Digitalpolitik für alle – Wie Digitalisierung gemeinwohlorientierter werden kann

Veranstaltungsbericht

Wie ist es um das Gemeinwohl im Digitalen bestellt? Welche Rolle spielt die Digitalpolitik? Und welche Hebel könnten helfen, mehr Gemeinwohl im Digitalen zu etablieren? Diese Fragen diskutierte Digital- und Datenexpertin Aline Blankertz von Wikimedia beim Böll-Lunch Talk am 8. November mit Helke Knütter, Leiterin Dialog und Vernetzung in der Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft des Ministeriums für Arbeit und Soziales, dem Caritassprecher Johannes Landstorfer und dem Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Jan Philipp Albrecht.

Podiumsdiskussion in der Beletage

Wessen Perspektiven finden Gehör, wenn Chancen und Risiken von Technologien eingeschätzt, digitalpolitische Ziele formuliert werden? Dass in der Digitalpolitik – ein Themenfeld, das bislang nur wenige Menschen auf die Straße bringt – durchaus viel auf dem Spiel steht, weiß Theresa Züger vom Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft: „Das Digitale wird immer mehr Teil der öffentlichen Infrastruktur.“ Die KI-Expertin hat kürzlich eine Studie zu Gemeinwohlorientierung von KI veröffentlicht und gibt ihre Perspektiven in einem Telefoninterview zu Protokoll. Bislang, so die Forscherin, begreife man das Internet noch allzu oft als Konsumraum. „Wir müssen es aber als politischen Raum verstehen, in dem Möglichkeitsräume festgelegt werden“, betont die Forscherin. Gestalten Bürger*innen hier kaum mit, dann drohen Benachteiligung und eine Verschärfung der Ungleichheit.

Wie lässt sich für mehr Gemeinwohlorientierung sorgen? Aline Blankertz von Wikimedia glaubt, dass bislang insbesondere marginalisierte Gruppen kaum Gehör finden. Um das zu ändern, holten die Ökonomin und ihre Kolleginnen Expert*innenmeinungen ein, formulierten acht Anforderungen für mehr Gemeinwohl im Digitalen. Das Ziel: Gemeinwohl selbstverständlicher im Digitalen zu verankern. Unter anderem sollen alle Menschen an demokratischen Beteiligungsstrukturen partizipieren, Zugang zu digitaler Kommunikation, zu Infrastrukturen, digitalen Räumen, und vertrauenswürdigen Informationen haben. Ein Vorschlag Blankertz‘: Die Bildung digitalisierungsbezogener, demokratischer Räte – repräsentativ zusammengesetzt in Hinblick auf Alter, Geschlecht, Herkunft und Bildungsstand.

„Digitalpolitik sollte immer versuchen, gemeinwohlorientiert zu sein“

Für den Koordinator der digitalen Agenda des Deutschen Caritasverbandes Johannes Landstorfer ist Gemeinwohlorientierung eine Selbstverständlichkeit. „Grundsätzlich würde ich erwarten, dass Politik und auch Digitalpolitik immer versuchen, gemeinwohlorientiert zu sein.“ Digitale Teilhabe will die Caritas dabei in dreifacher Hinsicht ermöglicht sehen – und sieht die Politik in der Verantwortung. „Es geht um Teilhabe in digitalen Medien, Anteil an digitalen Medien und Teilhabe durch digitale Medien.“ Konkret müssten sich Menschen passende Anschlüsse und Endgeräte leisten können, es müssten digitale Angebote durch ihre Struktur und Aufmachung Teilhabe ermöglichen – etwa in dem sie so gestaltet sind, dass Nutzer*innen persönliche Einschränkungen überwinden oder leichter Anträge in Verwaltungen stellen können. Schließlich müssten digitale Angebote so gestaltet sein, dass alle Menschen partizipieren können. „Kann ich mir Gehör verschaffen? Finde ich dort statt als Gruppe, die sonst vielleicht eher am Rand der Gesellschaft steht?“ Johannes Landstorfers Resümee: „Man muss leider sagen: Es ist in der Regel nicht so, dass solche Gruppen dort groß zu Wort kommen.“

