Mehr Gemeinwohl wagen!

Interview

 „Digitalpolitik für alle“ – den November-Lunch-Talk der Heinrich-Böll-Stiftung moderierte Aline Blankertz von Wikimedia. Im Interview erklärt die Ökonomin, warum Gemeinwohl im Digitalen ein wichtiges Thema ist, was gemeinwohlorientierte Digitalpolitik leisten kann und welche Möglichkeiten es gibt, ein gerechteres Internet aus der Taufe zu heben.

Ein Muster mit vielen Farben

Frau Blankertz, was verstehen Sie unter Gemeinwohl im Digitalen?

Aline Blankertz: Für Wikimedia bedeutet Gemeinwohl, Schäden zu vermeiden und positiven Nutzen zu stiften: Eine gemeinwohlorientierte Digitalpolitik adressiert unsere gesellschaftlichen Probleme und kommt dabei allen zugute. Auf viele Fragen müssen dabei Antworten gefunden werden: Wie kann ein Internet aussehen, das allen nützt? Wie gestalten wir Digitalprojekte so, dass sie inklusiv werden, viele darin Gehör finden? Und auf der Schadensvermeidungsseite: Wie gestalten wir das Digitale so, dass es ressourcenschonend ist und negative Auswirkungen – da muss man auch Hardware mitdenken – kompensiert werden? Aber wie gestalten wir es auch so, dass wir das Digitale nutzen, um Nachhaltigkeit in anderen Bereichen zu fördern?

 

Wie ist es aus Ihrer Sicht aktuell um das Gemeinwohl im Digitalen bestellt?

Aline Blankertz: Unter anderem der Umstand, dass verschiedene soziale Netzwerke unterschiedliche Formen von Kommunikationskultur fördern, zeigt, dass digitale Tools nicht neutral sind, dass ihre Auswirkungen davon abhängen, wie wir sie gestalten. Im Moment ist vieles so strukturiert, dass zum Beispiel digitale wirtschaftliche Akteure oder auch einfach Menschen mit viel Kaufkraft mehr davon profitieren, als viele andere Gruppen. Da gibt es auf jeden Fall Möglichkeiten, das Gemeinwohl zu steigern. Insbesondere indem man sicherstellt, dass alle Gruppen gut am Digitalen teilhaben können.

 

Würden Sie sagen, das Digitale bildet gesellschaftliche Machtstrukturen und Probleme einfach nur ab? Oder entstehen hier auch Eigendynamiken?

Aline Blankertz: Ich glaube, an vielen Stellen ist das Digitale gar nicht so viel anders. Das Digitale oder auch soziale Netzwerke haben zum Beispiel die Hassrede nicht erfunden. Aber darüber, wie diese Netzwerke funktionieren, amplifizieren sie bestimmte Formen von Rede mehr als andere. Da wird dann ein bestehendes Thema von gesellschaftlicher Polarisierung tendenziell noch verstärkt. Bei der Wikipedia wird ja vielfach zu Recht kritisch gesehen, dass die überwiegend von weißen Männern bearbeitet wird. Wir steuern da aktiv gegen und versuchen die Hürden für andere Gruppen zu senken. Und dennoch reproduziert sich hier ein gesellschaftliches Problem im Digitalen. Wenn wir das nicht hinterfragen, dann reproduzieren und verstärken wir bestehende gesellschaftliche Herausforderungen.

 

Warum ist es aus Ihrer Sicht wichtig, hier digitalpolitisch aktiv zu werden, steuernd einzugreifen?

Aline Blankertz: Die Welt wird zunehmend digitaler. Wenn wir da nicht auch politisch steuern, dann wird es von anderer Seite gesteuert – von wirtschaftlichen Interessen. Ich glaube, das Politische im Sinne des gesellschaftlich Wünschenswerten sollte über dem Wirtschaftlichen stehen, dafür sorgen, dass sich Wirtschaft in eine Richtung entwickelt, die der Gesellschaft nützt. Wenn wir dem keine Richtung geben, dann sehen wir schräge Auswüchse. Einige Projekte von Elon Musk zum Beispiel rufen in vielen Menschen ein Befremdungsgefühl hervor. Da würden glaube ich wenige sagen: Das ist gesellschaftlich sinnvoll. Aber da konzentriert sich einfach viel Macht bei einer einzigen Person. Wir haben verschiedene solcher Personen und Unternehmen, die sehr, sehr viele Ressourcen haben. Wenn ihnen kein politischer Rahmen gesetzt wird, dann gestalten sie die Digitalisierung so, dass sie für sie besonders profitabel ist.

 

Mit Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft.

