten Wissenschafter*innen nach St. Petersburg und Moskau reisen, um zu rekonstruieren, wie die russischen Bürokraten über multiethnische und multikulturelle Städte dachten und wie sie damit umgingen.

Aber weitaus schwieriger sei es, die Stimmen der Kolonisierten und alternativ Erinnernden zu rekonstruieren, sie überhaupt zu finden, um sie verstehen und interpretieren zu können. Am Beispiel der Tartaren machte Davies deutlich, dass die „Gleichschaltungs-Politik“ der Sowjetunion bis heute die Forschungsarbeit massiv erschwere – schon allein sprachlich dominiere das Russische in der gesamten Osteuropa-Kunde.

Kassymbekova ergänzte, dass es im Stalinismus eine bewusste Negierung „subalterner“ Historie gegeben habe, durch mangelnde Sprachförderung nach dem Motto:

„Wir haben ihre Geschichte nicht aufgeschrieben. Deshalb gibt es diese Nationen nicht.“

Die sowjetischen Peripherie-Staaten

Wiederum wenig Widerstand in der westlichen Forschung löste die Tatsache aus, dass Russland sich in den Peripherie-Republiken als Subjekt sah und andere Republiken als unterzuordnende Objekte. Barkaia verwies darauf, dass sich Russland dabei im Kaukasus und Zentralasien stets als ein europäisches Imperium inszeniert habe, welches für die Idee der europäischen Aufklärung und Moderne stünde. Diese Darstellung sei in der heutigen Geschichtsschreibung immer noch vorherrschend. Gleichzeitig versuche Putin derzeit den Mythos zu etablieren, der Krieg gegen die Ukraine sei eine Abwehrschlacht gegen westlichen Einfluss.

Diese Hybridität von „europäisch-sein und gleichzeitig nicht“, wie Barkaia es nannte, dieses Generieren einer „eurasischen Identität“ gebrauche Russland zur Rechtfertigung seiner imperialen Expansion. Daher sei es wichtig zu unterscheiden zwischen russischem Kolonialismus des Zarenreichs einerseits und der Epoche der Sowjetunion andererseits, da es sich um grundsätzlich unterschiedliche politische Gebilde mit verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Formationen handele.

Die Peripherie-Staaten wiederum, die von Russland als Objekt gesehen werden, befänden sich deshalb im Zwiespalt und wüssten nicht, wohin sie ideengeschichtlich und sogar geografisch gehörten, so die Georgierin Barkaia, ob nach Asien oder zu Europa:

„Es gibt eine Art von doppeltem Bewusstsein. Auf der einen Seite ist es natürlich eine wertvolle Sache, vor Russland gerettet zu werden. Dann wird postuliert, Teil Europas zu sein. Andererseits muss man sich fragen, wie man diese Verbindung mit der peripheren Welt nicht verliert und wie man in diesem Grenzland nicht zum Rassisten wird, denn wir befinden uns in einer Grenzsituation, in der weder Europa noch Asien in Frage kommen, und es ist wahrscheinlich, dass wir dies ändern und zu uns selbst werden müssen.“

Ausblendung regionaler Geschichte

Die Wissenschaftlerin Davies bestätigte das Objekt-Subjekt-Handeln Russlands, indem sie es bis tief in der regionalen Geschichtsschreibung erkannte: Paradigmatisch für die pro-russische Einseitigkeit sei die Ausblendung lokaler Geschichte der ehemaligen Kolonien. Im Kaukasus, in Zentralasien gab es temporär unabhängige, demokratische und sozialdemokratische Formationen, die in der Geschichtsschreibung aber nicht auftauchten, so Davies. Fortschritt und Entwicklung würden einzig dem russischen Imperium zugeschrieben.

Davies summierte diese Beobachtung, indem sie Putins Definition von Kolonisierung und Dekolonisierung zu deuten versuchte, der sich ja auf ein historisches russisches Imperium beruft, egal ob zaristisch oder sowjetisch. „Putin spricht auch von Dekolonisierung“, so Davies, aber er meine eine Dekolonisierung vom Westen! Was den Begriff „Dekolonisierung“ in die konkrete Gegenwart hob, nämlich als Grund für den Überfall der Ukraine, den Putin ja als Befreiung vom Einfluss des Westens propagiert!