Viele Kapazitäten sieht Landstorfer bei den Sozialverbänden, künftig mehr gemeinwohlorientierte Digitalprojekte umzusetzen. Da kaum Gewinne erwirtschaftet würden, seien die Verbände jedoch auf Förderung angewiesen. Insbesondere das Digitalprogramm der Bundesregierung habe bereits vieles ermöglicht. Im Allgemeinen jedoch wurden Wohlfahrtsverbände in der Digitalpolitik bislang kaum mitgedacht. „Das sind aber Akteur*innen, die wichtig sind – zum Beispiel für sozialen Zusammenhalt, den wir nötiger denn je brauchen.“ Aufgrund der aktuellen Sparpolitik stünden derzeit gleich mehrere gemeinwohlorientierte Digitalprojekte vor dem Aus. „Da sind viele Leute gewonnen worden, die vorher nie daran gedacht hätten, in einem Wohlfahrtsverband zu arbeiten. Das ist jetzt alles auf der Kippe.“  

Koalitionsvertrag: Gemeinwohlorientierte Digitalpolitik mit Abstrichen

Die Absicht, Digitalpolitik stärker am Gemeinwohl auszurichten und dabei auch die Zivilgesellschaft einzubinden, ist im aktuellen Koalitionsvertrag formuliert. An der Ausarbeitung des Vertrages war Jan Philipp Albrecht, ehemaliger Landesminister in Schleswig-Holstein und Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, beteiligt. Aktuelle Digitalpolitik in Hinblick auf das Gemeinwohl sieht er eher kritisch und wünscht sich mehr Tempo. Im Zuge der Koalitionsverhandlungen habe man sich so etwa nicht darauf einigen können, konkrete Maßnahmen zur Erreichung gemeinwohlorientierter Ziele festzuhalten. „Das Ergebnis sieht man jetzt leider: Dadurch, dass auch kein Ministerium koordinierend für den digitalen Bereich steht, dauert die Umsetzung lange und es findet eine Verantwortungsdiffusion statt.“ Insbesondere aus dem Innenministerium erhoffe er sich Initiative, Datensysteme infrastrukturell zu ermöglichen. „Da hätte man meines Erachtens schon Rahmenbedingungen auf den Weg bringen können.“

Insgesamt, so der Jurist, müsse Politik digitalpolitische Fragen ressortübergreifend verhandeln und Mittel bereitstellen, um Digitalisierung und Digitalprojekte voranzutreiben. „Das Geld, das wir investieren, muss dazu führen, dass sich gemeinwohlorientierte Institutionen wie Wohlfahrtsverbände und Verwaltungen im Licht der digitalpolitischen Herausforderungen verändern und sich am Ende nicht ein >>Beiboot<< um alles kümmern muss“, so Albrecht. Gemeint sind zeitlich begrenzte Sonderprojekte, die die internen Strukturen öffentlicher Verwaltung unberührt lassen. Statt solche >>Beiboote<< zu entwerfen müsse digitale Transformation ins Zentrum der Institutionen vorrücken. „Man muss sich zum Beispiel mit der Frage beschäftigen, wie man die neuen Möglichkeiten – zum Beispiel von Datenauswertung – integriert, in eine Sitzung von einem Kommunalparlament zum Beispiel.“

Auch außerhalb der staatlichen Sphäre gelte es, Gemeinwohlorientierung zu stärken. Von der KI-Entwicklung müsse so auch die Zivilgesellschaft ökonomisch profitieren. Hierzu dringt Albrecht auf veränderte Rahmenbedingungen – „für diejenigen, die mit den Daten arbeiten wollen, und für diejenigen, die daraus etwas entwickeln wollen.“ Voraussetzung sei ein funktionierender, geregelter Markt. „Es muss Institutionen geben, die auch denjenigen zur Verfügung stehen, die vielleicht nicht sofort im Zentrum stehen“, betont der Stiftungsvorstand. Dass zügig politische Rahmenbedingungen dieser Art geschaffen werden, sei auch deshalb unerlässlich, da der Staat nicht alleiniger Treiber der notwendigen, digitalen Entwicklung sein könne: Für die Stärkung des Gemeinwohls seien privatwirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Initiative unerlässlich.

Joint Venture mit ziviler Beteiligung: Civic Coding

In einem ministeriumsübergreifenden Leuchtturmprojekt, das hoffentlich nicht zum Beiboot wird, erprobt die Bundesregierung derzeit, wie Bürger*innenbeteiligung in der KI-Entwicklung aussehen kann. Ins Leben gerufen wurde Civic Coding im Rahmen der KI-Strategie vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV). Im BMAS leitet Helke Knütter das Referat Dialog und Vernetzung in der Abteilung Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft. Sie ist einer der Köpfe hinter Civic Coding. „KI ist etwas, was ursprünglich eher in der Wirtschaft oder in der Forschung verortet wurde.“ Das primäre Ziel von Civic Coding sei es, „nun die Zivilgesellschaft stärker ins Boot zu holen und KI mit ihr und nach ihren Bedürfnissen zu gestalten.“