Aline Blankertz: Deswegen ist es wichtig, dass wir Digitalpolitik machen. So, wie nicht jeder Mensch im Restaurant erstmal gucken muss, ob die Küche einigermaßen sauber ist, so sollten wir auch im Internet den Anspruch haben, dass vieles von vornherein geregelt ist. Menschen sollten darauf vertrauen können, dass sie in einem sicheren Raum sind, der ihnen Verwirklichungsmöglichkeiten eröffnet. An vielen Stellen haben die digitalen Infrastrukturen heute eine gesellschaftliche Relevanz erreicht, die in eine ähnliche Richtung geht wie die Relevanz von Telefonleitungen und Straßen, also von physischer Infrastruktur. Damit steigt auch die Relevanz gemeinwohlorientierter Digitalpolitik.

 

Was sehen Sie kritisch an der aktuellen Digitalpolitik? Wo bestehen vielleicht auch Zielkonflikte?

Aline Blankertz: Politik gibt sich vielfach damit zufrieden, Wirtschaftsförderung zu betreiben. Man fördert deutsche Arbeitsplätze und deutsche Unternehmen, deutsche Startups und deutsche Innovationen und guckt zu wenig darauf, was dabei herauskommen soll. Die Annahme, dass Dinge, die aus Europa kommen, wertetechnisch besser seien, halte ich für ein bisschen naiv. Zielkonflikte – da geht man natürlich ins ganz Große. Als Beispiel die Mobilitätspolitik: Wir wollen eine Verkehrswende. Was unterstützen wir da von politischer Seite? Wollen wir, dass die Autoindustrie stärker wird und wächst? Oder nutzen wir Daten, um Mobilitätsmuster besser zu verstehen und bekommen so einen Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs hin, damit die Leute das Auto auch mal stehen lassen können? An diesem Beispiel sieht man, dass es einen Unterschied macht, an welcher Stelle wir digitalisieren und was wir politisch fördern. Das auszuhandeln, fällt im Moment nicht leicht.

 

Was können wir tun, um umzusteuern?

Aline Blankertz: Es fällt uns aktuell leichter, in Wirtschaftsförderung zu denken. Ich glaube, an vielen Stellen haben wir verlernt, auf das Gemeinwohl zu schauen, haben schon gar nicht mehr den Anspruch. Ich denke aber, das ist, wie einen Muskel zu trainieren: Wir müssen lernen, Gemeinwohl wieder mitzudenken, dem eine zentralere Rolle geben. Von politischer Seite heißt das, anders zu selektieren und zu priorisieren. Auch in der Ausgestaltung haben wir viele Hebel, Schäden zu vermeiden. Es gibt da offensichtlich noch eine Lernkurve, die die Ministerien durchlaufen müssen. Ich glaube aber, da ist bei vielen Politikschaffenden eigentlich eine gute Bereitschaft vorhanden, gemeinwohlorientiert zu denken und zu handeln. Und gleichzeitig können wir mit Beteiligung ja morgen anfangen. Es gibt viele gute Beispiele, die man einfach nur adaptieren und umsetzen muss.

 

Einladung zum Träumen: Wo könnte Deutschland innerhalb von fünf Jahren stehen, wenn jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen werden?

Aline Blankertz: Wir könnten öffentlich finanzierte Netzwerke haben, die Menschen die Möglichkeit geben, online und offline zusammenzufinden. Wir könnten unter anderem auch mehr strukturelle Förderung in den Journalismus geben, weil wir dann hoffentlich verstehen, wie essenziell es ist, nicht überall generative KI draufzuwerfen, die aus ein paar Agenturmeldungen lange, plausibel wirkende Berichte zaubert. Funktionieren kann das über eine vernünftige Besteuerung von Digitalunternehmen und generell eine gerechtere Besteuerung. Ich glaube, wir können als Gesellschaft auf viele Ressourcen zurückgreifen, um öffentliche, digitale Infrastrukturen zu bauen. Aber dafür brauchen wir Geld an Stellen wo wir im Moment noch sagen: Der Markt wird das schon irgendwie lösen. Obwohl wir selbst nach der Standardvolkswirtschaftslehre wissen, dass er das nicht tun wird, dass wir da gesellschaftliche Rahmenbedingungen setzen müssen. Im Moment schließt der Markt Gemeinwohl nicht aus und das möchte ich auch anerkennen. Aber es ist eher so ein Nebeneffekt. Entweder brauchen wir also andere Mechanismen als einen Markt oder wir müssen uns trauen, Märkte viel mehr zu regulieren, damit Gemeinwohl mehr ins Zentrum rückt.

Das Interview wurde geführt von Nora Lessing.


Bei Wikimedia Deutschland ist die Ökonomin Aline Blankertz Referentin für Politik und den öffentlichen Sektor. Hier setzt sie sich dafür ein, das Gemeinwohl fest in digitalpolitischen Steuerungsprozessen zu verankern. Zuvor leitete sie bei der Stiftung Neue Verantwortung ein Projekt zu Datenökonomie und war als volkswirtschaftliche Beraterin in England tätig.