Ukraine und Russland in einer post-imperialen-Identitätskrise

Laut Davies ist die Beziehung zur Ukraine komplizierter, da es dort verankerte koloniale Strukturen gibt und eine Denkweise, die durch die frühe „Russifzierung“ kolonial geprägt ist.

Die Herausforderungen bei der heutigen ukrainischen Geschichtsschreibung seien die Verflechtung und wohl auch Entflechtung imperialer Narrative, die von Russland ausgehen. Diese wurden bis zum russischen Angriff auf die Ukraine auch in Deutschland mehrheitlich akzeptiert. Viele dieser kolonialen/ imperialen Kategorien über die Ukraine wurden in der Geschichtsforschung verinnerlicht und reproduziert. Nun bestünde die Herausforderung darin, die ukrainische Geschichte als Teil einer breiteren europäischen Geschichte zu normalisieren und sie nicht weiter als Instrumentarium zu nutzen, um den Mythos des russischen Großreichs zu manifestieren.

Die Existenz der Ukraine als unabhängiger Akteur, so Davies, werde als Gefahr für die russische nationale Identität angesehen. Diese enge Verbindung zwischen Imperialismus und Nationalismus sei spezifisch für Russland.

Im Fall der Ukraine erlebte der Westen nun das Gegenteil, so Davies:

„Was also vor dem 24. Februar 2022 noch weit weg war, ist jetzt näher an uns herangerückt, und jetzt betrachten wir die Ukraine als unseren europäischen Nachbarn.“

Davies sieht in dem völkermordenden Krieg gegen die Ukraine auch Ausdruck einer postimperialen russischen Identitätskrise. Seit dem Zerfall der Sowjetunion stünde die Frage im Raum: „Was ist Russland, wenn es kein Reich ist?“ Das russische Großreich-Denken sei insbesondere bei den politischen Eliten bis heute ungebrochen.

Belarus

Inwiefern war es möglich, dass es im Kreml-treuen Belarus vor drei Jahren zu einem pro-westlichen Aufstand kommen konnte? Der Belarusse Aliaksei Bratachkin von der Universität Hagen analysierte diese Form der Dekolonialisierung in seiner Heimat als Protest gegen eine von Machthaber Lukaschenko betriebene „sekundäre Kolonisierung“. Denn das autoritäre belarussische Regime habe versucht, „die gesamte Infrastruktur der unabhängigen belarussischen Kultur zu zerstören“ und die „belarussische Identität auszulöschen“. Diese „neue Stufe der Diskriminierung der belarussischen Sprache in Belarus“ habe zu Widerstand geführt. Doch der russische Angriff auf die Ukraine und die Zusammenarbeit mit Russland habe „die historischen Narrative in Belarus ruiniert und in ein sehr spezifisches militarisiertes Narrativ verwandelt“.

Nun versuchten einige Leute aus Belarus in der Diaspora Institutionen zu gründen, so Bratachkin. Exil-Politiker*innen hätten die Idee, ein Institut des nationalen Gedächtnisses zu gründen. Doch diese Identitätsstiftung sei derzeit nur im Ausland möglich.

Dennoch gab sich Bratachkin nicht gänzlich pessimistisch für eine Fortsetzung der Dekolonisierung in seinem Land:

„In den letzten zehn Jahren haben wir gesehen, wie sich das ethnozentrische Narrativ der Belarussen in ein vielfältiges Narrativ verwandelt hat. Wir haben gesehen, wie wir zum Beispiel die jüdische Kultur in Belarus entdeckt haben oder einige der kulturellen Phänomene“, sagte Bratachkin. „Und ich denke, dass das in gewisser Weise ein guter Anfang ist.“

Der Balkan: Immer noch Objekt des kolonialistischen Blicks?

Serbien: Koloniale Unterwerfung statt Entkolonialisierung

Die serbische Historikerin Radina Vučetić schilderte den Sonderweg Serbiens nach dem Zerfall Jugoslawiens. Sie hat deutlich gemacht, dass Serbien in der Dekolonialierungsdebatte strukturell Ähnlichkeiten mit Russland habe: beide haben ihre Vormachtstellung verloren. Statt einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Kolonialgeschichte habe in Serbien eine freiwillige koloniale Unterwerfung gegenüber Russland stattgefunden. Laut Vučetić hat sich Serbien an Russland orientiert, da es unter einem ähnlichen Minderwertigkeitskomplex wie Russland leidet.