 „Allerspätestens seit ChatGPT ist in der Zivilgesellschaft angekommen, dass auch sie mit KI etwas anfangen kann – und vielleicht auch muss“, meint Helke Knütter. Um verschiedene Akteur*innen an einen Tisch zu bringen, schuf das Civic Coding-Team unter anderem eine Innovationsplattform, auf der sich Akteursgruppen vernetzen, ihre Ideen zur Nutzung von KI teilen und voneinander profitieren können. Hier treffen etwa Programmierer*innen auf Vereins- und Verbandvertreter*innen oder auf Kommunen, die gemeinsam Probleme der Daseinsfürsorge mit KI lösen möchten. Knütter und ihre Mitstreitenden wollen nun verstärkt auch Wirtschaftsvertreter*innen ermutigen, die bei Civic Coding Engagierten mit Mentoring und weiteren Leistungen zu unterstützen. Denn es sollen Anschlüsse entstehen, kein „Friedhof der schön geförderten Projekte“. So könnten sich Strukturen nach dem Ende von Förderperioden und Programmlaufzeiten verstetigen.

„Die Leute wissen vielleicht gar nicht, dass es den Job Data Scientist gibt.“

Teil des Innovationsnetzes Civic Coding ist auch das Beteiligungsprojekt Civic Data Lab, das seit Juli 2023 von zivilgesellschaftlichen Organisationen umgesetzt wird – der Gesellschaft für Informatik, CorrelAid und dem Deutschen Caritasverband. Das Lab will zivilgesellschaftliche Akteur*innen dabei unterstützen, durch Datenerhebung,  -analyse und  -weitergabe gemeinwohlorientierte Ziele zu erreichen. Hierzu, so Johannes Landstorfer, sei gesellschaftliche Vorarbeit nötig. Damit Menschen auf einer Plattform nach Lösungen suchten, müssten so zunächst Informationen zu bestehenden Möglichkeiten vermittelt werden. „Die Leute wissen vielleicht gar nicht, ob sie Daten brauchen, dass sie interessante Daten haben, oder dass es den Job Data Scientist gibt, dass ihnen so jemand helfen könnte.“ Hier wolle das Projekt Kontakte herstellen, Community Management betreiben.

Mit politischen Hebeln Gemeinwohl voranbringen

Strukturelle Herausforderungen, knappe Mittel und komplexe, ressortübergreifende Aufgaben – welche Maßnahmen könnten helfen, Gemeinwohl stärker in der Digitalpolitik zu verankern und zügiger zu Ergebnissen zu kommen? Theresa Züger glaubt, es bedürfe großer Investitionen und struktureller Verbesserungen auch auf Ebene des föderalen Systems. Zudem schlägt sie vor, kollaborative, auf Dauer gestellte Entscheidungsmechanismen zu etablieren, in die zivilgesellschaftliche Organisationen eingebunden und für ihr Engagement entlohnt werden. „Wenn man sich anschaut, wie viel in privatwirtschaftliche Industrie und wie wenig in Technologie im Gemeinwohlsinne investiert wird – ich glaube, da muss ein wesentlich größeres Zeichen gesetzt werden.“

Helke Knütter ist überzeugt: Ministerien müssen beim Thema Digitalisierung stärker zusammenarbeiten, denn häufig scheiterten Vorhaben noch am Beharren auf Zuständigkeiten. Es brauche nun pragmatisches, ressortübergreifendes Handeln, um Künstliche Intelligenz gemeinwohlorientiert zu nutzen – zum Beispiel in Hinblick auf Teilhabe, Bildung und Nachhaltigkeit. Es gelte, Synergien herzustellen und die Verwaltung zu reformieren. Auch Johannes Landstorfer betont den Querschnittscharakter des Themas, dringt auf stärkere Kooperation. „Das Digitale ist Teil von allen Politikfeldern.“ Führung sieht Jan Philipp Albrecht hierbei als entscheidenden Faktor: „Digitalisierung ist eine grundlegende Veränderung unseres Lebens und Arbeitens, unserer Verwaltung. Und wenn wir das nicht für uns annehmen, dann werden wir da nicht mit einem ordentlichen Gemeinwohl rausgehen.“ Die meisten Verwaltungsverfahren seien sehr alt, vieles müsse reformiert werden. „Aber das kann die Verwaltung nicht selber entscheiden, das muss von oben kommen. Deswegen braucht es Leadership.“