Der globale Wendepunkt sei in den neunziger Jahren gewesen, der Zeit des sozialistischen Übergangs und der großen Umwälzungen in Osteuropa sowie des Jugoslawienkriegs. Da habe Osteuropa seine eigene Version der post-kolonialen Theorie als Teil des post- sozialistischen Übergangs entwickelt.

Dabei hat es die serbische Geschichtsschreibung in den neunziger Jahren versäumt, die post-koloniale Theorie und die Position Serbiens in der post-kolonialen Welt neu zu überdenken. Ein Problem lag nach Vučetić darin, dass die Begriffe der Kolonisierung und des Postkolonialismus schwer mit Serbien in den neunziger Jahren zu verbinden gewesen seien.

Der freiwilligen kolonialen Unterwerfung unter Russland und China folgte laut Vučetić das Aufkommen von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und starken antiwestlichen Gefühlen. Serbien läge in der russischen Einflusssphäre - und koloniales Verhalten Russlands in Serbien werde von den politischen Machthabern des Landes ohne jeglichen Widerstand akzeptiert.
Das läge vor allem daran, dass Russland Serbien unterstützt hat bei der Nicht-Anerkennung des Kosovos. Es werde daher als eine Art Schutzmacht Serbiens gesehen.

Serbiens Führung bediene heute das Narrativ russisch-serbischer Bruderschaft in verschiedenen Perioden der Geschichte Serbiens. Tatsächlich ähnelten sich die historischen Erfahrungen beider Staaten:

„Russland hat sein früheres Imperium verloren und Serbien hat das verloren, was als serbische Welt galt, und alle Kriege der neunziger Jahre mit Demütigung, aber ohne Anerkennung der eigenen Niederlage verloren. Ganz zu schweigen von der Anerkennung der Verbrechen während dieser Kriege.“

Nordmazedonien/ Kroation/ Bosnien und Herzegowina

Einen Sonderfall von Dekolonisierung zwischen Ost und West bildet einer der ärmsten Staaten Europas: Nordmazedonien. Hier konkurrierten verschiedene nationale Geschichtsschreibungen unter Einmischung der EU-Nachbarstaaten Griechenland und Bulgarien um die Herstellung der „richtigen nationalen Identität“.

„Diese Geschichtsschreibung weigerte sich, die Existenz vielfältiger Antworten, Mehrdeutigkeiten und Diskontinuitäten anzuerkennen“, sagte Stefoska. „Dies wiederum ist in jüngster Zeit zu einem neuen, noch nie dagewesenen Hindernis auf dem Weg Mazedoniens in die Europäische Union geworden.“

Griechenland habe den Namen „Mazedonien“ nicht anerkannt, weil es der Meinung war, dass dieser Name eine Schöpfung von Tito und den Kommunisten gewesen sei und dass nur die gleichnamige Region in Nordgriechenland das Recht auf den Namen Mazedonien habe. Der am Ende politisch beigelegte Namensstreit habe jedoch den nordmazedonischen Nationalismus verschärft und demokratische Reformen eher behindert.

Epilog

„Dekolonisiert Euch!“ lautete der durchaus provokante Titel des 11. Europäischen Geschichtsforums. Denn dieser Imperativ zielte ja darauf ab, dass Staaten des früher sogenannten Ostblocks - aber auch Teile der westlichen Forschung - sich noch immer nicht gänzlich von den Narrativen Moskaus losgesagt haben. Anhand von etlichen Beispielen, vor allem aus Nachfolgestaaten der russisch dominierten Sowjetunion haben Forscher*innen das deutlich gemacht.

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt, dass dort die Führung wie auch weite Teile der Bevölkerung keinerlei Verständnis zeigen für Dekolonisierung. Und auch im Westen sei man dieser Perspektive lange gefolgt. Erst mit Kriegsbeginn sei die Debatte neu befeuert und ein Umdenken eingeläutet worden.

Hingegen haben es buchstäblich zerrissene Grenzländer wie Georgien oder das Putin-hörige Belarus bis heute nicht geschafft, wirklich frei vom Moskauer Einfluss zu leben.